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Schulbildung

Vom Norden lernen

Schulbildung: Vom Norden lernen
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Bildungspolitiker:innen zieht es an die Waterkant. Weil Hamburg vormacht, wie mit ernsthafter Analyse, langem Atem, ordentlich Geld und gesundem Pragmatismus guter Unterricht gelingen kann. An alldem fehlt es in Baden-Württemberg schmerzlich.

Theresa Schopper will in die Hansestadt reisen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, wie Ganztag, verpflichtende Nachhilfe und individuelle Förderung schon vor der ersten Klasse aus einem Schlusslicht ein Vorbild gemacht haben. Baden-Württembergs grüne Kultusministerin könnte erst einmal ins Landtagsarchiv steigen und die Ordner entstauben, in denen alle Aktivitäten, Reden und Entscheidungen ihrer Vorgänger:innenn, die Konzepte, Modelle und die guten Ratschläge der Fachleute gesammelt sind. Unter L wie Lazarus, Ursula würde sie sogar den legendären Ausspruch der CDU-Studienrätin aus Baden-Baden auf einer Reise vor inzwischen 14 Jahren nach Kiel finden: "So weit kommt es noch, dass der Süden von Norden lernt."

Jetzt ist es so weit gekommen. "Wir haben", weiß Katrin Steinhülb-Joos (SPD) auch angesichts der jahrelangen Vorgeschichte, "kein Erkenntnisproblem, wir haben aber versäumt, die richtigen Schlüsse zu ziehen." Vor ihrem Einzug in den Südwest-Landtag 2021 war sie Schulleiterin der Altenburgschule in Bad Cannstatt. Sie kann erzählen, was passiert, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, wenn eine Schule der Komplexität der Verhältnisse, den Schüler:innen aus vielen Ländern und schwierigen Familien trotz aller Bemühungen nicht gerecht werden kann. "Man hätte mit so wenig Hilfe so viel erreicht", sagt sie.

Die dreifache Mutter erinnert sich an ein Gespräch mit dem zuständigen Schulrat vor sechs oder sieben Jahren, bei dem sie sich um eine einzige zusätzliche Stelle bemühte: Es ging um 28 Stunden für eine interne Krankheitsvertretung und um die individuelle Förderung von Kindern. Selbst dieses Verlangen blieb unerfüllt. Immer und immer wieder habe sie vorausgesagt, wie die Bildungsschere in Stuttgart auf diese Weise auseinandergehen werde. Dass sie recht behalten sollte, schmerzt sie umso mehr, weil allzu viele spätestens seit der Ankunft der vielen Flüchtlinge 2015 "die Augen einfach verschlossen haben und die Entwicklung nicht sehen wollten".

Hamburg hatte sich da schon lange auf den Weg gemacht. An der Elbe hätte die Altenburgschule nicht eine, zwei oder drei Stellen mehr bekommen. In Hamburg hätte es bis zu 50 Prozent mehr Lehrkräfte gegeben, 50 Prozent mehr als an privilegierteren Standorten in Rotherbaum und Blankenese. In Stuttgart wäre das vergleichbar mit dem Killesberg. Ungleiches ungleich zu behandeln war eines der größten Versprechen von Grün-Schwarz nach der Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg. Festgeschrieben schon im vielzitierten Sondierungspapier der späteren Koalitionspartner ist, wie es im Wissenschaftler:innen-Deutsch heißt, die sozialindexbasierte Ressourcenverteilung. "Die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg rücken die Verhandlungsparteien ins Zentrum", wird in diesem Papier verkündet, die andere Verteilung von Lehrkräften sei eine "echte Innovation für mehr Bildungsgerechtigkeit".

Wenig Geld für Bildung im reichen Baden-Württemberg

Daraus wird vorerst nichts. Sang- und klanglos sind die Pläne eingesammelt worden, und die Erprobungsphase ist bis aufs Schuljahr 2026/2027 verlängert. Die offizielle Begründung ist absurd. Denn einerseits laufen Modelle bereits seit September an gut 30 Standorten in den Schulamtsbezirken Tübingen, Lörrach und Biberach, andererseits sollen vier Grundschuljahre lang Erfahrungen gesammelt werden. Die Phase würde 2025/2026 enden, also erst einige Monate nach der nächsten Landtagswahl. Dazu wird ohnehin nur verschleiert, woran es wirklich hakt: am Geld.

