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Gewalt in der Region

Kein Bock. Männlich. Jung.

Gewalt in der Region: Kein Bock. Männlich. Jung.
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Die Schüsse der vergangenen Monate rund um Stuttgart gehen von männlichen Gruppen aus. Wie diese strukturiert sind und warum die Waffen bei ihnen so locker sitzen, kann die Polizei nicht fassen. Der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer sieht eine noch nie dagewesene "Krise der Männer".

Der Handgranatenangriff auf eine große Trauergemeinde in Altbach im Kreis Esslingen war der spektakulärste Fall. Doch schon seit September vorigen Jahres fallen in der Region Stuttgart immer wieder Schüsse, ein Mann wurde erschossen. In Altbach wurden zehn Trauergäste verletzt, ein Zufall, dass der Täter die Handgranate gegen einen Baum warf. Bei genauerem Zielen hätte es 100 Tote geben können.

Dass hinter den Attentaten zwei große männliche Gruppen stehen, weiß die Polizei. Doch warum die sich bekriegen, wie sie strukturiert sind, das scheint ihr ein Rätsel zu sein. Die Mitglieder sind zwischen 16 und 26 Jahre alt, schreibt das Landeskriminalamt, gewaltbereit, multiethnisch, auch Deutsche mit Migrationshintergrund seien dabei. Toxische Männlichkeit und Ehre spielten eine Rolle. Was die Ermittlungsarbeit schwierig macht, sei, dass es offenbar keinen klaren Boss gibt – ein großer Unterschied zu früheren Banden wie Black Jackets und Red Legions. Die jungen Männer hätten ihre Treffpunkte, kommunizierten über Social Media und teilen sich in zwei Regionen auf: Stuttgart-Zuffenhausen und Göppingen sowie rund um Ludwigsburg, Plochingen, Esslingen.

Zwischen Esslingen und Plochingen liegt das 6.000-Einwohner-Dorf Altbach. Hier wurde am 9. Juni ein 20 Jahre junger Mann beerdigt, der in Plochingen von einem Zug überrollt worden war. Franky nannten ihn seine Freunde, für seine Beerdigung sammelten sie über Social Media Geld und riefen dazu auf, zur Beerdigung zu kommen. So fand sich mit 400 Menschen eine ungewöhnlich große Trauergemeinde zusammen. "Da waren ziemlich viele junge Männer, schwarzer Anzug, weißes Hemd, weiße Rose in der Hand", erzählt ein Rentner wenige Tage später auf der Friedhofsbank, wo er auf seinem Heimweg erstmal verschnaufen muss. Und es hätten mehrere Lamborghinis am Friedhof geparkt, aber mehr wisse er auch nicht.

"Wir waren auf der Beerdigung, das war ja unser Nachbar", erzählen mehrere Jungs, die vor dem Jugendhaus am Rande von Altbach abhängen. Die etwa 15- bis 18-Jährigen zeigen auf die gegenüberliegende kleine Wohnblocksiedlung. "Das war ein netter Typ. Immer fröhlich." Und wie war das mit dem Attentat auf der Beerdigung? Ratlose Blicke. "Ja, krass." Aber so sei das eben. Einer der Jungs, ein eher stämmiger Typ, zuckt mit den Schultern. Kriminalität gebe es doch überall. Der nächste wirft ein: "Am Ende bestimmt Allah, was passiert." Seine Kumpel gucken so mittel überzeugt. Kennen sie denn Leute aus diesen verfeindeten Gruppen? Einer hebt an, zu reden, sein Nachbar legt ihm die Hand auf die Schulter: "Sag jetzt nichts." Ein paar Jungs grinsen breit. "Nö. Davon wissen wir nichts", heißt es schließlich. Bevor sie wegtraben, ruft einer: "Ich schreib mal ein Buch darüber." Interessant. Wann kommt's denn raus? Er wiegt den Kopf. "So in zwei Jahren. Ich brauch' nicht 40 Jahre wie Goethe für seinen Faust." Ein triumphierendes Lächeln zieht über sein schmales Gesicht.

