Über zu wenig Presseecho konnten sich die Veranstalter nicht beklagen. Mehr als 500 Zeitungen weltweit, darunter die britische "Times" und die "Daily Mail", berichteten über den Internationalen Vagabundenkongress, der vom 21. bis 23. Mai 1929 im Freidenker-Garten auf dem Stuttgarter Killesberg stattfand. Wenn auch oft ziemlich feindselig: "Zu 90 Prozent bolschewistisch verseucht" seien die Teilnehmer, schrieb der "Schwäbische Merkur", "glücklicherweise wurde der Pferch außerhalb der Stadt in einem Freidenkerjugendheim aufgeschlagen." In der Berliner BZ war am 22. Mai 1929 zu lesen: "Diese vornehme, gepflegte Stadt war nicht besonders entzückt von der Idee, dass tausende von gerissenen Speckjägern, diese mit Bindfäden zusammengeknitterte Lumpenbündel, Stuttgarts saubere Straßen tapezieren und die zahlungskräftigen Fremden verscheuchen." Es waren allerdings nicht Tausende, sondern nur 600 Teilnehmer, die sich auf dem Killesberg trafen. Behörden und Polizei hatten den Kongress zu verhindern versucht, Straßensperren errichtet und im Vorfeld offenbar solche Schreckensszenarien an die Wand gemalt, dass in ganz Stuttgart die Vorhängeschlösser ausverkauft waren.
Mitinitiator des Kongresses war der Gärtner und Schriftsteller Gregor Gog, damals von der Presse auch "König der Vagabunden" genannt. Bereits zwei Jahre zuvor, 1927, hatte er die "Bruderschaft der Vagabunden" ins Leben gerufen und war Herausgeber der von Gustav Brügel gegründeten Zeitschrift "Der Kunde" geworden, der ersten Straßenzeitung Europas. "Kunde" war eine Eigenbezeichnung für umherziehende Handwerksburschen, Landstreicher und Bettler, und von diesen gab es damals viele: Mitte der Zwanziger Jahre tippelten rund 70 000 Vagabunden durch Deutschland, 1933 waren es schon eine halbe Million. In loser Folge erschien "Der Kunde" etwa viermal im Jahr, er enthielt Tipps für das Leben auf der Straße, politische Essays, Gedichte und Zeichnungen von umherziehenden Künstlern. Die Zeitschrift, die auch in Wärmehallen und Kneipen auslag, sollte den Vagabunden ein Gefühl der Gemeinschaft und Selbstbewusstsein geben. Sie sollte, so Gog, "den lauen feigen Kunden ohne Rückgrat zum Denken anregen, ihn aus der bürgerlichen Sphäre, in der er noch so tief steckt, herauszureißen, ihn zum Revolutionär, zum Kämpfer zu erziehen, ihm zu helfen –, in sich den Bürger zu überwinden."
Diese anarchistischen Ideale finden sich auch in Gogs Eröffnungsrede auf dem Vagabundenkongress am 21. Mai 1929 wieder: "Der Anruf richtet sich an die brüderliche Menschheit, wo immer sie ist und wie immer sie lebe! (…) Die Aufgabe des Kunden ist nicht die spießbürgerliche Arbeit, diese Arbeit wäre Mithilfe zur weiteren Versklavung, wäre Arbeit an der bürgerlichen Hölle! Der Kunde, revolutionärer als ein Kämpfer, hat die volle Entscheidung getroffen: Generalstreik das Leben lang! Lebenslänglich Generalstreik! Nur durch einen solchen Generalstreik ist es möglich, die kapitalistische, christlich kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen!" Der Kongress ist der Höhepunkt der Vagabundenbewegung, Schriftsteller wie Knut Hamsun und Sinclair Lewis schicken Grußadressen. Vier Jahre später zerschlagen die Nazis die Bewegung.
Nur zu Jahrestagen wird an den Kongress erinnert
Mochte der Kongress damals die Öffentlichkeit aufgewühlt haben, "in der Stadtgeschichte, im Bewusstsein der Stadtvermarkter, ist er heute so gut wie vergessen oder verdrängt – wie all die anderen großen Ereignisse der zwanziger Jahre", schrieb Joe Bauer im Juni 2014 in seiner Kolumne für die "Stuttgarter Nachrichten". Das hat sich bis heute wenig geändert – und gilt genauso für die organisierte Bewegung der Vagabunden, an der Gog entscheidenden Anteil hatte. Nur zu besonderen Jahrestagen blitzt das Thema immer wieder auf: 2004, zum 75. Jubiläum des Kongresses, gab die Stuttgarter Stiftung Geißstraße 7 ein Gregor-Gog-Gedenkblatt heraus (hier als PDF), im Juni 2014 richtete das Theater Rampe als Reminiszenz einen neuen Vagabundenkongress aus (Kontext berichtete). Und nun, einige Monate nach dem 90. Jahrestag, ist beim Avant-Verlag ein Comic über Gregor Gog erschienen, von der Comiczeichnerin und Illustratorin Bea Davies und dem Autoren Patrick Spät, beide aus Berlin. Noch vor der Veröffentlichung gelangte er unter die Finalisten des Berthold-Leibinger-Comicbuchpreises, der im April im Stuttgarter Literaturhaus vergeben wurde.
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