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Roma-Tag-Festival

Geschichten der Überlebenden

Roma-Tag-Festival: Geschichten der Überlebenden
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Zum Welttag der Sinti und Roma veranstaltet das Theater am Olgaeck ein zehntägiges Festival. In dessen Rahmen wird auch eine interaktive Website vorgestellt, auf der Peter Reinhardt Geschichten von den Stuttgarter Sinti erzählt, für deren Leiden sich jahrzehntelang niemand interessiert hat.

"'Ach, der arme Bu'", mimt Peter Reinhardt die Reaktion der Passanten, als er von einem Sinto-Jungen erzählt, der durch den NS-Völkermord seine ganze Familie verloren hat. "Und der Junge sitzt am Boden: 'Verschwind, du Arschloch, du blödes! Lass mich in Ruh und halt dei blödes Maul!' Alle sind entsetzt. Bis zuletzt verflucht er alle."

Die Szene, eine von vielen auf einer interaktiven Website "Erinnert", die am 10. April im Hotel Silber vorgestellt wird, führt eindringlich vor Augen: Mitleid mag denen, die es äußern, helfen, sich besser zu fühlen. Dem Bemitleideten hilft es wenig. Vor allem, wenn er sich fragt, was diejenigen, die ihn nun bedauern, denn getan haben, um das Unheil abzuwenden. Die Szene zeigt aber auch, was Reinhardt für ein pointierter Erzähler, was für ein sensibler und unbestechlicher Beobachter er ist.

"Die Geschichte von meinem Volk ist ein Tabu", erklärt Reinhardt. "Sofern es noch Überlebende gibt, die sprechen darüber nicht." Auch die Außenwelt hat sich kaum je für ihre Geschichte interessiert. "Später gab es nie mehr irgendjemand, der versucht hätte, die Geschichte von dieser Stadt und den dort lebenden Sintifamilien, die bereits seit dem 17./ 18. Jahrhundert hier in Stuttgart gelebt haben, zu dokumentieren und darüber korrekt alles zusammenzutragen." Praktisch für die NS-Täter. Sie waren "ziemlich auf der sicheren Seite: Es passiert nichts, hier kommt nichts."

"In der Zwischenzeit", so Reinhardt weiter, "sind ja die Zeitzeugen, sofern es welche gab, alle weg. Die gibt es nicht mehr. Jetzt kann man salopper damit umgehen und kann vielleicht sogar noch, in der dritten Generation, mal drüber reden." Dass er in diesen Filmaufnahmen vor fünfzehn Jahren angefangen hat, öffentlich auch für die Nachwelt darüber zu reden, hängt mit den Stolperstein-Initiativen zusammen. Vor allem mit Inge und Diethard Möller, die er bereits in den 1990er-Jahren kennengelernt hat.

"Seid ihr denn verrückt geworden?"

Reinhardt muss weit ausholen, um die Geschichte zu erzählen: Eine Frau aus seiner Verwandtschaft hatte bereits Anfang der 1950er-Jahre einen Rom aus der Slowakei geheiratet und war mit ihm dorthin gezogen. Später trennten sie sich, und es gelang ihr, mit den Kindern nach Deutschland zurückzukehren. Die Söhne hielten aber so gut es ging Kontakt zum Vater und besuchten ihn nach der Wende 1990 in Košice. Sie konnten vier Männer nach Stuttgart einladen. Im Lauf eines Jahres wurden es mehr.

Dann hielten Menschen aus seiner Nachbarschaft Reinhardt eines Tages in seinem Eckladen ein Papier unter die Nase: "Hallo Peter, möchtest du hier nicht unterschreiben?" Gegen die Unterkunft, in der die Männer aus der Slowakei wohnten. "Seid ihr denn verrückt geworden?", gab er zurück. "Ich unterschreib' doch nicht gegen meine Leut'." Dann aber fand sich in seinem wie in jedem anderen Briefkasten des Viertels ein Brandbrief, der sich in scharfer Form von der Unterschriftensammlung distanzierte. Unterschrieben von Diethard Möller, Psychotherapeut, der mit seiner Frau Inge seit Kurzem im Haus neben der Unterkunft wohnte.

