KONTEXT:Wochenzeitung
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Versetzung gefährdet

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Die Zeit des Frontalunterrichts ist vorbei, jetzt hilft nur noch individuelle Förderung. Je länger Grün-Rot regiert, desto größer werden die hausgemachten Probleme ausgerechnet auf dem Feld der Bildungspolitik. Fehler reiht sich an Fehler.

Die SPD-Kultusministerin wurde von der eigenen Landtagsfraktion kalt abserviert. Ihr Nachfolger im Amt, Andreas Stoch, legt sich übermotiviert mit der Lehrerschaft an. Und der Pädagoge und grüne Ministerpräsident ist erfolglos mit seinen Disziplinierungsversuchen. Trotz mehrerer Klassenbucheinträge tanzen Winfried Kretschmann die sozialdemokratischen Bildungspolitiker auf der Nase herum.

Wo anfangen? Wo aufhören? Am besten im Auge des Taifuns. In einer Gemeinschaftsschule, dem Herzstück all der Reformbestrebungen, in Külsheim im Main-Tauber-Kreis. Rektor Joachim Uihlein ist Lehrer aus Leidenschaft. Jetzt geht der Pädagoge in Pension. Er wäre so gern jünger, um noch viel mehr mitzubekommen vom lang ersehnten Bildungsaufbruch in Baden-Württemberg. Seine Schule ist Vorreiterin bei der 2004 von CDU und FDP auf den Weg gebrachten Bildungsplanreform. Hier ist Zukunft Gegenwart. Zitate von Geistesgrößen schmücken die Wände. Programmatisch passend Antoine de Saint-Exupéry: "Jeder dürfte nur bis zu dem Punkte geführt werden, an dem er fähig ist, selber zu denken, selber zu lernen und selber zu arbeiten." Oder Heraklits Mahnung: "Bildung ist nicht das Befüllen von Fässern, sondern das Entzünden von Flammen." Daneben prangen Sprüche in Anlehnung an gängige Werbebotschaften, Namen regionaler Vordenker, es gibt ein spezielles Farbkonzept und Computer für alle Schüler – jede Menge Möglichkeiten.

Anregungen im Überfluss? Uihlein schüttelt den Kopf: "Es ist der Rahmen für individuelle Förderung." Aus Klassenräumen sind Lernateliers geworden. Die Kinder entscheiden selbst, welche Hilfen sie zur Lösung von Aufgaben brauchen. Ihre Lehrer mischen sich erst dann ein, wenn's nötig wird. Passé ist jedenfalls die Pädagogenrolle "Showmaster für die Meute" (Uihlein).

So stellen sich Grüne und Rote die Schulzukunft im Land vor. Der Ministerpräsident spricht von zwei Säulen: hie die Gemeinschaftsschule, da das Gymnasium. Sogar auf Peter Hauk sprang der Funke über.

CDU agitiert gegen die "sozialistische Einheitsschule"

Als die wenig später geschasste Kultusministerin Gabriele Warminski-Leutheußer den CDU-Fraktionschef im Spätherbst 2012 zum Besuch einiger Gemeinschaftsschulen anstiftete, da musste der unermüdliche Agitator gegen die "sozialistische Einheitsschule" sichtlich beeindruckt Engagement und Zustimmung von Eltern, Kindern und Lehrkräften anerkennen. Geholfen hat es nichts, der glücklosen Sozialdemokratin so wenig wie Hauk. Zurück in der noch nicht durchgelüfteten CDU-Welt des Landtags verdrängte er seine besseren Einsichten umgehend.

Kaum im Amt, hatte die neue Landesregierung zügig begonnen, viele Versprechungen aus dem Wahlkampf einzulösen. Zu viele, sagt Winfried Kretschmann inzwischen. Zugleich mag er sich nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, hätte man nach Amtsantritt erst einmal eine Denkpause eingelegt und die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung und der Studiengebühren, die Einführung der Gemeinschaftsschule, den Pakt mit den Kommunen zur Kleinkindbetreuung oder die Neubeatmung des neunjährigen Gymnasiums auf die lange Bank geschoben. Die Enttäuschung der Anhänger wäre groß gewesen, die Häme der Gegner auch.

Inzwischen ist es genau so gekommen. Doro Moritz, die GEW-Landesvorsitzende, unterstützt den Bildungsaufbruch, die Gemeinschaftsschule sowieso. Sie sieht sogar die Notwendigkeit von Stellenstreichungen ein. Jedoch kam der grün-rote Koalitionsvertrag der gelernten Lehrerin vor wie ein Kursbuch "ins bildungspolitische Schlaraffenland". In ihre Freude über den Regierungswechsel mischte sich jedoch schnell Skepsis. Hartnäckig empfiehlt sie eine Gewichtung der vielen ehrgeizigen Pläne, warnt vor zu vielen Baustellen. Beachtung findet dies kaum.

