Bekannt ist alten Stuttgartern noch die legendäre Weinstube Widmer im Leonhardsviertel. Eröffnet 1963 von Emma Widmer, genannt Melle, eine Tante von Harry Widmer. Es war das erste Lokal in Stuttgart, das länger als 23 Uhr geöffnet hatte, und wurde gerne von Schauspielern besucht. Zur Künstlerszene hatte Melle Widmer einen persönlichen Bezug: Als Kind bekam sie Ballettunterricht, wechselte mit 17 Jahren an das russische Arkoff-Barwilova-Ballett über und wurde Spitzentänzerin im Czardas, schreibt 1969 der Journalist Hans Fröhlich, der das Lokal später übernahm. Die NS-Zeit überlebte Melle Widmer in einer Fabrik.
"Ihr Vater gehörte zur ältesten Stuttgarter Schaustellerfamilie", bemerkt Fröhlich. Seit 1905 lässt sich die Familie Widmer im Stuttgarter Adressbuch nachweisen. Auch der Großvater von Jeanette Widmer, Otto, wuchs in dieser Welt der Schausteller, der Jenischen, auf. Für Jeanette war das Leben als Kind einer Sinti-Roma-Jenischen-Familie mehr als schwierig. Nicht einmal ein Jahr lang ging sie zur Schule. Denn ihr Lehrer an der Altenburgschule sei ein alter Nazi gewesen, der ihnen NS-Propagandafilme vorführte. "Der hat mi 'plagt", erzählt sie: "Alles, was schwarze Haar g'habt hat, war halt Zigeuner." Er zog sie an den Haaren und schlug sie, bis ihr Vater kam und sie von der Schule nahm. Später, "auf der Reis'", kümmerte sich niemand um die Schulpflicht. Entweder man ließ Jeanette in Ruhe, oder sie wurde in irgendeine Klasse gesteckt. "Da setzt' dich hin und wartest, bis vorbei ist", erinnert sich die alte Dame.
Die Kinder sollen es besser haben
Als Erwachsene ist Jeanette Widmer nicht mehr gereist. Ihre Kinder sollten eine ordentliche Ausbildung erhalten. In einer kleinen Vierzimmerwohnung hat sie sieben eigene großgezogen, mit ihrer Mutter und einem Pflegekind waren sie zu zehnt. Widmer hat seit ihrem achtzehnten Lebensjahr fast immer gearbeitet. Die Miete einer Neubauwohnung am Hallschlag – 11,50 Euro kalt pro Quadratmeter statt bisher weniger als acht – wird sie von der Rente, die sie bald bekommen wird, niemals bezahlen können.
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TakkaTukka
am 18.08.2021