"Auf den sehr persönlichen Brief meines Mannes, den er im ganzen Viertel verteilte", schreibt Inge Möller in der Einleitung zum Film, "erhielten wir ein liebenswertes Briefchen von Peter. Das war der Anfang unserer Freudschaft." Später, im Jahr 2006, bildete sich innerhalb der Stolperstein-Initiativen ein Recherchenetzwerk Sinti und Roma, zu dem auch die Möllers gehörten. Im selben Jahr wurde am Nordbahnhof die Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung" eingeweiht. Die Namen der deportierten Sinti und Roma waren damals noch nicht bekannt.

Die Aktiven des Netzwerks, an erster Stelle der Diözesan-Historiker Stephan Janker aus Rottenburg, besuchten Archive, unter anderem das Bundesarchiv in Berlin. Sie verlegten in Anwesenheit von Daniel Strauß, dem Vorsitzenden des Landesverbands der Sinti und Roma, erste Stolpersteine in Stuttgart-Zuffenhausen. Reinhardt stellte den Kontakt zu den Sinti im Viertel her. Mit dabei war auch der spätere Kontext-Förderer Andreas Schairer, dem auffiel, was für ein begnadeter Geschichtenerzähler Reinhardt war. Über einen im Filmbereich tätigen Schwiegersohn kam er zu Uwe Kassai, Dokumentarfilmer und Kameramann.

Was ist aus den Filmaufnahmen geworden?

Kassais Filmaufnahmen zeigen Reinhardt, wie er den Aktiven der Stolperstein-Initiative vor Ort in Zuffenhausen erzählt, was sich zugetragen hat. Zu sehen ist nicht viel, denn der Wohnwagenstellplatz zum Beispiel, von dem Reinhardt spricht, ist inzwischen längst verschwunden. Niemand wusste so recht, wie man mit diesem Material umgehen sollte. Da traf Reinhardt im Vorjahr im Supermarkt Harald Stingele, die treibende Kraft hinter den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen. Er fragte ihn: "Was ist eigentlich aus diesen Filmaufnahmen geworden?"

Es war höchste Zeit sich darum zu kümmern, unterstreicht Kassai. Die fünfzehn Jahre alten Festplatten waren gerade noch zum Laufen zu bringen. Das Material, insgesamt zehn Stunden, musste kopiert werden. Nicht alles ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Es musste eine Auswahl getroffen werden: "Aus Respekt und Achtung", wie Reinhardt sagt, vor den Personen, von denen er spricht.

Stingele nahm Kontakt zum Stadtjugendring auf, der nicht zum ersten Mal mit den Stolperstein-Initiativen zusammenarbeitet – so haben in der Reihe "Fragezeichen" Jugendliche, festgehalten auf Video, mit Zeitzeugen gesprochen (Kontext berichtete). Als Kooperation entstanden nun auch Film und Website "Erinnert – Geschichten der Stuttgarter Sinti und Roma erzählt von Peter Reinhardt": 12 Episoden plus Einleitung, insgesamt 110 Minuten. Die Website ist interaktiv angelegt. Wenn in Reinhardts Erzählungen eine Person oder ein Begriff auftaucht, die man nicht kennt, kann man per Mausklick eine kurze Erklärung abrufen. Der Film hält so lange an. Ausführlicher beschreibt ein Glossar die Hintergründe.

Reinhardts Erzählungen führen plastisch vor Augen, wie die Stuttgarter Mehrheitsgesellschaft mit der Minorität der Sinti umgegangen ist. Und immer noch umgeht: Denn an denselben Orten, wo früher die Wohnwagen standen, reißt die städtische Stuttgarter Wohnungsgesellschaft SWSG weiterhin Häuser ab und vertreibt die Mieter. Etwa am Hallschlag (Kontext berichtete) oder in der Keltersiedlung in Zuffenhausen, in der auch Reinhardt gewohnt hat.

Seit 1971 gibt es den Welttag der Sinti und Roma

Interessant sind nicht zuletzt die Geschichten der Überlebenden. Reinhardt hat sie schon als Kind in sich aufgesogen, wenn er mit den Erwachsenen am Tisch saß. Sie waren alle traumatisiert. In ganz Europa gibt es keine Sinti- oder Romafamilie, die nicht von der Rassenpolitik der Nazis betroffen war. Erst 1971, auf dem ersten Welt-Roma-Kongress in London, ging die Nachkriegsgeneration an die Öffentlichkeit. Seither ist der 8. April Welttag der Sinti und Roma.