Für Baden-Württemberg hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) errechnet, dass 1.900 zusätzliche Stellen nötig wären, wollte die Landesregierung ihren eigenen Anspruch erfüllen. Zum einen wären aller Wahrscheinlichkeit nach so kurzfristig keine Lehrkräfte zu finden, weil viel zu wenige Studienplätze vorhanden sind – ebenfalls zu Einsparzwecken. Zum anderen würde die grün-schwarze Koalitionsspitze die notwendigen Mittel gar nicht herausrücken. Grüne und schwarze Entscheidungsträger:Innen hängen nämlich der These an, im Wesentlichen sei genug Geld da, bloß müsse es irgendwie besser verteilt werden. Das ist erst recht unzutreffend. Die Hansestadt steckt nach den Zahlen aus dem Statistischen Bundesamt durchschnittlich 12.600 Euro pro Kopf in Grundschüler:innen. Das reiche Baden-Württemberg liegt dagegen mit gut der Hälfte, nämlich 6.700 Euro am Tabellenende, wo der Länderdurchschnitt von 7.400 deutlich unterboten wird.

Das Ärgste kommt noch, wenn es ab 2026 den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab der ersten Klasse umzusetzen gilt. In Hamburg arbeiten schon heute alle Grundschulen im Ganztag und sind dementsprechend durchfinanziert. Strukturell besteht zugegeben der Vorteil, dass der Stadtstaat Stadt und Bundesland zugleich ist. Damit liegt die Schulträgerschaft in einer Hand. Entscheidungsprozesse sind schlanker, Landtagsabgeordnete und Gemeinderäte müssen nicht wegen divergierender Interessen in den Clinch gehen. So gesehen wird es im Südwesten aber erst recht kompliziert. Diesen Rechtsanspruch zu erfüllen, wird dieser und der nächsten baden-württembergischen Landesregierung sowie den Kommunen als Schulträgern größte Anstrengungen abverlangen.

Kein Schulfrieden in Sicht im Süden

Um den Nachholbedarf einzuordnen, reicht nicht mehr nur der Blick zurück, denn der zeitliche Vorlauf an der Waterkant ist inzwischen Teil der Geschichtsbücher. 2002 präsentierte die damalige rot-grüne Bundesregierung ihre Pläne für den Ausbau von Kitas, Krippen und Ganztagsschulen. "Wir wollen die Lufthoheit über den Kinderbetten erobern", erklärte SPD-Generalsekretär Olaf Scholz in erkennbar lockerer Gesprächssituation. Die von der Union geschürte Aufregung schlug immer neue Wellen. "Im Rückspiegel verblasst das auf der Ehe basierende Lebensideal der Mutter-Vater-Kind-Beziehung", jammerte damals die "Welt" und pochte darauf, dass "die Väter des Grundgesetzes in Artikel 6 Absatz 1 Ehe und Familie unter besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellten".

Dabei waren die bildungspolitischen Herausforderungen ganz andere und bereits belegt durch das Hamburger Vorgehen. Denn seit 1995, anfangs gegen den erheblichen Widerstand von Eltern und Lehrkräften, wurde in der Hansestadt getestet und der individuelle Lernstand erhoben. "Nirgendwo sonst wird mit so viel Hingabe gemessen und verglichen", beschrieb die "Zeit" kürzlich "den unsichtbaren Schatz", einen "gigantisch großen Datenbestand". 2011 wurde Olaf Scholz Erster Bürgermeister in Hamburg und mit ihm der Genosse Ties Rabe Schulsenator, der bis heute im Amt ist.

