KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Zum Tod von Henning Zierock

"Frieden gewinnen, nicht den Krieg"

Zum Tod von Henning Zierock: "Frieden gewinnen, nicht den Krieg"
|

Datum:

Noch kurz vor seinem Tod hat Henning Zierock aus dem Krankenhaus angerufen und gesagt: "Gerade jetzt dürfen wir den Bellizisten nicht das Feld überlassen." Ein Nachruf von einem Freund.

Am 9. Mai, am Geburtstag von Sophie Scholl, hat Henning in Tübingen noch eine Gedenk- und Friedensdemonstration organisiert. Sein Thema hieß "Es geht nicht ums Siegen, sondern ums Tun". Für den kommenden Katholikentag in Stuttgart Ende Mai hatte er zwei Veranstaltungen geplant: In Stuttgart, vor dem US-Africom, einem Hauptquartier für Militäreinsätze in Afrika, wollte er mit Konstantin Wecker, Eugen Drewermann und mir "Militärstandorte zu Friedenszonen" machen und in der Martinskirche in Möhringen "Für das Recht, in Frieden zu leben" eintreten. Rastlos wie immer.

Am 11. Mai ist Henning nach einer Herzoperation im Alter von 70 Jahren gestorben. Viel zu früh, mitten in seinen Friedensaktivitäten. Noch drei Tage vor seinem Tod hat er mich aus dem Krankenhaus angerufen und gesagt: "Gerade jetzt, mitten im Ukraine-Krieg, dürfen wir den Bellizisten nicht das Feld und die öffentliche Diskussion überlassen. Gerade jetzt brauchen wir die deutliche Stimme der Pazifisten." In den Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender höre er fast nur noch den Ruf nach "Waffen, Waffen, Waffen". Natürlich heiße der derzeitige Aggressor Putin, aber wo bleibe die Kritik am Afghanistan-Krieg, am Irak-Krieg und am Vietnam-Krieg des Westens und der Nato? Er erwarte von den Öffentlich-Rechtlichen Gleichbehandlung aller Kriegstreiber. Nun trauert die Gesellschaft "Kultur des Friedens" um ihren Gründer.

Der friedlich Streitbare war Musiker und Lehrer und leitete viele Jahre den Theodorakis-Chor Tübingen/Stuttgart, den er mit seinem griechischen Freund, Sänger, Widerstandskämpfer und Mitstreiter Mikis Theodorakis, dem Friedensforscher Johan Galtung, mit der Schriftstellerin Christa Wolff, mit Inge und Walter Jens, Carola Bloch und vielen anderen Prominenten am 8. Mai 1988 gegründet hatte. Danach ist Theodorakis oft mit Henning in Tübingen aufgetreten. An seinem 95. Geburtstag sagte der weltberühmte Sänger in Athen in seinem Haus unterhalb der Akropolis: "Niemand hat meine Lieder weltweit so bekannt gemacht, wie mein Freund Henning Zierock."

Bis kurz vor seiner Herz-Operation am Dienstag letzter Woche warnte Henning vor der Gefahr eines Atomkriegs und berief sich dabei zu Recht auf Michail Gorbatschow. Das Motto des Friedensaktivisten aus Tübingen hieß: "Wir müssen den Frieden gewinnen, nicht den Krieg". Den diesjährigen Oster-Friedensmarsch in Stuttgart hat er noch mitorganisiert, konnte aber wegen seines Herzleidens nicht mehr selbst teilnehmen. So musste auch zwei Tage vor seinem Tod die Mauthausen-Kantate in der Tübinger Stiftskirche von Schülerinnen und Schülern ohne ihn aufgeführt werden. Alle Anwesenden haben ihm noch Genesungswünsche ins Krankenhaus geschickt.

Henning war ein streitbarer Mann. Doch er stritt nicht nur in Stuttgart und Tübingen für den Frieden und für gewaltlose Konflikt-Lösungen, sondern in der ganzen Welt. Auch in den Flüchtlingslagern in Lesbos, in Syrien, in der Türkei, im ehemaligen Jugoslawien und in ganz Griechenland. Mit Tausenden haben wir zusammen in Athen und Berlin, in Tusla, Stuttgart und Tübingen für Frieden, Abrüstung und gewaltfreie Konfliktlösungen demonstriert. Er meinte: "99,9 Prozent unserer privaten Konflikte lösen wir doch gewaltlos – warum dann nicht auch unsere politischen Konflikte? Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass gewaltfreie Konfliktlösungen erfolgreicher, billiger, unblutiger, nachhaltiger und gesünder sind." Mit ihm hat die weltweite Friedensbewegung einen wichtigen Mitstreiter verloren.

