Zweifellos gibt es auch Menschen, die sich freuen, dass alle Geschäfte raus müssen aus dem Bonatzbau, und dass hier, im Innenbereich des Hauptbahnhofsgebäudes, entstehen soll, worauf ganz Stuttgart sicher sehnlichst wartet: Ein neues Vier-Sterne-Hotel und eine weitere Shopping Mall. Freuen dürfte sich etwa Clemens Tönnies, zuletzt wegen rassistischer Äußerung unter Beschuss geratener Fleischbaron und Aufsichtsratschef des Fußballvereins Schalke 04. Denn das hier geplante Hotel gehört zur Kette "Me and all Hotels", an der Tönnies' Family Group beteiligt ist.
Okay, ob sich Tönnies nicht sowieso rund um die Uhr freut, weil er laut US-Magazin "Forbes" auf Platz 1349 der reichsten Menschen der Welt steht, ihm die Hälfte der deutschen Lebensmittelindustrie gehört und er trotz Beteiligung an Cum-Ex-Geschäften trickreich um eine dreistellige Millionenstrafe herumkam, wissen wir natürlich nicht. Keinen Zweifel gibt es aber an der bonatzbaubedingten Freude bei "Me and all Hotels". Auf deren Seite wird der kommende neue Standort auf einem ungeahnten Euphorielevel angekündigt. Ein Auszug: "Wir gehen nach Stuttgart – YEAH JIPPIE YEAH – In drei gläserne! Etagen, in den historischen Bonatzbau am Hauptbahnhof." Zentraler und spektakulärer gehe es kaum, denn die drei Etagen würden, heißt es da, "ins historische Drumherum integriert und auf ein Shopping-Center gesetzt." Und weiter, im Wortlaut: "Auch die Fassaden und alten Schalterhallen bleiben erhalten. Das wird der Hammer! Die me and all lounge wird riiiesig. Und es wird ein me and all businesscenter mit 10 Boardrooms für Meetings für bis zu 12 Teilnehmer geben. On top of all. Wir sind ja jetzt schon ein bisschen geflasht."
Ein bisschen geflasht, allerdings im eher negativen Sinne, waren in den vergangenen Tagen auch viele Bahnreisende, die offenbar noch gar nicht wussten, dass zu Stuttgart 21 nicht nur die Transformation des Kopfbahnhofs in eine tiefergelegte Tunnelhaltestelle gehört. Sondern auch die investorenfreundliche Umwidmung früherer Bahnhofsräumlichkeiten. Der Denkmalschutz hielt sich wie sonst auch bei S 21 vornehm zurück und der Stuttgarter Gemeinderat – selbst die Projektkritiker – ließen die Baupläne fürs Hotel ohne jede Diskussion passieren (Kontext berichtete im Juli 2017).
Der Nabel Schwabens ist eine Art Euro-Disneyland
Die Rede vom "historischen Drumherum", in das der Hotelbau integriert werden soll, ist bezeichnend. Schon vor bald 10 Jahren, am 2. Oktober 2009, wählte der Architektur-Kritiker Nicolai Ourousoff in der "New York Times" das Beispiel Stuttgart 21 als "besonders perverse Geste des 'Fassadismus' – einer Lieblingsmethode von Bürokraten und Bauunternehmern, im Rahmen derer ein paar architektonische Elemente bewahrt werden, während der Rest des Gebäudes plattgemacht wird ("is bulldozed" heißt es im Original)".
Den S-21-Fassadismus geißelte auch der Konzept-Künstler Joseph Kosuth – genau der, der 1993 im Auftrag der Deutschen Bahn das Hegel-Zitat " . . . daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist" in Leuchtschrift über der Pfeilerhalle des Bonatzbaus angebracht hatte. 2010 sagte der in einem Interview: "Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so lässt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland."
23 Kommentare verfügbar
Jupp
am 20.08.2019Lustig, dass diejenigen, die das "auf andere zeigen" zum Lebensmittelpunkt gemacht haben nicht in der Lage sind in den Spiegel zu schauen.
Nichts ist übrig von den düsteren Prophezeiungen.
Das einzige was bleibt sind die Kostensteigerungen und der…