Vor einem Jahr hat der Rechungshof ins selbe Horn gestoßen und eine für die Landesregierung unheilvolle Lawine ausgelöst. Es müsse Klarheit über die bildungspolitischen Pläne und Prioritäten geschaffen werden, damit der Landtag "auf einer klaren Informationsbasis" über Stellen entscheiden könne, fordert die Denkschrift 2012 der obersten Prüfer im Land. In seiner Stellungnahme teilt das Kultusministerium mit, "für eine Übergangszeit weiterhin ein Drittel der demografischen Rendite im System belassen zu wollen". Zu Deutsch: Nur jede dritte Stelle, die infolge des drastischen Rückgangs der Schülerzahlen rein rechnerisch frei würde, soll erhalten bleiben.

Neulich bei der Regierungspressekonferenz. Vor Medienvertretern erläutert der Ministerpräsident Sparvorschläge. Etwa die Streichung jener 3500 Stellen, die CDU und FDP zwar geschaffen, aber nicht stabil finanziert haben. Findige Journalisten rechnen noch während der laufenden Pressekonferenz zusammen. Seither befeuert die Zahl 11 600 die Debatte über wegfallende Stellen. Und die SPD strickt an der Legende, Kretschmann habe ihr im Alleingang ein bildungspolitisches Ei gelegt, was wiederum ihre eigenen Alleingänge rechtfertigt.

Überhaupt die SPD. Ihre Bildungspolitiker, die mit dem Aufbruch in eine neue Schulära die Grünen bei der nächsten Landtagswahl übertrumpfen wollen, finden keinen Draht zu den Lehrervertretern. Vereinzelte Gespräche, immer wieder Missverständnisse, kein stabiler Austausch, keine Verlässlichkeit. Es fehlt das Interesse der Handelnden am Diskurs mit Experten. Ein Beispiel von vielen: Im Sommer 2012 analysiert der renommierte Essener Bildungswissenschaftler Klaus Klemm die demografische Rendite im Detail und schlussfolgert aufgrund der Versprechungen im grün-roten Koalitionsvertrag, dass nur einige wenige Hundert Stellen tatsächlich überflüssig würden. Wieder sucht niemand den Kontakt. Auch ein Jahr später fehlen strategische Planungen oder wenigstens die Eckpfeiler eines tragfähigen Konzepts, um den Rotstift möglichst unschädlich anzusetzen.

SPD-Fraktionschef tituliert Lehrer als "Heulsusen"

Die Strategie hat etwas Masochistisches, denn naturgemäß trifft der anschwellende Ärger in der Lehrerschaft, in den Verbänden und vor allem in der GEW besonders die SPD. Speziell Fraktionschef Claus Schmiedel, früher selber Lehrer, macht sich unbeliebt. Als "Heulsusen" tituliert er Ende Mai Lehrerverbandsvertreter und unterstellt ihnen, "nicht davor zurückzuschrecken, Eltern bewusst zu verunsichern". Zugleich verabschiedet sich Schmiedel gern im Alleingang von alten Vorhaben oder bringt neue ins Spiel. Sogar der Vorsitzende der erst kürzlich gegründeten parteiinternen SPD-Arbeitsgemeinschaft für Bildung, der Landtagsabgeordnete Gerhard Kleinböck, erfährt so manches erst aus der Zeitung und befindet sich damit in bester Gesellschaft: Der Koalitionspartner und nicht zuletzt der Regierungschef bleiben ebenfalls uninformiert, wenn Schmiedel zum U-Turn ansetzt, so etwa zum unvermittelten Schulterschluss mit den "Heulsusen" vom Philologenverband. Die sind gegen die Radikalreform der Lehrerbildung, wie sie eine von der Landesregierung eingesetzte Kommission empfohlen hat. Weil aber die Grünen dafür sind, ist Schmiedel reflexartig dagegen und an der Seite der Beamten. Der Ministerpräsident gerät in Rage, droht mit Nachsitzen und einem permanent tagenden Koalitionsausschuss, in dem alles, was das Licht der Öffentlichkeit erblicken soll, vorher auf den Tisch muss. Und wieder findet Kretschmann so recht kein Mittel für ein konstruktives Miteinander, gegen die Sabotagestrategie der Genossen: Wenn ein Erfolg auch den Grünen – in diesem Fall Wissenschaftsministerin Theresia Bauer – zugerechnet werden könnte, dann lieber gar kein Erfolg.

