Es ist der 12. Juli 2007. Zwei amerikanische Apache-Kampfhubschrauber kreisen über Bagdad, auf der Suche nach bewaffneten Aufständischen. In kleinen Gruppen stehen in einer Straße zivil gekleidete Männer zusammen. Zwei haben etwas umgehängt, was nicht nach Waffen aussieht (Journalisten mit Kameras, wie wir später erfahren). Die Crew ist der Ansicht, es handele sich um Maschinengewehre und Handgranaten. Sie bekommen die Schusserlaubnis.
In wenigen Sekunden ist die Straße übersät mit Toten. Ein paar Verletzte versuchen zu entkommen, die nächste Salve erwischt auch sie. Einer versucht sich zu erheben, bricht zusammen (es handelt sich um einen Reuters-Journalisten). Ein Minibus taucht auf. Drei Männer in Zivilkleidung wollen Leichen und Verletzte bergen. Die Crew bekommt wieder Schusserlaubnis. Die Bordkanone zerfetzt den Minibus, die Helfer und den schwerverletzten Reuters-Journalisten in Stücke. Ein Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht.
Das 18-minütige Video, mit Dialogen der GIs wie in einem Computerspiel, nimmt einem den Atem. Es geht unter dem Titel "Collateral Murder" auf der 2006 von Julian Assange gegründeten Enthüllungsplattform Wikileaks um die Welt. Es wird das Leben von Assange dramatisch verändern, es wird Auswirkungen auf investigativen Journalismus weltweit haben. Und es wird das Leben des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Nils Melzer, verändern.
Selbstzensur und vorauseilender Gehorsam der Medien
Melzer beginnt sein Buch "Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung" mit einem seltenen, sympathischen Bekenntnis, dass ihm erst nach "Collateral Murder" klar wurde, dass Assange jahrelang auch für ihn, den UNO-Sonderberichterstatter, Professor für Völkerrecht an der Universität Glasgow und an der Genfer Akademie für Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte, "der Hacker und Spion, der sich in der ecuadorianischen Botschaft Recht und Gesetz entzieht, der rücksichtslose Narzisst, Verräter und Schmutzfink" war. Seine Wahrnehmung sei "von Vorurteilen verzerrt gewesen", durch reißerische, tendenziöse Berichterstattung, so raffiniert gemacht, dass auch ein international involvierter Experte wie Melzer auf sie hereinfiel.
2 Kommentare verfügbar
C. Schreiber
am 02.07.2021Müsste die Welt nicht dankbar sein, dass die Verbrechen aufgedeckt werden. Aber es wird nicht der Verbrecher verurteilt, der, der sie aufdeckt riskiert sein Leben. Ihm drohen Folter und lebenslanger Freiheitsentzug.Und die Welt schaut zu. Aus Angst vor den Mächtigen, aus…