KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Tagebuch "Krieg und Frieden"

Memoiren ohne Grenzen

Tagebuch "Krieg und Frieden": Memoiren ohne Grenzen
|

Datum:

In einem kollektiven Tagebuch berichten Journalist:innen aus ehemaligen Sowjetstaaten von ihren Erfahrungen aus dem Krieg in der Ukraine. Ihr persönlicher Kampf gilt der Pressefreiheit und dem kritischen Journalismus.

"Natürlich hatte ich Angst. Es geht um Leben und Tod und das sind keine abstrakten Worte", sagt die Journalistin Anastasia Magazova über ihren Aufenthalt in Kriegsgebieten. Auf der Krim geboren und nach dem Referendum dort 2014 geflüchtet, war für sie nach Beginn des russischen Angriffskrieges sofort klar: Sie muss in die Ukraine, um von dort zu berichten. Kurzerhand reiste sie dorthin und so nahm das Projekt eines kollektiven Tagebuchs seinen Anfang. 16 Journalist:innen aus neun Ex-Sowjetstaaten, alle auf unterschiedlichste Art vom Krieg in der Ukraine betroffen, lassen in "Krieg und Frieden" teilhaben an ihren alltäglichen Erlebnissen, Sorgen und Einsichten. Am 6. Dezember wurde der Sammelband im Stuttgarter Theaterhaus vorgestellt.

"Im Krieg gilt: Die Wahrheit stirbt zuerst", öffnete Kontext-Chefredakteurin Susanne Stiefel die Lesung. Sie führte als Moderatorin durch den Abend. Die gesammelten Beiträge beschreibt Herausgeber Tigran Petrosyan als Versuch, "dem schier übermächtigen Propaganda-Apparat und wachsendem Hass" in diesen Ländern etwas entgegenzuhalten. Propaganda, die freie Journalist:innen kleinhalten und mundtot machen will.

Die Auswirkungen hat Autorin Magazova im engsten Familienkreis erleben müssen. Vor 2014 sei ihre Mutter unpolitisch gewesen: "Sie kannte nicht mal die Namen der wichtigsten Politiker." Nach zwei Monaten bei den Protesten auf dem Majdan in Kiew kehrte die Journalistin zu einer äußerst empörten und politisch aufgeladenen Mutter nach Hause: Ihre Tochter war nun eine Faschistin und kämpfte fürs Böse.

Etwa 60 Interessierte kamen ins Theaterhaus. Neben dem kollektiven Tagebuch wurde ihnen das Projekt der taz-Panter-Stiftung – unter dem Motto "Über Grenzen hinweg" – zur Unterstützung unabhängiger Medien in Osteuropa vorgestellt. Dazu zählen solche in der Ukraine, in Belarus und im russischen Exil, wie etwa die Exilmedien Meduza oder Nowaja Gaseta, deren Gründer Dmitrij Muratov im letzten Jahr den Friedensnobelpreis erhielt. Die Redakteur:innen der Nowaja Gaseta – vorher mit Sitz in Moskau – waren nach Kriegsbeginn und Einstellung ihrer Zeitung ins europäische Ausland geflohen. Im Mai erschien erstmals eine gedruckte Ausgabe aus dem neuen Redaktionssitz im lettischen Riga.

Die langjährige Zusammenarbeit der taz-Panter-Stiftung mit osteuropäischen Journalist:innen und das dadurch entstandene Netzwerk erleichterten die Suche nach Autor:innen für das kollektive Tagebuch. Anastasia Magazova ist eine von ihnen und war stellvertretend für die gesamte Autor:innenschaft auf dem Theaterhauspodium.

Zwischen den Gesprächen auf der Bühne sorgten Beiträge aus dem Sammelband, vorgelesen von der Übersetzerin und taz-Reporterin Gaby Coldewey, für exemplarische Einblicke in die Lebensrealität der Autor:innen. "Familie auf Distanz" betitelte der aus Donezk Stammende Roman Huba seinen Tagebucheintrag vom 27. April 2022. Er erzählt, wie sich Verwandtschaftsbeziehungen in Krisen- und Kriegszeiten verkomplizieren, vor allem wenn ein Teil der Familie auf russischem und der andere auf ukrainischem Boden lebt. "Es fing damit an, dass man bei vorsichtigen Anrufen feststellen musste, dass man anscheinend unterschiedliches Fernsehen schaut" und man plötzlich merke, dass die einen von Faschisten, die anderen von einer Revolution auf dem Euromajdan sprachen. Klare Folge von Propaganda, meinten die Podiumsgäste. Das Beispiel zeige auch: "Dieser Krieg hat bereits 2014 begonnen", sagte Coldewey.

