Nur wenige Menschen waren unter diesen Umständen bereit, einen neutralen Standpunkt einzunehmen und sich die Frage vorzulegen, ob die Fokussierung auf die Aggression nicht eine verkürzte Sichtweise war, die nur einen Teil des Ganzen erfasste. Hat nicht jeder Konflikt eine Vorgeschichte?
Blicken wir auf die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen im frühen 21. Jahrhundert zurück: Nach einer Phase der Kooperation verschlechterten sie sich insbesondere in den Jahren der Nato-Osterweiterung nach 1999. Es ist die Geschichte einer neuen Konfrontation. Während die westliche Seite (die Nato) jeweils das Recht eines jeden europäischen Staates auf Selbstbestimmung bekräftigte, machte die russische Seite über Jahre hinweg geltend, die westliche Ausdehnung nach Osten stelle nach ihrer Sicht eine Bedrohung Russlands dar.
Gleichzeitig demonstrierten die Großmächte USA und Russland, dass sie jederzeit bereit waren, ihre Interessen im vormaligen Machtbereich oder in anderen Teilen der Welt notfalls auch mit kriegerischer Gewalt zu vertreten. Russland bombardierte Tschetschenien und Georgien, annektierte die Krim, führte Krieg in Syrien und unterstützte den Bürgerkrieg in der Ostukraine. Die USA führten, in mehr oder weniger großen Koalitionen, unter anderem Kriege in Afghanistan, dem Irak und Libyen. Der amerikanische Krieg gegen den Irak (2003-2011) soll eine Million Menschenleben gekostet haben.
Die Versäumnisse des Westens
Schon bald nach Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar 2022 wiesen Analytiker aus verschiedenen Ländern auf zwei Versäumnisse des Westens hin. Erstens habe er in den 1990er Jahren das Projekt eines Gemeinsamen Hauses Europa unter Einbeziehung Russlands nicht weiterverfolgt. Stattdessen habe er – entgegen den Absprachen nach dem Ende des Kalten Krieges – die Nato-Osterweiterung betrieben, und zwar ohne umfängliche diplomatische Konsultationen der USA mit Russland. Hier trafen sich die Interessen osteuropäischer Länder, die aus dem Verbund der vormaligen Sowjetunion ausgeschieden waren und sich nun dem Westen zuwandten, mit den Interessen der westlichen Vormacht USA, die eine Ausdehnung des eigenen Machtbereichs in Richtung russische Grenze als vorteilhaft für die eigene Weltmachtposition ansah.
Auf russische Bedenken wegen der Nato-Osterweiterung wurde nicht gehört. Ein Sich-Hineinversetzen in die Lage des anderen – an sich das kleine Einmaleins der Diplomatie – wurde für überflüssig gehalten, Verhandlungen mit Russland über die Ukraine wurden von den USA abgelehnt, auch von Präsident Joe Biden.
Ín seinem Buch "Nationale Interessen" schreibt der SPD-Politiker und ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt Klaus von Dohnanyi, dass der Westen nicht bereit war, mit den Russen über eine Nato-Zugehörigkeit der Ukraine auch nur zu reden, obwohl Putin darum gebeten hatte. Danach hat sich Russland für den Krieg entschieden. Dohnanyis zentrale These, der ich mich anschließe, lautet: "Putin ist der Aggressor, aber die Möglichkeit, den Krieg zu verhindern, lag beim Westen."
Immer mehr Waffen für den Sieg?
Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges beschloss die Bundesregierung – wie die Regierungen mehrerer anderer westlicher Staaten –, die überfallene Ukraine mit Waffenlieferungen und der Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen. In welchem Umfang dies geschehen soll, ist bis heute strittig. Die SPD unterstützt die Waffenlieferungen, aber mit Bauchschmerzen. Sie verweist auf das Eskalationsrisiko und auf die Gefahr eines Atomkrieges. Grüne und FDP sowie die Oppositionspartei CDU/CSU sind bei der Güterabwägung eher für eine massive Stärkung der ukrainischen Streitkräfte, unter Inkaufnahme des genannten Risikos. Das Argument, dass mehr Waffen auch mehr Kriegstote bedeuten, hat – für mich erstaunlich! – keinen erkennbaren Stellenwert bei der Suche nach einer diplomatischen Lösung.
Die Fragen bleiben: Ist es wünschenswert, mit immer mehr und immer schwereren Waffen ein Ende des Krieges zu erzwingen? Oder versperrt die Kriegslogik, die in den Kategorien von Sieg und Niederlage denkt, den Weg zu diplomatischen Lösungen und zur Vorbereitung einer Nachkriegsordnung, in der dann endlich wieder die Friedenslogik zur Geltung gebracht werden kann?
Bei unseren Diskussionen hier in Deutschland muss man sich stets vergegenwärtigen: Ausschlaggebend für den Verlauf und das Ende dieses Krieges ist nicht die deutsche Politik. Entscheidend sind vielmehr die Kriegsziele Russlands, der Ukraine und der USA.
Kriegsziele und Friedensaussichten
Daher müssen wir uns mit dem Zusammenhang von Kriegszielen und Waffenlieferungen beschäftigen. Generell gilt, dass die Kriegsziele nicht auf dem offenen Markt ausposaunt werden. Auch hier greift die Kriegslogik. Das heißt: Es wird getarnt und getäuscht.
Was wir erkennen können: Die russische Kriegspolitik, angeführt von Putin, zielt auf eine schrittweise Wiederherstellung der russischen Großmachtstellung wie zu Zeiten des Zarenreiches oder der Sowjetunion ab. Putin hat immer wieder öffentlich ausgesprochen, dass für ihn der Zerfall der Sowjetunion die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei.
Die insbesondere von den USA betriebene Einbeziehung der Ukraine in das westliche Bündnissystem – Nato-Osterweiterung – stellt in den Augen Putins eine unmittelbare Bedrohung Russlands dar. Dort aufgestellte Raketen können ohne große Vorwarnzeiten in Minutenschnelle russische Städte erreichen. Putin sieht hier eine "rote Linie" überschritten.
Aufgrund des aktuellen Stands des Kriegsverlaufs könnte es sein, dass Russland sich mit der Krim und den eroberten Gebieten im Osten der Ukraine sowie mit einer Neutralisierung des Landes unter internationaler Aufsicht zufrieden gibt. Aber das ist Spekulation. Aktuell erstrebt Moskau einen militärischen Sieg, und der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte am 20. Juli, Russland habe seine "geografischen Ziele" geändert, sprich: erweitert.
Will Russland derzeit eine Kriegsbeendigung, einen Waffenstillstand? Nein!
Die ukrainische Kriegspolitik folgt dem Muster einer rechtmäßigen Landesverteidigung gegen einen völkerrechtswidrigen Angriff. Präsident Selenski will die russischen Streitkräfte – mit gesteigerter westlicher Waffenhilfe und anderen Unterstützungsleistungen – außer Landes treiben und zumindest den Status quo ante, also vor dem 24. Februar 2022, wiederherstellen.
Will die Ukraine derzeit eine Kriegsbeendigung, einen Waffenstillstand? Nein!
25 Kommentare verfügbar
M. Stocker
am 02.08.2022Genau. Hat auch Josep Borell gesagt: das wird auf dem Schlachtfeld entschieden.
Deswegen ist der Sieg der ukrainischen Armee nicht mehr aufzuhalten. An Weihnachten ist der Donbas und die Krim wieder…