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Die Ersatz-Oma im Heim

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Philippinas sorgen mit dafür, dass in deutschen Altenheimen kein Pflegenotstand herrscht – ein kleiner Ausschnitt aus einer langen Geschichte der Arbeitsmigration. In ihrem neu erschienenen Comic "Ferngespräch" behandelt die in Böblingen geborene Comiczeichnerin Sheree Domingo dieses Thema anhand der Geschichte eines kleinen Mädchens.

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Ist "Ferngespräch" ein Comic über den Sommer, die Ferien? Zumindest ganz am Anfang scheint es fast so. Ein kleines Mädchen sieht mit Mutter und Tante die Wettervorhersage im Fernsehen, das Wort "Rekordsommer" fällt. Auf der nächsten Seite planscht sie mit einem Schwimmring im Wasser, und die leichten Aquarellbilder mit dem vielen grellen Gelb, den transparenten und verschwimmenden Farben vermitteln einen Eindruck flirrender Hitze und sommerlichen Müßiggangs. Doch irgendwann sieht das Mädchen eine schemenhafte Figur am Strand und schwimmt zu ihr. Es ist ihre Oma. Aber als es ankommt, liegt die Oma in einem Krankenbett, mit Nasensonde, und fängt zum Schrecken des Mädchens an sich aufzulösen, zu zerlaufen. Das Klingeln eines Telefons drängt sich in die Bilder, der Strand mit den Palmen, der am Fuße eines kegelförmigen Bergs liegt, rückt immer weiter in die Ferne. Bis man schließlich sieht, dass der Berg das Motiv auf einem Fächer ist, versehen mit dem Schriftzug "The Philippines".

"Den Fächer gab es wirklich bei uns zuhause", sagt Sheree Domingo, das Motiv ist der Mount Mayon im Südwesten der philippinischen Hauptinsel Luzon. Domingo, die Autorin und Zeichnerin von "Ferngespräch", ist geborene Böblingerin, 1989 kam sie in der schwäbischen Kleinstadt zur Welt und lebte dort bis zum Abitur. Ihre Mutter aber stammt von den Philippinen, kam 1982 aus dem südostasiatischen Inselstaat nach Deutschland, heiratete einen Deutschen, Sherees Vater. Die Mutter ging dabei einen Weg, den seit Jahrhunderten viele philippinische Frauen und Männer gehen: Im Ausland Arbeit suchen, denn in der Heimat gibt es zu wenig. JedeR Zehnte dort Geborene arbeitet im Ausland, die Geldüberweisungen an die Familien machen zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Philippinen aus – "die Philippinen sind ein Land der Auswanderer", sagt Domingo. Das reißt Familien auseinander, zerstört Beziehungen, verhindert, dass sich die Menschen in Deutschland von sterbenden Verwandten verabschieden können.

Lieber Freibad als Altenheim

Der Telefonanruf, der das Mädchen zu Beginn des Comics aus dem Schlaf klingelt, ist ein Ferngespräch von den Philippinen: Die Großmutter ist schwer krank. Doch die Mutter des Mädchens kann nicht hin, sie muss arbeiten in einem deutschen Altenheim. Dorthin nimmt sie ihre Tochter mit, weil in den Sommerferien sonst niemand auf sie aufpassen kann – zu deren Verdruss, denn die Kleine will lieber ins Freibad. "Hier stinkt’s!", beschwert sich das Mädchen, langweilt sich zwischen den oft schlafenden oder vor sich hindämmernden Heimbewohnern.

Bis sie Frau Hermann kennenlernt. Deren Mann ist gestorben, kurz nachdem sie ihre Tochter recht unsensibel ins Heim verfrachtet hat, und nun ringt sie, die neue Umgebung und den Tod ihres geliebten Mannes nur schwer akzeptierend, um einen Rest Würde. Die Abneigung gegen den Ort verbindet das kleine Mädchen und die Seniorin. Die beiden freunden sich an, Frau Hermann wird fast ein bisschen zur Ersatz-Oma – seine echte auf den Philippinen kennt das Mädchen kaum.

In "Ferngespräch" greift Sheree Domingo vieles aus ihrer eigenen Lebens- und Familiengeschichte auf, auch wenn es kein bis ins Detail autobiografischer Comic ist. Zwar arbeitete ihre Mutter auch in einem Alten- und Pflegeheim, aber "der Charakter der alten Dame beruht auf dem Charakter meiner verstorbenen Stiefoma". Die Gespräche, die das kleine Mädchen im Heim führt, basieren auf Gesprächen, die Sheree Domingo bei der Recherche zum Comic mit HeimbewohnerInnen geführt hat. Was unverändert blieb: Auch Sheree Domingos Oma starb weit entfernt auf den Philippinen, als sie fünf war. Erst als sie über 20 Jahre später mit ihrer Mutter über ihr Comicprojekt sprach, "wurde mir richtig bewusst, wie schmerzhaft es für sie gewesen sein musste, als sie damals nicht ihre eigene Mutter pflegen konnte, sondern sich um andere alte Menschen kümmerte."

