Die Fenster in der Turnhalle stehen offen, trotzdem ist es warm, die Luft schulsportgetreu eher schlecht. Es ist Freitag vor Pfingsten, die Schüler:innen fiebern schon auf die Ferien hin. Sie haben eine Theaterprobe hinter sich und beeilen sich, die Turnbänke so aufzustellen, dass sie Anna Kupriy gegenübersitzen. Dreizehn Jugendliche sind es, ukrainische Geflüchtete zwischen zwölf und achtzehn Jahren, die jetzt die Johann-Friedrich-von-Cotta-Berufsschule in Stuttgart besuchen. Als sie sitzen und zur Ruhe kommen, beginnt die ukrainische Journalistin mit ihrem Vortrag. Das Thema: Meinungs- und Pressefreiheit in ihrem Herkunftsland.
In schnell herabperlenden ukrainischen Worten spricht die Journalistin, die Ende Februar aus ihrer Heimatstadt Odessa nach Gerlingen geflohen ist, von ukrainischen Medien und den Gesetzen, die deren Freiheit schützen sollen. Ich verstehe kein Ukrainisch, deshalb versuche ich, in der englischen Übersetzung des Vortrags mitzulesen, die Anna Kupriy mir vorher geschickt hat. "Pressefreiheit ist eines der Hauptcharakteristika einer modernen demokratischen Gesellschaft", steht dort. Die ukrainische Verfassung verbiete Zensur und Eingriffe in die Arbeit von Journalist:innen. Niemand solle kontrollieren können, was veröffentlicht wird – zumindest in der Theorie. In der Rangliste der Pressefreiheit rangiere die Ukraine aktuell nur auf Platz 106 von 180.
Die meisten Schüler:innen lauschen ruhig, manchmal nicken sie zustimmend, bleiben aber zunächst stumm. Einigen wird es irgendwann ungemütlich auf der Bank, sie wechseln die Position oder zücken doch kurz das Handy, wenn sie sich unbeobachtet fühlen – Schule eben. Kupriy nennt Beispiele ukrainischer Fernsehsender, die die Selenskyj-Regierung erst Anfang Mai ohne juristische Begründung verboten habe. Die 47-Jährige erwähnt die Maidan-Proteste im Jahr 2014, während derer Pressevertreter:innen absichtlich angegriffen worden seien, dann zählt sie einige der seit dem 24. Februar auf ukrainischem Boden getöteten, teils internationalen Journalist:innen auf.
Die Schüler:innen tauen auf
Als es konkreter und aktueller wird, schalten sich mehrere Schüler:innen ein. Erst sind ihre Redebeiträge vorsichtig, dann stellen sie mehr und mehr Fragen und diskutieren sowohl untereinander als auch mit Anna Kupriy. Einige, die bisher unkonzentriert schienen, legen die Handys weg, blicken auf und hören den Mitschüler:innen zu. Kupriy erklärt hinterher, dass es schnell nicht mehr nur um journalistisches Arbeiten, sondern auch um staatliche Propaganda auf russischer und ukrainischer Seite ging, um politische Entscheidungen und um soziale Medien. "Wir haben darüber gesprochen, ob Propaganda in Kriegszeiten auch einem 'guten Zweck' dienen kann", sagt die Journalistin. "Und die Schüler:innen haben überlegt, welche der Blogger:innen und öffentlichen Meinungsmacher:innen in der Ukraine vertrauensvolle Quellen sind."
1 Kommentar verfügbar
Peter Nowak
am 20.06.2022"Geflüchtete Ukrainer:innen hätten nun die Gelegenheit, den Status Quo der ukrainischen Meinungs- und Pressefreiheit mit der Situation in anderen europäischen Demokratien zu vergleichen. Diese Erfahrung könne laut Kupriy nützlich sein:"
Dem kann man zustimmen, wenn die…