Gerlingen wirkt auf mich wie ein Kino-Dorf. Hübsche Häuser, ordentliche Fußwege, hübsch bepflanzte Blumenbeete und viel Liebe zum Detail. Zwerge, Springbrunnen und lustige Schilder mit den Namen der BewohnerInnen. Überall sehe ich Kinderschaukeln und Spielzeug und jeden Morgen beobachte ich, wie die Kinder zur Schule gehen. Wenn ich am Abend zurückkomme und in die Fenster schaue, sehe ich fast überall Bücherregale. Und von den Fenstern meines Zimmers sehe ich über den Puppendächern der Häuser den Kirchturm. Jede Nacht schlafe ich ein mit dem Klang der Kirchenglocken. Jeden Morgen wache ich auf bei Vogelgezwitscher. Ein sanftes Aufwachen und so viel angenehmer als mit dem Geräusch von Raketen in meiner Stadt Odessa. Das Problem ist nur, dass wir in der Ukraine keine Wahl haben.
Am 24. Februar um 5 Uhr in der Frühe ist mein Land von Explosionen geweckt worden. Russland hatte die Invasion in der Ukraine begonnen. Eine Minute vor der ersten Rakete habe ich Putins Rede im Internet gehört. Ich konnte es nicht glauben. Anrufe bei Freunden, der Blick in offizielle Facebookseiten und in Telegram-Kanäle halfen, das Mosaik zusammenzusetzen. Viele Städte wurden angegriffen. Auch meine Heimatstadt Odessa.
Ich liebe meine Stadt. Ich weiß alles über das Leben in Odessa, weil ich 20 Jahre lang als Journalistin in Odessa arbeitete. Über Kamera und Mikrophon kommunizierte ich mit der Welt, Worte waren meine Waffen. Dann wurde ich Stadtführerin. Womöglich gibt es keinen Job, der die Liebe zu einer Stadt derart wachsen lässt. Du kennst so viele Ecken, Fassaden und die Geschichte jeder Straße. Mit geschlossenen Augen findest du deinen Weg. Du kannst stundenlang über die Geschichte dieser Stadt sprechen. Von den Griechen angefangen, die sich hier an der Küste niedergelassen haben, bis in die Gegenwart, in der Odessa zum größten Hafen der Ukraine am Schwarzen Meer geworden ist mit einer Einwohnerzahl von mehr als einer Million. Wir StadtführerInnen sagten uns scherzhaft, unsere Aufgabe ist es, die Leute zu Verliebten zu machen, sie sollten sich in Odessa verlieben. Das war meine Arbeit die letzten fünf Jahre vor dem Krieg.
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Christine Köhler
am 10.04.2022For Hannah Arendt it was not an option to "fall in love with a country". Let us love what is human. This is why I love ""Kontext" / what this weekly…