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Nopper im Innenausschuss

Phrasen statt Handeln

Nopper im Innenausschuss: Phrasen statt Handeln
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Überforderung wäre noch die freundlichste Erklärung für das seltsame Vorgehen von Stadt und Polizei vor und während der "Querdenker"-Demos vom Karsamstag. "Hinterher ist man immer schlauer", behauptet Stuttgarts neuer Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) – und beweist wortreich genau das Gegenteil.

Verantwortliche von Stadt und Polizei waren vor den Innenausschuss des Landtags geladen worden. Keiner konnte plausibel erklären, warum nicht wenigstens versucht wurde, die Veranstaltung zu verbieten. Mehr als drei Stunden nahmen sich die ParlamentarierInnen Zeit. Nicht nur Sozialdemokraten, auch Grüne fragen derart scharf nach, dass Letztere in der TV-Berichterstattung fälschlicherweise der Kategorie "Opposition" zugeordnet werden. Wie heikel die CDU die Lage einschätzt, lässt Innenminister Thomas Strobl erkennen. Der schwänzte schon wichtige Sitzungen oder Anhörungen im Landtag und ließ sich vertreten, etwa zu den umstrittenen Novellen des Polizeigesetzes. Am Montag hingegen war sein Haus prominent präsent, mit Minister, dem scheidenden Staatssekretär Wilfried Klenk und Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz. Zur Erhellung der Vorgeschichte und der Entscheidungsfindung vor dem Durchwinken der umstrittenen Demos wollen sie allerdings Neues kaum beitragen. Und der OB paraphrasiert mit Verve, was ohnehin seit einer Woche auf der Internet-Seite der Stadt zu lesen ist. Die Losung bleibt immer die Gleiche: "Wir haben nichts falsch gemacht."

Die nackten Zahlen sprechen eine andere Sprache, denn angemeldet waren von "Querdenken"-Gründer Michael Ballweg 2.500 Teilnehmer an mehreren Orten und zur Abschlusskundgebung am Cannstatter Wasen. Dort allerdings kamen tatsächlich 15.000 Menschen zusammen, und am Marienplatz, wo es 300 sein sollten, wurden circa 5.000 geschätzt. Er könne nicht verstehen, so der frühere FDP-Justizminister Ulrich Goll lakonisch, warum die Veranstaltungen durch Auflagen nicht so organisiert worden seien, dass "die Polizei eingreifen, Teile der Demonstration auseinandertreiben und damit in überschaubaren Verhältnissen halten kann".

Fragen über Fragen und wenig Interesse der Gäste, Licht ins Dunkel zu bringen, zu den Entscheidungsgrundlagen, etwa in welcher Zusammensetzung beraten, wie die Bedeutung des Infektionsschutzgesetzes bewertet wurde oder was eigentlich konkret mit dem schriftlichen Hinweis zu den Verbotsmöglichkeiten aus dem Sozialministerium geschehen ist. Nopper stellt sich vielmehr als jemand dar, der an einer Aufarbeitung gar nicht interessiert ist – nach seiner und Henry Fords Devise "Suche nicht nach Fehlern, sondern nach Lösungen". Wenn das wirklich die neue Maxime des Handelns im Rathaus ist, wird die Stadt noch so manches blaue Wunder erleben dürfen.

Sechs Wochen ohne Erkenntnisse

Richtig jedenfalls war Henry Fords platter Spruch noch nie, vermutlich ist er dem Nachfolger von Fritz Kuhn auch deshalb nach der Krawallnacht im Juni 2020 nicht über die Lippen gekommen. Jetzt aber, da Stuttgart es seit Tagen und sogar nach der Innenausschuss-Sitzung in die Prime-Time-Nachrichten schafft, soll eine genauere Analyse der Vorkommnisse plötzlich nicht mehr relevant sein. Dabei müsste sie sogar noch länger als bisher vermutet zurückreichen. Denn eines der wenigen neuen Details, die im Landtag offenbart wurden, ist, dass die Pläne der Corona-LeugnerInnen für ein Treffen am Karsamstag in Stuttgart schon seit dem 18. Februar bekannt waren.