"Kreativität durch Widerständigkeit"

Geschrieben wurde von der Front, aus den Kellern, auf der Flucht, aus dem Exil, aus Wohnungen in Moskau und in Minsk. Das Geschriebene handelt von zerbrochenen Freundschaften, Scham, Ängsten, Erinnerungen an die Sowjetzeit und der Frage, wie man Kindern den Krieg erklärt. "Mama, wann kann ich mich zum Schlafengehen endlich wieder ausziehen?", in einem kurzen Film lesen alle Autor:innen einen eigenen Ausschnitt aus dem Tagebuch vor. "Mama, ich will, dass das Böse stirbt."

"Müssen Russen sich schuldig fühlen?", fragt sich die russische Autorin Olga Lizunkova im März 2022. Der Alltag in St. Petersburg erinnert sie an die üblen Gestalten aus Harry Potter: "Die Dementoren sind ihrem märchenhaften Gefängnis entkommen, und es bleibt kein Tropfen Freude übrig." Stattdessen: "Alle hassen uns."

Dieses Menschliche an den Kriegserfahrungen, ob in der Ukraine, in Russland, in Belarus, in Moldau, im Südkaukasus oder im russischen Exil, wird von Staatsmedien in autokratischen Staaten nicht ausgestrahlt, nicht gedruckt. Freie Medien werden aufgrund fehlender Pressefreiheit zensiert und verfolgt. Bereits vorher, doch seit Kriegsbeginn verstärkt. "Es gibt technische Möglichkeiten, vor allem mit YouTube und den sozialen Medien, freie Berichterstattung auch den Menschen in Russland zugänglich zu machen", erklärte Konny Gellenbeck, Vorständin der taz-Panter-Stiftung, am Abend im Theaterhaus. "Viel Kreativität wird durch Widerständigkeit ausgelöst."

Bei der ersten Begegnung zwischen den Tagebuchautor:innen im November in Berlin habe totale Erstarrung im Konferenzraum der taz geherrscht. "Zum ersten Mal sitze ich wieder mit Russen in einem Raum", soll eine ukrainische Schreiberin gesagt haben. Russische Journalist:innen neben ukrainischen, moldawischen, georgischen, kirgisischen, armenischen, belarussischen, estnischen und lettischen. Abends sei man immer gemeinsam essen gegangen, fünf Tage lang, das habe verbunden erzählte Gellenbeck. "Meine polnische Mutter sagt immer: Beim Essen schließt man Freundschaften."

Langer Atem gegen die Müdigkeit

Perspektivisch wolle man vor allem noch mehr Menschen erreichen und weitere Journalist:innen dazugewinnen. Und: Die taz-Panter-Stiftung, Tigran Petrosyan und die Schreiber:innen wollen mit langem Atem den Prozess begleiten, auch dann noch, wenn die Waffen irgendwann hoffentlich schweigen. "Wir werden müde. Die Ukraine ist bereits jetzt nicht mehr die erste, auch nicht mehr die zweite Meldung in den Nachrichten", sagte Gellenbeck.

Das Tagebuch ist in seiner Originalfassung auf Russisch geschrieben. Das habe zwei Gründe, erklärte Petrosyan: Zum einen sollen es russischsprachige Menschen in Russland und in der Diaspora verstehen und zum anderen sollen die Autor:innen gegenseitig ihre Texte lesen können. "Das war keine politische Entscheidung."

Im Russischen gibt es das besondere Wort мир ("mir") mit seinen zwei Bedeutungen Welt und Frieden. Die Kombination scheint aktuell utopisch, doch irgendjemand muss sich irgendwann etwas dabei gedacht haben, die Begriffe zu einem Synonym zu verschmelzen. Projekte, die Journalist:innen aus unterschiedlichsten von Krieg betroffenen Ländern an einem Tisch gemeinsam reden lassen, geben Mut, dass ein Mehr an Dialog, Pressefreiheit und Menschlichkeit möglich ist.


"Krieg und Frieden. Ein Tagebuch", Hrsg. Tigran Petrosyan/taz-Panter-Stiftung erschienen in der edition foto Tapeta, 10 Euro. Erhältlich im Buchhandel und hier.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!