Vor wenigen Wochen noch beim Papst

Und immer wieder zitierte er Mahatma Gandhi: "Sei du selbst ein Teil der Veränderung, die du in der Welt sehen willst." Noch vor wenigen Wochen traf Henning in Rom in einer Generalaudienz kurz mit Papst Franziskus zusammen und bat ihn um Vermittlung im Ukraine-Konflikt. Wenige Tage später sagte Franziskus, ein Besuch in Kiew stehe auf seinem Programm. In dem Brief, den er dem Papst überreichen konnte, schrieb Henning: "Heiliger Vater, bitte übernehmen Sie eine Vermittlerrolle in diesem schrecklichen Konflikt." Die Antwort des Papstes: "Jeder Krieg zerstört die Geschwisterlichkeit der Menschheitsfamilie." Und bis zu seinen letzten Lebensstunden hat Henning gewarnt: "Je stärker die Drohkulissen, desto wahrscheinlicher wird, dass einer der Wahnsinnigen durchknallt. Jeder Krieg hat nur Verlierer, schon mit dem ersten Toten."

Einen Mitstreiter hat Henning auch in Michail Gorbatschow gesehen. Das Buch, das ich 2017 zusammen mit dem Friedensnobelpreisträger geschrieben habe, hat den sehr aktuellen Titel "Nie wieder Krieg – Kommt endlich zur Vernunft". Schon diese Überschrift zeigt, dass der Krieg in der Ukraine kein Krieg der Russen ist, sondern ein Putin-Krieg. Henning hat dieses Buch über 200 Mal verschenkt und verkauft. Der Realpolitiker Gorbatschow, dem wir Deutschen die friedliche Wiedervereinigung verdanken, sagt in unserem Buch: "Ein Atomkrieg wäre der letzte Krieg der Menschheitsgeschichte, weil es danach keine Menschen mehr gäbe, die noch einen Krieg führen könnten."

Wir brauchen genau deshalb eine atomwaffenfreie Welt. Dafür werden wir, lieber Henning, weiter kämpfen und arbeiten. Das ist die wichtigste Friedensarbeit. Dieser Michail Gorbatschow war der größte Abrüster aller Zeiten. Vielleicht haben wir ihm unser Überleben im Atomzeitalter zu verdanken. Darin war ich mit Henning einig: Krieg ist immer das Ende aller Humanität.

Wer nun fragt: Wo ist Henning Zierock und sein unermüdlicher Friedensgeist jetzt, dem möchte ich diese Antwort geben: Wir leben nicht, um zu sterben, sondern wir sterben, um in der geistigen Welt zu leben. Mit Carl Gustav Jung und der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross, die mit 22 Ehrendoktortiteln die akademisch meist ausgezeichnete Frau der Welt ist, möchte ich sagen: Der Tod ist kein Untergang, sondern ein Übergang; nicht das Ende, sondern eine Wende; kein Abbruch, sondern ein Aufbruch. Der Tod hat nicht das letzte Wort, sondern das, was für Dich, Henning, die Liebe war – auch die Liebe zu Deiner Partnerin Heike. Liebe ist ein anderes Wort für Frieden. Mach's gut, lieber Freund. Hier geht Dein Kampf für den Frieden zusammen mit Deiner Heike und Deiner "Kultur des Friedens" weiter, in Deinem Geist. Du warst und bleibst uns ein Vorbild. Danke!


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


12 Kommentare verfügbar

  • Ingrid Bohsung
    am 20.05.2022
    Antworten
    Die Todesnachricht von Henning Zierock hat mich tief getroffen. Sein unerschütterliches Eintreten für eine friedliche Welt war so überzeugend, ich bewunderte ihn, als er vor Ausbruch des Kosovo-krieges über die Grenzen Friedensbezeugungen verkündete, wie seine Gitarre immer dabei war und seine…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:




Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 10 Stunden
Alles gut


Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!