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Flucht aus der Ukraine

"Keiner will uns haben"

Flucht aus der Ukraine: "Keiner will uns haben"
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Egal wo sie aufschlagen, Angehörige der Roma-Minderheit werden überall auf der Welt schikaniert, diskriminiert und verfolgt. Sogar wenn sie vor dem Krieg in der Ukraine fliehen.

Mitarbeiter der DB Sicherheit am Mannheimer Hauptbahnhof sagten vor Kurzem gegenüber einer Roma-Familie, die aus der Ukraine geflüchtet war: "Solche Leute kommen hier nicht rein." Der Familie wurde der Zugang zu einer extra für Geflüchtete eingerichteten Halle am Bahnhof verwehrt, der Fall wurde in mehreren Medien aufgegriffen. In der Ukraine scheint aber erst einmal zu gelten: Solche Leute kommen hier nicht raus. Das hat verschiedene Gründe. Der Hauptgrund heißt Rassismus. Der zweite Grund heißt Klassengesellschaft.

In der Ukraine leben Schätzungen zufolge etwa 400.000 Angehörige der Roma-Minderheit. Angesichts des brutalen Angriffskriegs gegen die Ukraine befinden sich Millionen Menschen auf der Flucht, darunter auch zahlreiche Roma. Bislang, sagt Tomas Wald vom Freiburger Roma Büro, seien im Wesentlichen die Flexibleren, Reicheren, diejenigen mit Westkontakten aus dem Land geflohen. Das aber sind keine Attribute, die auf die meisten ukrainischen Roma zutreffen. Sie leben zu einem Großteil in ländlichen Regionen. "Das große Problem ist für sie, dass die meisten nicht wegwollen, weil die Männer nicht mitkönnen und sie sich dadurch nicht sicher fühlen", erklärt Wald.

Antiziganismus in der Ukraine

Romnja und Roma sind in Deutschland, wie auch in der Ukraine, ständig mit rassistischen Ressentiments konfrontiert. Dass sie den Schutz der eigenen Familie suchen, ist insbesondere in der Ukraine nur allzu verständlich. Ein Blick auf die Berichte der Website des Roma Antidiscrimination Network (RAN) verdeutlicht das. Mit einer ganzen Serie von Überfällen rechtsextremer Gruppen gegen Roma in unterschiedlichen Regionen der Ukraine war das Jahr 2018 ein Höhepunkt der Gewalt gegen die Minderheit. "Es scheint, als ob Morde und Gewalttaten gegen Roma in der Ukraine und in Europa zur Normalität werden sollen. Die Politik und die staatlichen Institutionen müssen endlich ihre Verantwortung für Roma wahrnehmen und den Schutz der Menschen sicherstellen", sagte Romani Rose vom deutschen Zentralrat der Sinti und Roma am 26. Juni 2018. Drei Tage zuvor war in der Nähe des westukrainischen Lviv, der Partnerstadt Freiburgs, ein 24-jähriger Rom ermordet worden, weitere Personen, darunter ein Kind, wurden verletzt. Vermummte hatten ein von Romnja und Roma bewohntes Camp nahe der Stadt mit Baseballschlägern und Messern angegriffen.

Ausgabe 522, 31.3.2021

In ihrer Sprache gibt es kein Wort für Krieg

Von Dietrich Heißenbüttel

Zum fünfzigsten Mal findet am 8. April der Welttag der Sinti und Roma statt. Lange hat es gebraucht, bis sie sich gewehrt und Anerkennung gefunden haben. Nach dem NS-Völkermord waren sie traumatisiert. Mit Ausgrenzung haben sie noch heute zu tun.

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Im April 2018 hatte die rechtsextreme Gruppierung C14 bereits ein Roma-Camp in Kiew angegriffen und die BewohnerInnen vertrieben. Sie waren Berichten zufolge aus Transkarpatien an der Grenze zu Ungarn, wo ein Großteil der ukrainischen Roma lebt, nach Kiew gekommen um dort nach Arbeit zu suchen. Die rechtsextreme Gruppierung selbst erklärte, sie sei durch die städtischen Behörden unterstützt worden. Serhij Mazur, ein C14-Aktivist, hatte auf seiner Facebook-Seite damit geprahlt, Roma-Familien aus deren Camp vertrieben zu haben. Zuvor sei den Roma – er benutzte einen rassistischeren Ausdruck – von C14, der "Gemeindegarde" und der "Bezirksverwaltung" "ein Ultimatum gesetzt" worden, das Gebiet zu verlassen. C14, so berichtet Kenan Emini vom Roma Antidiscrimination Network, warb zu der Zeit in der Ukraine mit Flyern und Aufklebern damit, zur Hilfe zu kommen, falls Roma in der Nähe seien, und dafür zu sorgen, dass sie verschwinden.