Pfeiffer: Jungs sind die Bildungsverlierer

Wie Jugendliche ihr Leben sehen und verbringen, untersucht seit 23 Jahren Christian Pfeiffer, langjähriger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Alle zwei Jahre befragen die Forscher:innen mindestens 8.000 Neuntklässler:innen, im kommenden November steht die dritte Befragung an.

Aus den bisherigen Ergebnissen hat Pfeiffer einen deutlichen Leistungsabfall bei Jungs festgestellt: weniger Gymnasiasten, mehr Förderschüler, mehr Prüfungsverlierer. Umgekehrt holen die Mädchen auf. "Wir haben eine Leistungskrise beim männlichen Nachwuchs", sagt Pfeiffer gegenüber Kontext. Die Ursache meint er gefunden zu haben: Computerspiele. Jeder vierte männliche Jugendliche in Niedersachsen verbringe damit viereinhalb Stunden am Tag, erklärt er, bei den Mädchen seien es nur zwei Prozent. Was ist zu tun? "Schulen müssen nicht nur Wissen vermitteln", sondern die "Lust auf Leben" wecken.

Dass Jungs, die keinen Bock auf Bildung und Leistung haben, in kriminelle Kreise abrutschen, kann Pfeiffer sich gut vorstellen: "Wer irgendwann begreift, dass er sich selbst den Weg in eine normale bürgerliche Karriere verbaut hat, aber keine Lust auf Taxifahren hat, lässt sich eher auf Kumpels ein, die verbotene Dinge tun." Wie im Computerspiel reizten dabei Gruppenzugehörigkeit und Anerkennung. Die lockeren Strukturen passten gut zu "Aktionskünstlern, die sich hier und da einbringen".

Verschärft habe sich die Lage zudem durch Corona. Neben vermehrt auftretenden depressiven Symptomen hätten sich die sozialen Ungleichheiten verschärft und es gäbe einen enormen Schulfrust. Zu viele männliche Jugendliche seien "gefährlich aktionsbereit", sagt Pfeiffer. Um unter anderem zu erforschen, wie stark Gewalt unter Jugendlichen verbreitet ist, werden Pfeiffer und sein Team im November wieder 8.000 Neuntklässler befragen. Aus Niedersachsen und gerne aus Baden-Württemberg, sagt der Kriminologe. Er hat bereits brieflich bei Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) angefragt. Finanziert sei die Forschung bereits.

Mehr Prügeleien an Bahnhöfen

Steigende kriminelle Aktivitäten beobachtet die Sozialarbeiterin Magdalena Kugler bei ihren Jugendlichen nicht. Seit viereinhalb Jahren arbeitet sie im Jugendhaus Altbach. "Klar hatten unsere Jugendlichen schon Berührungen mit der Polizei, gerade unter Corona. Die haben sich ja trotzdem getroffen, obwohl das verboten war." Von schlimmeren Dingen habe sie nichts gehört. Corona habe die Jugendlichen schwer belastet. "Da fehlte denen der Plan, ein Rahmen." Und sie habe den Eindruck, dass mancher fauler geworden sei. "Im digitalen Unterricht den Laptop auszuschalten, kostet weniger Überwindung, als die Schule zu schwänzen."

Schweden hat ein Gewaltproblem

Ein Problem mit gewaltbereiten Gruppen junger Männer hat Schweden schon seit Jahren. Los ging die Gewalt 2005 in Vierteln, in denen vor allem Einwanderer:innen leben. Mittlerweile fällt auf, dass die Tatverdächtigen (die Aufklärungsquote liegt bei 25 Prozent) immer jünger werden, sagt Diamant Salihu. Der renommierte schwedische Journalist beschäftigt sich seit Jahren mit der dortigen Bandenkriminalität und sagte Anfang des Jahres in einer SWR2-Sendung: "Das große Problem mit den Schießereien hier ist, dass es sich um unorganisierte, junge Männer handelt, die in der gleichen Gegend aufgewachsen sind. Sie begehen Straftaten gemeinsam mit ihren engen Freunden, vor allem aus derselben Gegend. Und dann bilden sie natürlich Netzwerke über ganz Schweden." Im vorigen Jahr zählte das Land 391 Schusswechsel mit 61 Toten, darunter auch unbeteiligte Kinder.

