"Auf den sehr persönlichen Brief meines Mannes, den er im ganzen Viertel verteilte", schreibt Inge Möller in der Einleitung zum Film, "erhielten wir ein liebenswertes Briefchen von Peter. Das war der Anfang unserer Freudschaft." Später, im Jahr 2006, bildete sich innerhalb der Stolperstein-Initiativen ein Recherchenetzwerk Sinti und Roma, zu dem auch die Möllers gehörten. Im selben Jahr wurde am Nordbahnhof die Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung" eingeweiht. Die Namen der deportierten Sinti und Roma waren damals noch nicht bekannt.
Die Aktiven des Netzwerks, an erster Stelle der Diözesan-Historiker Stephan Janker aus Rottenburg, besuchten Archive, unter anderem das Bundesarchiv in Berlin. Sie verlegten in Anwesenheit von Daniel Strauß, dem Vorsitzenden des Landesverbands der Sinti und Roma, erste Stolpersteine in Stuttgart-Zuffenhausen. Reinhardt stellte den Kontakt zu den Sinti im Viertel her. Mit dabei war auch der spätere Kontext-Förderer Andreas Schairer, dem auffiel, was für ein begnadeter Geschichtenerzähler Reinhardt war. Über einen im Filmbereich tätigen Schwiegersohn kam er zu Uwe Kassai, Dokumentarfilmer und Kameramann.
Was ist aus den Filmaufnahmen geworden?
Kassais Filmaufnahmen zeigen Reinhardt, wie er den Aktiven der Stolperstein-Initiative vor Ort in Zuffenhausen erzählt, was sich zugetragen hat. Zu sehen ist nicht viel, denn der Wohnwagenstellplatz zum Beispiel, von dem Reinhardt spricht, ist inzwischen längst verschwunden. Niemand wusste so recht, wie man mit diesem Material umgehen sollte. Da traf Reinhardt im Vorjahr im Supermarkt Harald Stingele, die treibende Kraft hinter den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen. Er fragte ihn: "Was ist eigentlich aus diesen Filmaufnahmen geworden?"
Es war höchste Zeit sich darum zu kümmern, unterstreicht Kassai. Die fünfzehn Jahre alten Festplatten waren gerade noch zum Laufen zu bringen. Das Material, insgesamt zehn Stunden, musste kopiert werden. Nicht alles ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Es musste eine Auswahl getroffen werden: "Aus Respekt und Achtung", wie Reinhardt sagt, vor den Personen, von denen er spricht.
Stingele nahm Kontakt zum Stadtjugendring auf, der nicht zum ersten Mal mit den Stolperstein-Initiativen zusammenarbeitet – so haben in der Reihe "Fragezeichen" Jugendliche, festgehalten auf Video, mit Zeitzeugen gesprochen (Kontext berichtete). Als Kooperation entstanden nun auch Film und Website "Erinnert – Geschichten der Stuttgarter Sinti und Roma erzählt von Peter Reinhardt": 12 Episoden plus Einleitung, insgesamt 110 Minuten. Die Website ist interaktiv angelegt. Wenn in Reinhardts Erzählungen eine Person oder ein Begriff auftaucht, die man nicht kennt, kann man per Mausklick eine kurze Erklärung abrufen. Der Film hält so lange an. Ausführlicher beschreibt ein Glossar die Hintergründe.
Reinhardts Erzählungen führen plastisch vor Augen, wie die Stuttgarter Mehrheitsgesellschaft mit der Minorität der Sinti umgegangen ist. Und immer noch umgeht: Denn an denselben Orten, wo früher die Wohnwagen standen, reißt die städtische Stuttgarter Wohnungsgesellschaft SWSG weiterhin Häuser ab und vertreibt die Mieter. Etwa am Hallschlag (Kontext berichtete) oder in der Keltersiedlung in Zuffenhausen, in der auch Reinhardt gewohnt hat.
Seit 1971 gibt es den Welttag der Sinti und Roma
Interessant sind nicht zuletzt die Geschichten der Überlebenden. Reinhardt hat sie schon als Kind in sich aufgesogen, wenn er mit den Erwachsenen am Tisch saß. Sie waren alle traumatisiert. In ganz Europa gibt es keine Sinti- oder Romafamilie, die nicht von der Rassenpolitik der Nazis betroffen war. Erst 1971, auf dem ersten Welt-Roma-Kongress in London, ging die Nachkriegsgeneration an die Öffentlichkeit. Seither ist der 8. April Welttag der Sinti und Roma.
Aus diesem Anlass veranstaltet das kleine Stuttgarter Theater am Olgaeck dieses Jahr ein zehntägiges Festival rund um den Roma-Tag mit Musik, Filmen, Kunst und Literatur unter der Schirmherrschaft von Oberbürgermeister Frank Nopper. In Tiflis, Georgien, dem Land, aus dem Nelly Eichhorn, die Leiterin des Theaters stammt, schrieb Maxim Gorki 1892 seine allererste Erzählung "Makar Tschudra" – aus ihr wird am 7. April Rudolf Guckelsberger lesen. Sie reiht sich ein in die zahllosen "Zigeuner"-Geschichten seit Alexander Puschkin: Am Lagerfeuer berichtet der Titelheld von Erlebnissen in der heutigen Ukraine, Geschichten voll Liebe und Stolz, Leidenschaften und Freiheit.
Näher an der Realität sind die Filme: Sie zeigen die heutigen Lebensverhältnisse der Roma in der Slowakei, Rumänien und Serbien, aber auch in Deutschland. Junge Sinti setzen sich in "Das Lager am Rande der Stadt" mit der Geschichte des Ravensburger Lagers Ummenwinkel auseinander. Der Regisseur Philip Scheffner hat mit Colorado Velcu einen Film über eine rumänische Roma-Familie in Berlin gedreht: "And-Ek Ghes…", auf deutsch: "Eines Tages…". Es ist der zweite Film, den die beiden zusammen gedreht haben; Velcus Vater ist 1992 an der deutsch-polnischen Grenzen tot aufgefunden worden – angeblich bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Das wollte Scheffner nicht glauben und kontaktierte den Sohn. Daraus entstand der Dokumentarfilm "Revision" (2012).
Am Roma-Tag, dem 8. April, folgt auf die Kranzniederlegung am Karlsplatz eine eintägige Ausstellung der Werke von József Ferkovics, einem studierten Maler aus Ungarn, der schon in Berlin, Peking, Washington und Brüssel ausgestellt hat, aber immer wieder auch Kreativcamps mit Roma in Ungarn veranstaltet. Dazu spielt die Folkloregruppe Kanizsa Csillagai, organisiert vom Stuttgarter Verein Romano Jilo.
Anerkennung fanden Sinti-Musiker selten
Musik spielt im Leben der Sinti und Roma seit jeher eine wichtige Rolle. Jeder vierte von ihnen ist früher auch als Musiker aufgetreten. Sie brachten Musik in ländliche Räume, wo es sonst keine Kulturveranstaltungen gab. In seinem Buch "Bilder aus Schwaben" beschreibt August Zoller 1834, wie eine Sintifamilie mit Marionetten das Faustdrama aufführt. Ganz besonders schätzten die Hohenzollern-Höfe in Sigmaringen und Hechingen die Fähigkeiten der Sinti-Musiker. Hier fanden sie die Anerkennung, die ihnen sonst oft versagt blieb.
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