Aus diesem Anlass veranstaltet das kleine Stuttgarter Theater am Olgaeck dieses Jahr ein zehntägiges Festival rund um den Roma-Tag mit Musik, Filmen, Kunst und Literatur unter der Schirmherrschaft von Oberbürgermeister Frank Nopper. In Tiflis, Georgien, dem Land, aus dem Nelly Eichhorn, die Leiterin des Theaters stammt, schrieb Maxim Gorki 1892 seine allererste Erzählung "Makar Tschudra" – aus ihr wird am 7. April Rudolf Guckelsberger lesen. Sie reiht sich ein in die zahllosen "Zigeuner"-Geschichten seit Alexander Puschkin: Am Lagerfeuer berichtet der Titelheld von Erlebnissen in der heutigen Ukraine, Geschichten voll Liebe und Stolz, Leidenschaften und Freiheit.

Näher an der Realität sind die Filme: Sie zeigen die heutigen Lebensverhältnisse der Roma in der Slowakei, Rumänien und Serbien, aber auch in Deutschland. Junge Sinti setzen sich in "Das Lager am Rande der Stadt" mit der Geschichte des Ravensburger Lagers Ummenwinkel auseinander. Der Regisseur Philip Scheffner hat mit Colorado Velcu einen Film über eine rumänische Roma-Familie in Berlin gedreht: "And-Ek Ghes…", auf deutsch: "Eines Tages…". Es ist der zweite Film, den die beiden zusammen gedreht haben; Velcus Vater ist 1992 an der deutsch-polnischen Grenzen tot aufgefunden worden – angeblich bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Das wollte Scheffner nicht glauben und kontaktierte den Sohn. Daraus entstand der Dokumentarfilm "Revision" (2012).

Am Roma-Tag, dem 8. April, folgt auf die Kranzniederlegung am Karlsplatz eine eintägige Ausstellung der Werke von József Ferkovics, einem studierten Maler aus Ungarn, der schon in Berlin, Peking, Washington und Brüssel ausgestellt hat, aber immer wieder auch Kreativcamps mit Roma in Ungarn veranstaltet. Dazu spielt die Folkloregruppe Kanizsa Csillagai, organisiert vom Stuttgarter Verein Romano Jilo.

Anerkennung fanden Sinti-Musiker selten

Musik spielt im Leben der Sinti und Roma seit jeher eine wichtige Rolle. Jeder vierte von ihnen ist früher auch als Musiker aufgetreten. Sie brachten Musik in ländliche Räume, wo es sonst keine Kulturveranstaltungen gab. In seinem Buch "Bilder aus Schwaben" beschreibt August Zoller 1834, wie eine Sintifamilie mit Marionetten das Faustdrama aufführt. Ganz besonders schätzten die Hohenzollern-Höfe in Sigmaringen und Hechingen die Fähigkeiten der Sinti-Musiker. Hier fanden sie die Anerkennung, die ihnen sonst oft versagt blieb.

Damals spielten sie Csardas, Opern und Operetten, heute ist es vor allem der Jazz Manouche, der die Musiker in unseren Breiten begeistert. Manouche ist ein französisches Wort für die Sinti und Roma – in Deutschland gab es früher auch die Bezeichnung "Manische", beides abgeleitet von der Sprache, dem Romanes. Gemeint ist Jazz in der Tradition Django Reinhardts, der als erster europäischer Musiker mit den besten schwarzen amerikanischen Musikern mithalten konnte und unter anderem mit Duke Ellington auftrat.

Jazz Manouche spielt auch Romano Guttenberger, der die Mehrzahl der Konzerte organisiert hat und dabei selbst auf der Bühne steht: Er spielt Sologitarre zu Elektrobeats mit dem Swing Bohème Orchestra aus Kirchheim und im Trio des Kontrabassisten Simon Ort aus Würzburg. Er begleitet die Lesung von Rudolf Guckelsberger. Zum Auftritt der Guttenberger Brothers mit seinem Bruder Knebo kommt als Stargast der Gitarrist Wawau Adler.
 

Info:

"Roma-Tag-Festival 2022", 1. bis 10. April, verschiedene Veranstaltungsorte in Stuttgart. Zum Programm geht es hier.

Der Film und die Website "Erinnert" mit Peter Reinhardt werden am Sonntag, den 10. April um 11 Uhr im Hotel Silber (Dorotheenstraße 10, 70173 Stuttgart-Mitte) von den Beteiligten vorgestellt.


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