Der schwedische Beirat für Kriminalitätsverhütung sieht auch sozio-ökonomische Ursachen für die Gewalt. Viele der jungen Männer seien in Schweden geboren, aber schlecht integriert und in Armut, Schulversagen und Arbeitslosigkeit gefangen. Seit 2015 hat das Land seine liberale Einwanderungspolitik strikt geändert, es gibt deutlich weniger Geld für Bildung und Soziales. Kitas und Jugendtreffs gerade in ärmeren Gebieten wurden geschlossen, es haben sich Ghettos und – oft muslimische – Parallelgesellschaften gebildet. (lee)

Rund 30 Mädchen und Jungs kämen laut der Sozialarbeiterin regelmäßig in den Jugendtreff, alle mit Migrationshintergrund. "Alle Altbacher Jugendlichen erreichen wir natürlich nicht," sagt Kugler. "Aber die, die kommen, brauchen diesen Treff und die Vereine."

Dass es wenig hilfreich ist, wenn diese Strukturen weggespart werden, ist in Schweden zu beobachten. Dort werden aktuell mehr als 60 "vulnerable Gebiete" ausgewiesen, sozial benachteiligte Stadtteile, in denen die Kriminalität, auch durch junge männliche Banden, besonders hoch ist.

Träger des Jugendhauses ist der Kreisjugendring (KJR) Esslingen. Dessen Sozialarbeiter:innen ist vor einigen Monaten aufgefallen, dass Gewalt zunimmt, vor allem gebe es mehr Prügeleien. Nicht in den Jugendhäusern, aber an Bahnhöfen, sagt Ralph Rieck, Geschäftsführer des KJR. Hotspots seien Wendlingen, Nürtingen, auch Plochingen wäre schwierig. Das bedeute nicht, dass es sich um Wendlinger, Nürtinger oder Plochinger Jugendliche handle. "Die sind ja sehr mobil", sagt Rieck und erinnert an die sogenannte Stuttgarter Krawallnacht, bei der sich herausstellte, dass 70 Prozent keine Stuttgarter:innen waren.

Die Polizei weiß wenig

In Plochingen, gleich gegenüber dem Bahnhof, liegt das "Medellin", eine Shisha-Bar. In der Nacht auf den 2. April verfolgten sich auf der Straße davor offenbar rivalisierende Bandenmitglieder. Aus einem Auto heraus wurde geschossen, der Wirt verletzt. Der etwa 50-Jährige, mächtig wirkende Mann sitzt an diesem späten Nachmittag fast alleine in seiner Bar, die Wasserpfeife in der linken. Ihm gehe es wieder gut, sagt er. Er sei halt zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Die hätten seine Scheibe getroffen und da habe er etwas abbekommen. Nein, von rivalisierenden Gruppen wisse er nichts. Allerdings findet er, "dass die Polizei sich hier ruhig öfter blicken lassen könnte". Das Revier in Plochingen macht allerdings um 20 Uhr Feierabend.

Wer dort arbeitet, gehört zum Polizeipräsidium (PP) Reutlingen. Das ermittelt derzeit auf Hochtouren, genauso wie das PP Stuttgart und das PP Ulm, das Landeskriminalamt koordiniert. Nach Schüssen in Asperg in der Nacht zum 8. April, die einen 18-Jährigen töteten, gab es zahlreiche Razzien in Stuttgart, in den Kreisen Esslingen, Göppingen und Ludwigsburg sowie in Ulm, relativ schnell wurden fünf Tatverdächtige festgenommen – fast alle waren polizeibekannt. Es habe sich um einen "lokalen Konflikt" gehandelt, hieß es da noch von der Polizei. Ende Mai erklärten LKA und Staatsanwaltschaft, die Schussserie sei erst mal gestoppt.