Anfang Juni 2018 war das Roma-Camp in Kiew erneut angegriffen worden, diesmal von Mitgliedern des Azov Bataillon, das mittlerweile in die ukrainische Nationalgarde integriert ist. Sie schwangen Äxte und Vorschlaghämmer und übertrugen den Angriff live auf Facebook. 2018 fanden noch weitere rechte Übergriffe statt, darunter einer auf den Rechtsanwalt Andriy Mukha. Er soll misshandelt und mit dem Tod bedroht worden sein, falls er weiter Roma vertrete, die Opfer einer Attacke im Jahr 2017 geworden waren. In Wilschany waren damals fünf Roma verwundet, ein 49-jähriger Mann war erschossen worden. Über den Angriff auf den Anwalt hatte die Kharkiv Human Rights Protection Group berichtet, die aktuell zahlreiche russische Kriegsverbrechen dokumentiert, also nicht im Verdacht steht, anti-ukrainische Propaganda zu verbreiten.

Der Rassismus gegenüber Roma gehört keinesfalls der Vergangenheit an. Das Roma Antidiscrimination Network hat am 24. März dieses Jahres Fotos veröffentlicht, die an Pfosten gefesselte Roma zeigen. Ihnen wurde zum Vorwurf gemacht, sie hätten geplündert. Kremlnahe Telegram-Kanäle verbreiten diese Fotos als Propagandamaterial für den Vorwand der Entnazifizierung als Kriegsgrund, in der Ukraine werden sie von Rechtsextremen verbreitet.

Roma werden nicht mitgenommen

Auch die Flucht aus der Ukraine ist für Romnja und Roma beschwerlicher als für andere Bevölkerungsgruppen. Kenan Emini berichtet von einer Frau, die dreimal erfolglos versucht habe, aus der Ukraine zu fliehen. Man habe ihr unterstellt, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und nicht aufgrund des Krieges ausreisen zu wollen. Da ist es, das Attribut Wirtschaftsflüchtling, das Roma angeheftet wird, selbst wenn die schockierenden Bilder vom Krieg um die Welt gehen. Erst als sich das European Roma Rights Centre mit Sitz in Budapest für die Betroffene einsetzte, gelang der Frau gemeinsam mit ihren Kindern die Flucht. In Lviv fahren, erzählt Kenan Emini, sogenannte Solidaritätsbusse ab, die zwischen der Ukraine und Polen hin und her pendeln. Romnja und Roma würden dort aber oft nicht mitgenommen, die Busse führen teilweise lieber halb leer. In einem anderen Fall soll ein Bus mit Roma an Bord an der Grenze wieder umgekehrt sein und die Schutzsuchenden einfach wieder auf ukrainischen Boden abgesetzt haben. "Keiner will uns haben; keiner nimmt uns mit", posteten Roma in Lviv in sozialen Netzwerken.

Etwa 20 Prozent der ukrainischen Roma sollen laut Schätzungen keine Pässe besitzen, ein Umstand, der die Flucht noch einmal komplizierter macht. Wohl auch deshalb ist die Mehrzahl der Roma bisher ins Nicht-EU-Land Moldawien geflohen, weil dort der Grenzübertritt ohne Pass leichter ist. Der Zugang zu Flüchtlingslagern in den umliegenden Ländern, die auch eine minimale Versorgung bieten würden, bleibt ihnen ohne Identitätspapiere oft verwehrt. In privaten Wohnungen finden sie keine Aufnahme, auch weil es sich meist um viele Familienangehörige handelt, die untergebracht werden müssen. Viele Familien wollen sich nicht noch weiter aufteilen, nachdem sie die Männer zurücklassen mussten, weil Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine nicht verlassen dürfen.

Antiziganismus in Deutschland

Der Rassismus begleitet geflüchtete Roma bis nach Deutschland. Der Gruppe am Mannheimer Hauptbahnhof wurde der Zugang zu den extra für Geflüchtete aus der Ukraine eingerichteten Räumen angeblich deshalb verwehrt, weil dort keine Männer zugelassen seien. Zur gleichen Zeit sollen sich einer Augenzeugin zufolge jedoch mehrere "weiße" ukrainische Männer in dem Raum befunden haben. Chana Dischereit vom Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, berichtet, die DB-Sicherheitsangestellten hätten sich darauf bezogen, dass eine Woche zuvor Essensvorräten geklaut worden sein sollen von "genau diesem Klientel". Die Bahnhofshelferin Natice Orhan-Daibel erklärt in der "Frankfurter Rundschau": "Was mir viel Angst bereitet, ist der Satz eines Helfers: 'Diese Familie hat den Vorfall nicht als besonders schlimm empfunden ... Leider sind sie Schlimmeres gewöhnt.'"