"Wir haben sehr viel Zeit verloren", sagt Katrin Steinhülb-Joos. Deshalb grämt sich die ehemalige Rektorin besonders darüber, dass jetzt noch einmal fünf Jahre verstreichen sollen. Stuttgart habe seit fast zwei Jahrzehnten ebenfalls einen Sozialdatenatlas. Auf Vergleichsarbeiten wie VERA 3 im zweiten Halbjahr der dritten Klasse oder VERA 8 könne zurückgegriffen werden. Vor vier Jahren war Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) zu Besuch in der Altenburgschule. Trotz aller Engpässe konnten ihr Schulleiterin und Kollegium von den vielen positiven Veränderungen berichten, seit sich die frühere Grund- und Haupt- zur Gemeinschaftsschule weiterentwickelt hat. Die Sozialdemokratin Steinhülb-Joos ist sicher, dass es den Absturz in den Bildungsrankings verhindert hätte, hätten sich auch die Schulen in Baden-Württemberg den "erfolgreichen Konzepten für längeres gemeinsamen Lernen und Lehren" angeschlossen. Da kommt der – im Süden bisher unkopierbare – nördliche Pragmatismus ins Spiel: Ein Schulfriede aller in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Fraktionen mit Ausnahme der AfD ist eben erst bis 2025 verlängert worden. In Baden-Württemberg hingegen werden immer aufs Neue die alten Schlachten geschlagen.

Reisen nützt wenig, wenn man nicht lernen will

Der Schulausschuss des Landtags will im Frühjahr wieder einmal verreisen und herausfinden, wie der Aufstieg gelingen kann. Schon 2007 kam der Finanzausschusses zu der Erkenntnis, dass Ganztagsschulen viel dazu beitragen können, den Schulerfolg von der Herkunft zu entkoppeln. In Lyon und London, in Mailand und Barcelona, in Aix-en-Provence, in Marseille und in Kiel – immer ging es über all die Jahre um den Umgang mit Heterogenität und um frühkindliche Bildung, um effizientes Fördern und den Spracherwerb. Natürlich waren auch CDU-Bildungspolitiker:innen beeindruckt von dem englischen Modellprojekt, Flüchtlingskinder völlig unabhängig vom Status ihrer Eltern ab dem ersten Tag so zu behandeln, als wären sie gekommen, um für immer zu bleiben. Und dann wurde daheim doch wieder über Zwangsdeutsch auf dem Schulhof diskutiert statt über zusätzliche ernsthafte Sprachunterstützung schon in der Kita. Alles Reisen bildet offensichtlich nicht so richtig, wenn vornehmlich Schwarze ihre betagten Ressentiments gegenüber dringend nötigen Reformen pflegen.

Bis die greifen, vergeht einer wissenschaftlichen Faustregel zufolge mindestens ein Jahrzehnt. Inzwischen trüben die Versäumnisse der Vergangenheit die Wahrnehmung früherer Reformer:innen. So meint Winfried Kretschmann, bekanntlich selbst Lehrer in einer ganz anderen Zeit, im hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund hierzulande den Grund für die anschwellende Misere gefunden zu haben. Der allerdings ist in Hamburg sogar leicht höher als an Rhein und Neckar.

In der Altenburgschule hat gerade ein "Elternabend mal anders" für die Vorbereitungsklasse stattgefunden. "Die setzt sich aus Schüler:innen zusammen, die aus unterschiedlichen Ländern wie der Ukraine, Afghanistan, Irak, Iran, Bosnien, Serbien, Vietnam, Ghana und Spanien nach Deutschland eingewandert sind", heißt es in der Einladung. Da seien interkulturelle Kompetenzen gefragt, Dolmetscher:innen und ein internationales, von den Eltern bestücktes Buffet. Kultusministerin Theresa Schopper hätte sicher ihre große Freude gehabt und vieles erfahren, vielleicht sogar Details, mit denen der Süden den Norden doch beeindrucken könnte.


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1 Kommentar verfügbar

  • EGuther
    am 07.12.2022
    Antworten
    Johanna Henkel Waidhofer hat wieder eine treffende Analyse und gute pragmatische Vorschläge abgeliefert. Vielen Dank!
    Was ist eigentlich aus der letzthin angekündigten Kabinettssitzung zum Thema Bildung geworden? In STN oder STZ und den angeschlossenen Lokalzeitungen wurde nix berichtet?
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 9 Stunden
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