Strobl weiß mehr als die Ermittler

Dann passierte das Handgranaten-Attentat in Altbach. Der Ablauf ist bekannt: Ein 24-jähriger Iraner warf die Granate, ein größerer Trupp der Trauergäste setzte dem mutmaßlichen Attentäter nach und prügelte ihn krankenhausreif. Die Polizei hatte über die sozialen Medien mitbekommen, dass in Altbach eine ganze Reihe ihr wohlbekannter Männer zusammenkommen würde, ein Polizist war deswegen am Friedhof, eine weitere Handvoll wartete am Rande des Dorfes. Eingestellt waren die Beamt:innen auf Beobachtung, nicht auf Gewalt.

Schüsse in der Region

5. September 2022, Esslingen-Mettingen: Schießerei, vier Festnahmen, der Gerichtsprozess hat begonnen.

15. Februar 2023, Ostfildern-Nellingen: Schüsse in einer Shisha-Bar.

24. Februar, Eislingen: Schüsse in einer Shisha-Bar, eine 21-Jährige wird schwer verletzt.

25. Februar, Plochingen: Schuss auf einen Wirt, der offenbar Einbrecher überraschte, die den benachbarten Friseurladen überfielen.

25. Februar, Reichenbach/Fils: Einschüsse am Fenster eines Barbershops.

17. März, Stuttgart-Zuffenhausen: eine Person durch Schüsse verletzt.

2. April, Plochingen: Schüsse vor der Shisha-Bar "Medellin" in Plochingen, der Wirt wird leicht verletzt.

8. April, Asperg: rund 20 Schüsse aus einem Auto heraus auf eine Gruppe junger Leute, ein 18-Jähriger stirbt, ein weiterer 18-Jähriger wurde schwer verletzt.

9. Juni, Altbach: Handgranaten-Anschlag auf eine Trauergemeinde, zehn Menschen werden leicht verletzt, der 23-jährige Tatverdächtige wird von Trauergästen krankenhausreif geprügelt. (lee)

Die Aufregung war groß, der Innenausschuss des baden-württembergischen Landtags hielt eine nicht öffentliche Sondersitzung ab, anschließend sprach Innenminister Thomas Strobl (CDU) gegenüber dem SWR von Ermittlungserfolgen und erklärte: "Wir haben in Baden-Württemberg keine vergleichbaren Clanstrukturen oder Strukturen der Organisierten Kriminalität, wie es sie in anderen Ländern gibt." Da ist das LKA vorsichtiger. "Ob die möglichen Straftaten der Clan- oder der Organisierten Kriminalität unterfallen, stellt sich als Bewertungsfrage dar, die erst mit Abschluss der Ermittlungen beantwortet werden kann", antwortet die Pressestelle auf eine Kontext-Anfrage.

Auch Sascha Binder, der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag,  ist skeptisch. Clan- oder Organisierte Kriminalität auszuschließen, gehe nicht, solange nicht mehr bekannt sei, sagt er. Die SPD fordert vom Innenminister einen Sonderlagebericht, um mehr zu erfahren: Wie sind die Täter an Kriegswaffen und überhaupt an Waffen gekommen, wie sehen die personellen Verbindungen aus? Allerdings gibt es auf einen Sonderbericht kein Recht, und von den Regierungsparteien CDU und Grüne kam noch keine ähnliche Forderung.

Wie sich die Gangkriminalität entwickelt, dürfte von den Fahndungserfolgen abhängen. Derzeit jedenfalls geht der Sprecher des LKA Baden-Württemberg davon aus, dass das Ende der Gewalt noch nicht erreicht ist.


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1 Kommentar verfügbar

  • Veteran
    am 05.07.2023
    Antworten
    Sehr interessanter Artikel, aber "es hätte 100 Tote genen können"? Durch eine Handgranate? Sorry, hab bei der Bundeswehr Handgtanaten geworfen: da hat die Autorin zu viele Actionfilme geschaut...
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