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Flucht aus der Ukraine

Abelmax muss mit

Flucht aus der Ukraine: Abelmax muss mit
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Was bleibt zurück, wenn Menschen vor dem Krieg fliehen müssen? Was nehmen sie mit? Und gibt es auch Hoffnung in Zeiten des größten Leids? Die Ukrainerin Anna Kupriy ist aus ihrer Heimatstadt Odessa geflohen und lebt nun in Gerlingen. Auf ihrem Schreibtisch: eine Giraffe mit Turnschuhen.

Es ist kein Geheimnis, dass der Krieg in der Ukraine nicht jetzt, sondern vor acht Jahren begann. Am 24. Februar hat Russlands Präsident Wladimir Putin lediglich öffentlich eine Invasion erklärt. Aber bereits davor, seit 2014, hat er die Welt viele Jahre lang getäuscht, indem er behauptete, das Russland nicht an den Kampfhandlungen im Osten unseres Landes beteiligt sei. Es hat auch gelogen in Bezug auf die Tatsache, dass der Krieg nichts mit der Annektierung der Krim zu tun hatte. Tatsächlich aber war die Einnahme der Krim der erste Schritt in Richtung dieses Krieges.

Seit Beginn der Besetzung im Jahr 2014 sind viele BewohnerInnen der Krim aus ihrer Heimat geflohen. Seit 2014 haben etwa 45.000 Menschen die Krim in Richtung ukrainisches Festland verlassen. Das ist nur die Statistik. Aber hinter jeder Zahl steckt ein menschliches Schicksal.

Wenn du weggehst, vielleicht für immer, ist es wichtig etwas mitzunehmen, das dich an dein Zuhause erinnert. Menschen, die ihr Zuhause auf der Krim verließen, haben darüber in den sozialen Medien geschrieben: eine Flasche Sand vom Strand; ein paar Muscheln; das Lieblingsbuch; einen Zweig vom Apfelbaum aus dem Garten; ein Stück der Dachschindeln. Omas Stricknadeln. Eine Schachtel mit Knöpfen. Ein altes Telefonbuch. Weihnachtsdeko. Mutters Fotoalbum.

Verlängerungskabel, Werkzeugset und ein Badeanzug

Egal, wie man sich auf eine Abreise vorbereitet, in einem Schockzustand – und der ist unvermeidbar in solch einer Situation – trifft man seltsame Entscheidungen. Meine Freundin hat ein Jagdmesser-Set in ihre Tasche gepackt. Aus irgendeinem Grund habe ich eine Axt in meinen Rucksack geworfen. Bis dahin hatte ich erst ein oder zwei Mal in meinem Leben eine Axt in meiner Hand gehalten, und ich bin nicht sicher, ob ich eine Waffe gegen einen Menschen richten könnte. Aber ich dachte, mit einer Axt unter dem Autositz wären wir alle ruhiger. Meine Schwiegertochter erwies sich als die Umsichtigste von uns allen: In ihrer Tasche befand sich ein Verlängerungskabel, Klebeband, ein Werkzeugset und aus welchem Grund auch immer ein Badeanzug. Sie packte eine Schaufel in den Kofferraum. Wir können selber nicht sagen, warum.

Wir nahmen sehr wenig Kleidung mit, weil wir dachten, dass wir eine Woche später nach Hause zurückkehren würden. Maximal zwei Kleidungsstücke. Laptops, weil wir nicht vorhatten, die nächste Zeit ohne Arbeit herumzusitzen. Ein paar Decken, ein Kissen und Matratzen, da wir nicht wussten, wo wir die Nächte verbringen würden. Ladekabel für alle Geräte. Dokumente, natürlich. Wir hatten Glück. Wir hatten Zeit, unsere Sachen mit Bedacht zusammenzusuchen. Aber das Porträt meiner Eltern blieb zurück in meinem Zuhause, auf dem Tisch in meinem Schlafzimmer. Wie auch ein Fotoalbum mit Bildern aus meiner Kindheit. Eine Wandtafel mit Magneten, die ich von verschiedenen Reisen mitgebracht hatte. Ein geöffnetes Buch auf dem Nachttisch. Eine Orchidee auf dem Fenstersims, die eine Woche vor Kriegsbeginn zum ersten Mal geblüht hatte. Lieblingsdinge, die mein Zuhause warm und hell machten.