Ausgabe 502, 11.11.2020

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Roma sind fast immer die Verlierer: oft heimatlos, verfolgt, angegriffen, abgeschoben. Dort, wo sie schließlich landen, leben sie in für uns kaum vorstellbarer Armut. Roma-Verbände fordern nun, Abschiebungen zumindest während Corona auszusetzen.

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Mutmaßlichen Antiziganismus erlebte auch eine Gruppe von 34 romanessprachigen ukrainischen Geflüchteten im ICE in Kassel. Ausgerechnet am internationalen Romatag, am 8. April, tönte es, nachdem sie mit ihrem Fluchtgepäck eingestiegen waren: "Aus gegebenem Anlass möchten wir Sie darum bitten, Ihre Wertsachen bei sich am Körper zu tragen." Die Gruppe wurde gezwungen, auszusteigen. Ein Beamter der in den Zug gerufenen Polizei soll mehrfach gesagt haben, dass sie jetzt "hier durchgehen und aussortieren" würden. Die Pressestelle der Bundespolizei bestreitet das und spricht dagegen von "aggressivem Betteln". "Ich bin schockiert von diesem Zeugenbericht und dem mutmaßlichen Vorgehen der Polizeibeamten und Mitarbeitern der DB", sagt Romeo Franz, Generalsekretär der Bundesvereinigung der Sinti und Roma. "Dass die Zahl antiziganistischer Vorfälle in Deutschland steigt, ist leider zu erwarten. Die Fälle, in denen ukrainischen Roma unterstellt wird, keine 'echten' Kriegsflüchtlinge zu sein, häufen sich. Ihnen wird unterstellt, sich Leistungen erschleichen zu wollen – ein uraltes, zutiefst rassistisches Ressentiment."

Wie geht's weiter, wie kann man Roma unterstützen?

Auch Kenan Emini vom Roma Antidiskrimination Network blickt düster in die Zukunft. Er, der selber aus dem Kosovo geflohen ist, befürchtet, dass sich für viele Roma die Geschichte wiederholen könnte. Im Kosovo wurden sie im Anschluss an das Nato-Bombardement häufig von Kosovoalbanern vertrieben und standen dann nach der Flucht vor dem Nichts, denn ohne Papiere konnten sie nicht nachweisen, dass zum Beispiel ein Haus ihnen gehörte. Sie verloren ihr gesamtes Eigentum und leben nun meist in der Diaspora. So könnte es auch den zahlreichen papierlosen Romnja und Roma aus der Ukraine gehen. Einem Land, in dem das Vernichtungsprogramm der Deutschen während der Besetzung in der NS-Zeit neben 200.000 ukrainischen Jüdinnen und Juden auch zehntausende ukrainische Roma das Leben gekostet hatte.

Eine, die den Völkermord überlebt hat, ist die Poetin und Roma-Aktivistin Raisa Nabaranchu. Sie wurde 1943 im besetzten Kiew geboren. Ihre Großmutter starb in Babi Jar. Dort ermordete die Wehrmacht am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden, aber auch zahlreiche Romnja und Roma. Raisa Nabaranchu musste nun vor den russischen Bomben fliehen. Sie wird gemeinsam mit ihren beiden Schwestern vom Freiburger Roma Büro betreut, ebenso wie einige größere Romafamilien. Die meisten sprechen nur russisch und kennen die kyrillische Schrift, sodass sie hier vor großen Herausforderungen stehen. Die Unterkunftssuche für große Familien gestaltet sich äußerst schwierig. Zudem erhalten Geflüchtete, die nicht in Flüchtlingsunterkünften untergebracht sind, erst nach viel Bürokratie ein kleines Taschengeld. Das Freiburger Roma Büro ruft deshalb zu Spenden auf und bittet um Unterstützung bei Behörden- und Krankenhausgängen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Nowak
    am 19.04.2022
    Antworten
    Sehr gut, dass Fabian Kienert auch die Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine anspricht. Faschisten werden nicht dadurch besser, dass sie auf der angeblich richtigen Seite kämpfen und die Asow-Armee kann nun mal als ukrainische Wehrsportgruppe bezeichnen werden, wie
    (https://www.dw.com/de/asow…
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