Wenn die Familie nur aus Erinnerung besteht

Viele Erinnerungen habe sie vermischt, sagt die Zeichnerin. Etwa an das Telefon, das wegen der Zeitverschiebung oft in der Nacht klingelte, "und dass am anderen Ende der Leitung Tanten und Onkel waren, die ich mir nur schemenhaft vorstellen konnte." Aber auch wenn sie in "Ferngespräch" vieles dazu gedichtet habe, sei es ihr darum gegangen, ein Gefühl zu vermitteln, das sie als Kind gehabt habe: "Dass etwas schwer greifbar ist und aus bruchstückhaften Erinnerungen besteht und doch Teil meiner eigenen Familie und Identität ist." In den Traum- und Tagtraumsequenzen des Comics wird dieses Bruchstückhafte, Vage nicht nur erzählerisch eindrucksvoll reflektiert, sondern durch die ineinander laufenden Aquarellfarben auch graphisch.

Die Bezüge zum philippinischen Teil ihrer Familiengeschichte schlichen sich schon zuvor in ihre Arbeiten. Nach dem Abitur 2008 begann sie ihr Studium an der Kunsthochschule Kassel, mit einem Reportagecomic zum Thema Arbeit. "Und da fielen mir sofort Anekdoten meiner Verwandtschaft ein." Für diese Arbeit erzählte sie die Geschichte ihres philippinischen Urgroßvaters, der 20 Jahre lang auf Hawaii gearbeitet und seine Familie mit dem dabei verdienten Geld unterstützt hatte, ohne ein einziges Mal in dieser Zeit zuhause gewesen zu sein.

Womöglich sind es auch in "Ferngespräch" diese persönlichen Bezüge, die mit dafür sorgen, dass Sheree Domingos Geschichte nie holzschnittartig wirkt. Es ist große Kunst, wie sie es schafft, entlang der Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Figuren feinfühlig und berührend zwei so große Themen wie Migration und Pflege ineinanderzuflechten. Kurze Szenen und Dialoge reichen ihr aus, um zu veranschaulichen, dass der Pflegebereich in Deutschland eher ein verwalteter Mangel ist. Sie wirken so authentisch, dass man einen Kloß im Hals bekommt.

Agenturen vermitteln auf den deutschen Arbeitsmarkt

Beinahe en passant zeigt der Comic anhand einer kleinen Familie, was Migration bedeutet – was die Ursachen sein können, und was die Folgen sind. Und dass an letzteren vor allem die MigrantInnen zu knabbern haben, nicht etwa die Bewohner der Industrienationen, die von den Auswanderern im Pflegebereich gewaltig profitieren. Der FAZ-Comic-Experte Andreas Platthaus nannte "Ferngespräch" denn auch einen Comic, "wie er aktueller kaum denkbar ist".

2016 sagte Platthaus dies bei der Verleihung des Berthold-Leibinger-Comicbuchpreises im Stuttgarter Literaturhaus – Domingos Werk gehörte zu den zehn Nominierten, gewann den Preis damals aber nicht. Allerdings wurde der Zürcher Comic-Verlag Edition Moderne auf sie aufmerksam. Für die Veröffentlichung habe sie den Comic dann noch einmal überarbeitet, gekürzt und gestrafft, außerdem noch einen Textepilog hinzugefügt, der die Arbeitsmigration von den Philippinen in einen soziologischen und historischen Kontext einordnet. Zwei Seiten, die eine große zusätzliche Bereicherung sind, voller Informationen über die nur wenig bekannten Abgründe von Migrationsbewegungen in einer globalisierten Welt. Etwa, dass Universitäten und private Institutionen auf den Philippinen gezielt Pflegepersonal für den ausländischen Markt ausbilden und über Agenturen auch auf den deutschen Arbeitsmarkt bringen – während in philippinischen Krankenhäusern Personal fehlt.

Sheree Domingo versucht, möglichst einmal im Jahr ihre Verwandten auf den Philippinen zu besuchen. Auch übers Internet lässt sich leichter Kontakt halten als früher. Mittlerweile lebt sie in Berlin, arbeitet dort unter anderem bei der Kreativagentur Ellery Studio, für die sie als Zeichnerin am mehrfach preisgekrönten "Energy Transition Coloring Book" ("Energiewende-Malbuch") beteiligt war. Ihr aktuelles Projekt: Comics und Illustrationen zum Thema Natur, Menschen und Pflanzen für eine Präsentation und Diskussionsrunde am 6. September im Museum für Naturkunde Berlin. Die Comics gehören zum Projekt "Crispr–Whisper", das sich mit Genmanipulation und der neuen gentechnischen Methode "Crispr" befasst.

Ja, irgendwie bearbeite sie immer wieder soziale und politische Themen, sagt Domingo lachend. Und betont: "Ich schätze mich als sehr glücklich, dass ich in Deutschland lebe, diese Möglichkeiten habe". Auch, weil sie hier von ihrer Familie nicht getrennt wurde wie viele ihrer philippinischen Vorfahren. "Mit seiner Familie aufwachsen zu können", schreibt Domingo am Ende von "Ferngespräch", "ist ein Luxus, der den reichen Industrienationen vorbehalten zu sein scheint."


Sheree Domingo: "Ferngespräch", 96 Seiten, 24 Euro,  Edition Moderne, Zürich.


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