Dabei gilt es noch jede Menge Versprechungen gemeinsam abzuarbeiten. 15 Seiten stark ist das erste Kapitel im Koalitionsvertrag, der Bildung als "die große soziale Frage unserer Zeit" beschreibt, als "Schlüssel zu einer freien, selbstverantwortlichen Lebensgestaltung, zur Sicherung der materiellen Existenz aus eigener Kraft und zur gesellschaftlichen Teilhabe". Konkret sollen in gut zwei Jahren der Orientierungsplan für Kinderkippen und -tagesstätten verbindlich sein, die Sprachförderung ausgebaut, die Ganztagsschule im Gesetz verankert, an Grundschulen schrittweise eine heil- und sonderpädagogische Grundausstattung eingeführt, die Inklusion umgesetzt, der Ethikunterricht auf den Weg gebracht, die kulturellen und sportlichen Angebote ausgebaut, die berufliche Bildung gestärkt und die Lehrerausbildung reformiert werden, und, und, und.

Viele Projekte wegen Geldmangels auf der langen Bank 

Allesamt teure Unterfangen, vieles wird –  angesichts der Schuldenbremse – gestreckt oder aufgeschoben werden. Schon deshalb wäre Verständigung mit den Akteuren besonders wichtig. Stattdessen vergrätzt der Kultusminister die Lehrerschaft mit einem Ruf nach verpflichtenden Betriebspraktika außerhalb der Arbeitzeit in einer an Gerhard Mayer-Vorfelders Glanzzeiten erinnernden Rambo-Manier. Wohlmeinende beklagen die Praxisferne des Juristen ohne bildungspolitische Erfahrung – schließlich gibt es Hunderte von Schulkooperationen mit Mittelständlern vor Ort. Schulfirmen, von Schülern und Lehrern gemeinsam gegründet, arbeiten erfolgreich und vermittelneben jenes erwünschten Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge. Kleinböck hätte vorgeschlagen, wäre er gefragt worden, der Berufsberatungskompetenz in der Lehrerausbildung einen höheren Stellenwert einzuräumen. Selbst Genossen ärgert aber vor allem, dass Stoch den Stammtisch samt der dort noch immer zementierten Faulenzer-Vorurteile gegen eine ganze Berufsgruppe bedient wie keine seiner vier Vorgängerinnen. Denn die schlugen –  parteiunabhängig – einen Ton an, der das Ansehen der Pädagogen in der Gesellschaft heben sollte, statt es fahrlässig zu unterminieren. Gäbe es für Minister die guten alten Kopfnoten, hätte der Kultusminister in Betragen beste Aussichten auf mangelhaft. Auch ihn will sich Kretschmann jetzt zur Brust nehmen. Denn dem Grünen ist nur zu bewusst, dass "Gegenwind in der Bildungspolitik die Macht kosten kann".

Weshalb Uihlein und die anderen gut 120 Gemeinschaftsschul-Rektoren besonders genau im Blick haben, wie zentrale Reformen in immer schwereres Wasser geraten. Sie sind überzeugt vom längeren gemeinsamen Lernen, hoffen inständig, dass das Rad nie mehr zurückgedreht wird. Weil "wir jetzt die Potenziale, die in den Kinder stecken, ganz anders heben können", wie Rudi Kammerer, Schulleiter in Kupferzell, sagt. 40 Lehrerjahre hat er hinter sich und noch nie so viel an "konzentrierter, selbstständiger Arbeit, an Freunde und Zielstrebigkeit erlebt, mit der Kinder Aufgaben in unglaublicher Ruhe lösen". Auch Doro Moritz möchte ein Missverständnis ganz bestimmt nicht aufkommen lassen: Bei aller Kritik am Tohuwabohu will sie keinesfalls demnächst den neuerlichen Machtwechsel. Von CDU und FDP gebe es weiterhin überhaupt kein Konzept zum Thema sozialer Aufstieg durch Bildung. Die Gewerkschafterin wünscht Grün-Rot eine weitere Legislaturperiode, im Wissen, wie viel Förderunterricht noch nötig sein wird. Stoch könnte den Anfang machen. Am besten mit einem Schulpraktikum. Bis Ferienbeginn bleibt noch eine Woche.


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2 Kommentare verfügbar

  • Susanne
    am 20.07.2013
    Antworten
    " Gäbe es für Minister die guten alten Kopfnoten, hätte der Kultusminister in Betragen beste Aussichten auf mangelhaft. "
    Zur Info: Die Kopfnoten gibt es noch - ab Klasse 7. In Betragen gibt es allerdings kein ´mangelhaft´, sondern nur ´sehr gut´, ´gut´, ´befriedigend´oder ´unbefriedigend´.
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