Mehr als sechs Wochen wäre also Zeit gewesen, um beispielsweise Informationen über den inzwischen republikweit berüchtigten Veranstalter Michael Ballweg einzuholen und sich überhaupt eine taugliche Strategie auszudenken, um die verstörenden Bilder von so vielen Demonstrierenden ohne Maske und Abstand zu verhindern. Einsatzleiter Carsten Höfler hat jedenfalls gar kein Problem damit, zu bekennen, dass brauchbare Hinweise zur zu erwartenden Zahl der Teilnehmenden vorab nicht zu beschaffen waren. Und irgendwie ist er noch stolz darauf, weil es "unseriös wäre, sich im Voraus festzulegen". Nopper sekundiert: "Eine Prognose ist eben nur eine Prognose." Außerdem will er glauben machen, dass die Stadt nicht "von derart massiven Verstößen gegen Corona-Auflagen" ausgegangen sei. Es wäre eine vertrauensbildende Maßnahme, die Gründe dafür zu erläutern. Fehlanzeige. Also Desinteresse? Oder Mutlosigkeit? Oder gar Ignoranz?

Auf jeden Fall Überforderung: Der mindestens ebenso unglücklich wie der OB agierende Ordnungsbürgermeister Clemens Maier präsentiert dem Ausschuss noch einmal Auszüge der Auflagen: Maskentragen war vorgeschrieben, ferner ein Abstand von eineinhalb Metern – am Wasen sogar per Markierung festgelegt –, der Abmarsch war überhaupt nur in Kleingruppen von maximal fünf Personen aus zwei Haushalten erlaubt, pro 25 Teilnehmenden musste ein Ordner gestellt werden. Kein Wort dazu, wer eigentlich auf die Einhaltung solcher Vorgaben achten sollte. "Bei 15.000 Menschen wären das 600 Ordner gewesen", kommt Sckerl einmal mehr aus dem Staunen nicht heraus. Ebenso bei Höflers Aussage, dass die "Tausenden von normalen Menschen uns auf Grund des äußeren Erscheinungsbildes" keine Möglichkeit gegeben hätten, bereits im Vorfeld zu kontrollieren. Da will auch Binder wissen, warum die ebenso massenhafte wie unerlaubte Maskenverweigerung nicht Maßstab und Anlass schon für ein frühes und damit rechtzeitiges Einschreiten war.

Am Ende sind die Rollen verteilt: SPD und Grüne ziemlich baff angesichts der Auskünfte und Einlassungen, die CDU-Abgeordneten dagegen zufrieden. Siegfried Lorek, Polizeirat a.D., bekommt sogar einsamen Applaus von seiner Parteifreundin Isabel Huber für seinen Dank an die Einsatzkräfte, weil die angesichts der Lage auf dem Wasen "absolut richtig gehandelt haben". Der OB wiederum wirbt noch einmal für "Geschlossenheit und Entschlossenheit von Stadt und Land", und zwar als "das Gebot der Stunde".

Nur mal angenommen, eine links-grüne Mehrheit hätte sich im vergangenen Herbst im Gemeinderat über das Vorschlagsrecht der Freien Wähler hinweggesetzt, und statt Maier wäre Christoph Ozasek von der Linken Ordnungsbürgermeister in der Landeshauptstadt geworden. Und Seebrücke- oder KlimaaktivistInnen hätten vorsätzlich Maskenpflicht und Abstandsregeln auf einer Demo ignoriert (was sie noch nie getan haben), und die Neckarmetropole hätte es so in die Abendnachrichten von ARD und ZDF geschafft. Wenig Fantasie gehört dazu, sich die anhaltende Empörung von CDU und/oder Freien Wählern vorzustellen. Was wiederum zusätzlich den Blick auf diesen Karsamstag 2021 schärft und darauf, wie Stadt und Polizei ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind. Und wie sie realitätsverweigernd nicht dazu stehen wollen.


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19 Kommentare verfügbar

  • tomas zerolo
    am 19.04.2021
    Antworten
    "Tausenden von normalen Menschen [...]"

    Aha, Herr Höfler. Und wie sehen für Sie "nicht normale" Menschen aus? Nafris? Schwarz gekleidete?

    Da sieht man, wie ich meine, eine scharfe Kante eines strukturellen Problems rausgucken.
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