Unter den Dingen, die ich mitnahm, ist eine Sache, die auf den ersten Blick völlig nutzlos erscheint: ein lustiges Kinderspielzeug, eine Giraffe mit Turnschuhen an den Füßen. Früher einmal, als meine Eltern noch lebten und mein Sohn noch sehr klein war, hatte er diese Giraffe als Geburtstagsgeschenk für meinen Vater ausgesucht. Und ihr sogar einen Namen gegeben: Abelmax. Wenn man auf Abelmax' Bauch drückt, fängt er vergnügt zu lachen an. Das Lachen ist so ansteckend, dass es zum Lieblingsspaß der Erwachsenen und der Kinder in unserer Familie wurde, die Giraffe zu drücken und mitzulachen. Es war absolut unmöglich zu widerstehen.

Das Lieblingsparfüm erinnert an ein früheres Leben

Die Giraffe lebte sehr lange in der Wohnung meiner Eltern. Als mein Vater starb, liebte meine Mutter es, das Spielzeug in die Hand zu nehmen und die Giraffe zu streicheln, ohne auf ihren Bauch zu drücken. Dann starb auch meine Mutter. Als ich in der Wohnung meiner Eltern Dinge aussortierte, wurde mir klar, dass nun mein eigenes Haus das neue Zuhause der Giraffe werden würde. Und als ich im Februar 2022 mein Zuhause verließ, konnte ich den albernen Abelmax in seinen Turnschuhen nicht allein dort zurücklassen. Und auch wenn eine 47-jährige Frau, die mit einer Spielzeuggiraffe reist, doch zumindest sonderbar erscheint, ist es mir nicht peinlich, darüber zu sprechen. Während ich jetzt schreibe, schaut mir Abelmax von einem Regal in meinem Zimmer unterm Dach in Gerlingen zu. Ich glaube, er wartet darauf, dass wir wieder gemeinsam zuhause sind.

Und als ich kurz davor war, das Haus zu verlassen, warf ich im letzten Moment mein Lieblingsparfüm in die Tasche. Jetzt, einen Monat später, erinnert es mich an mich selbst in einem vergangenen Leben. An ein Leben, das vor dem Krieg war und von dem ich nicht weiß, ob es wieder sein wird. Dort gab es luftige Kleider und meinen Lieblingsmantel in Altrosa für den Frühling, Schuhe und Tücher – all das, was eine Frau wahrhaftig macht. Von Zeit zu Zeit ähnle ich auch hier in Deutschland wieder diesem sehr femininen "Ich".

Der Tafelladen in Stuttgart. Eine lange Schlange am Eingang prägt das Bild an der Hauptstätter Straße in Stuttgart. Diejenigen, die in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen sind, wird die Atmosphäre an ihre Kindheit erinnern: Genau so sah es in sowjetischen Gemüsegeschäften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Hier scheint es sogar auf eine bestimmte Art zu riechen: nach Armut und Sorgen. Die Menschen kommen gezwungenermaßen hierher, weil die bescheidenen Geldreserven (wenn es überhaupt welche gibt) ausgehen, weil es noch keine Arbeit gibt, weil die Sozialhilfe nicht sofort bezahlt wird und weil Familien versorgt werden müssen. Bei der Tafel bekommen MigrantInnen und Geflüchtete gegen Vorlage spezieller Marken und für ein paar symbolische Euros Joghurt, Äpfel, Käse Brot und vieles mehr. Aber ihr werdet nie erraten, welches Produkt dort am beliebtesten ist.

Jede Frau, die über die Ladenschwelle tritt und einen Einkaufskorb aus Plastik bekommt, eilt dorthin, wo Blumen in einem kleinen Eimer stehen. Tulpen- und Rosensträuße werden sofort zerpflückt. Ich bedaure es, keine Fotografin zu sein, kein Foto machen zu können. Weil wir uns in diesem Moment alle – Musliminnen und Ukrainerinnen, unterschiedlich alt, mit unterschiedlichen Haarfarben, unterschiedliche Sprachen sprechend – sehr ähnlich werden. Die Augen jeder Frau, die einen Strauß in ihren Händen hält, fangen an zu leuchten. Es gibt einen Ausdruck, der gut passt: "Das Licht der Hoffnung". Ich denke, so sieht es aus. Es ist das Leuchten in den Augen einer Frau, die inmitten all dieser unerträglichen und grausamen Dunkelheit vorsichtig einen kleinen Strauß frischer Blumen an sich drückt.


Übersetzt aus dem Englischen von Anette Mohamud.


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1 Kommentar verfügbar

  • LEO
    am 15.04.2022
    Antworten
    Sehr schön geschrieben. Mögen Sie noch viele Blumensträuße im Leben geschenkt bekommen.
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