Es ist kein Geheimnis, dass der Krieg in der Ukraine nicht jetzt, sondern vor acht Jahren begann. Am 24. Februar hat Russlands Präsident Wladimir Putin lediglich öffentlich eine Invasion erklärt. Aber bereits davor, seit 2014, hat er die Welt viele Jahre lang getäuscht, indem er behauptete, das Russland nicht an den Kampfhandlungen im Osten unseres Landes beteiligt sei. Es hat auch gelogen in Bezug auf die Tatsache, dass der Krieg nichts mit der Annektierung der Krim zu tun hatte. Tatsächlich aber war die Einnahme der Krim der erste Schritt in Richtung dieses Krieges.
Seit Beginn der Besetzung im Jahr 2014 sind viele BewohnerInnen der Krim aus ihrer Heimat geflohen. Seit 2014 haben etwa 45.000 Menschen die Krim in Richtung ukrainisches Festland verlassen. Das ist nur die Statistik. Aber hinter jeder Zahl steckt ein menschliches Schicksal.
Wenn du weggehst, vielleicht für immer, ist es wichtig etwas mitzunehmen, das dich an dein Zuhause erinnert. Menschen, die ihr Zuhause auf der Krim verließen, haben darüber in den sozialen Medien geschrieben: eine Flasche Sand vom Strand; ein paar Muscheln; das Lieblingsbuch; einen Zweig vom Apfelbaum aus dem Garten; ein Stück der Dachschindeln. Omas Stricknadeln. Eine Schachtel mit Knöpfen. Ein altes Telefonbuch. Weihnachtsdeko. Mutters Fotoalbum.
Verlängerungskabel, Werkzeugset und ein Badeanzug
Egal, wie man sich auf eine Abreise vorbereitet, in einem Schockzustand – und der ist unvermeidbar in solch einer Situation – trifft man seltsame Entscheidungen. Meine Freundin hat ein Jagdmesser-Set in ihre Tasche gepackt. Aus irgendeinem Grund habe ich eine Axt in meinen Rucksack geworfen. Bis dahin hatte ich erst ein oder zwei Mal in meinem Leben eine Axt in meiner Hand gehalten, und ich bin nicht sicher, ob ich eine Waffe gegen einen Menschen richten könnte. Aber ich dachte, mit einer Axt unter dem Autositz wären wir alle ruhiger. Meine Schwiegertochter erwies sich als die Umsichtigste von uns allen: In ihrer Tasche befand sich ein Verlängerungskabel, Klebeband, ein Werkzeugset und aus welchem Grund auch immer ein Badeanzug. Sie packte eine Schaufel in den Kofferraum. Wir können selber nicht sagen, warum.
Wir nahmen sehr wenig Kleidung mit, weil wir dachten, dass wir eine Woche später nach Hause zurückkehren würden. Maximal zwei Kleidungsstücke. Laptops, weil wir nicht vorhatten, die nächste Zeit ohne Arbeit herumzusitzen. Ein paar Decken, ein Kissen und Matratzen, da wir nicht wussten, wo wir die Nächte verbringen würden. Ladekabel für alle Geräte. Dokumente, natürlich. Wir hatten Glück. Wir hatten Zeit, unsere Sachen mit Bedacht zusammenzusuchen. Aber das Porträt meiner Eltern blieb zurück in meinem Zuhause, auf dem Tisch in meinem Schlafzimmer. Wie auch ein Fotoalbum mit Bildern aus meiner Kindheit. Eine Wandtafel mit Magneten, die ich von verschiedenen Reisen mitgebracht hatte. Ein geöffnetes Buch auf dem Nachttisch. Eine Orchidee auf dem Fenstersims, die eine Woche vor Kriegsbeginn zum ersten Mal geblüht hatte. Lieblingsdinge, die mein Zuhause warm und hell machten.
Unter den Dingen, die ich mitnahm, ist eine Sache, die auf den ersten Blick völlig nutzlos erscheint: ein lustiges Kinderspielzeug, eine Giraffe mit Turnschuhen an den Füßen. Früher einmal, als meine Eltern noch lebten und mein Sohn noch sehr klein war, hatte er diese Giraffe als Geburtstagsgeschenk für meinen Vater ausgesucht. Und ihr sogar einen Namen gegeben: Abelmax. Wenn man auf Abelmax' Bauch drückt, fängt er vergnügt zu lachen an. Das Lachen ist so ansteckend, dass es zum Lieblingsspaß der Erwachsenen und der Kinder in unserer Familie wurde, die Giraffe zu drücken und mitzulachen. Es war absolut unmöglich zu widerstehen.
Das Lieblingsparfüm erinnert an ein früheres Leben
Die Giraffe lebte sehr lange in der Wohnung meiner Eltern. Als mein Vater starb, liebte meine Mutter es, das Spielzeug in die Hand zu nehmen und die Giraffe zu streicheln, ohne auf ihren Bauch zu drücken. Dann starb auch meine Mutter. Als ich in der Wohnung meiner Eltern Dinge aussortierte, wurde mir klar, dass nun mein eigenes Haus das neue Zuhause der Giraffe werden würde. Und als ich im Februar 2022 mein Zuhause verließ, konnte ich den albernen Abelmax in seinen Turnschuhen nicht allein dort zurücklassen. Und auch wenn eine 47-jährige Frau, die mit einer Spielzeuggiraffe reist, doch zumindest sonderbar erscheint, ist es mir nicht peinlich, darüber zu sprechen. Während ich jetzt schreibe, schaut mir Abelmax von einem Regal in meinem Zimmer unterm Dach in Gerlingen zu. Ich glaube, er wartet darauf, dass wir wieder gemeinsam zuhause sind.
Und als ich kurz davor war, das Haus zu verlassen, warf ich im letzten Moment mein Lieblingsparfüm in die Tasche. Jetzt, einen Monat später, erinnert es mich an mich selbst in einem vergangenen Leben. An ein Leben, das vor dem Krieg war und von dem ich nicht weiß, ob es wieder sein wird. Dort gab es luftige Kleider und meinen Lieblingsmantel in Altrosa für den Frühling, Schuhe und Tücher – all das, was eine Frau wahrhaftig macht. Von Zeit zu Zeit ähnle ich auch hier in Deutschland wieder diesem sehr femininen "Ich".
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LEO
am 15.04.2022