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"Querdenken" in Stuttgart

Des Wahnsinns fette Beute

"Querdenken" in Stuttgart: Des Wahnsinns fette Beute
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Polizisten scherzen munter mit Rechtsradikalen, 15.000 Hygieneverweigerer dürfen ungestört gruppenkuscheln und der Ordnungsbürgermeister findet, die Stadt habe das Beste aus der Situation gemacht. In welcher Welt leben die eigentlich?

Achtung, Achtung, Samstagabend, Stuttgarter Schlossplatz: Die Polizei kontrolliert ein paar kleine Personengrüppchen. Ein Trio von Jugendlichen, die aus mehr als zwei Haushalten zusammengekommen sind, reagiert etwas ungehalten: Ob die Beamten das denn ernst meinen, wollen sie wissen. Nachdem den Tag über um die 15.000 "Querdenken"-Fans durch die Stadt getollt sind, ohne sich einen Dreck um Hygiene und Infektionsschutz zu scheren. Keine Sorge, versichert ein Ordnungshüter, die Verstöße würden im Nachhinein geahndet.

"FLUTET DIE STADTMITTE ÜBERALL", "WIR werden ALLE DA SEIN" und zwar "VÖLLIG EGAL, ob die Stadt die Demos in STUTTGART genehmigen oder nicht!" So steht es vor dem Auflauf am 3. April in einer Chat-Gruppe von "Querdenken Ludwigsburg", die hier exemplarisch für die bundesweite Mobilisierung stehen soll. Aus unzähligen Wortbeiträgen, die vollmundig ankündigten, dass sich mutige Widerstandskämpfer keinen Maulkorb – sprich: einen Mund-Nase-Schutz – aufzwingen lassen würden, ist unschwer zu folgern, dass sich die Bereitschaft zum Maskentragen in Grenzen halten wird.

Auch die "Stuttgarter Zeitung" hat "viele Stimmen" registriert, "die vorher gewarnt haben, dass die Maßnahmen mutmaßlich nicht eingehalten würden". Und was sagt der neue Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) dazu? "Ja, ohne konkrete Anhaltspunkte erst ganz kurz vor der Versammlung." Zudem habe sich "Querdenken"-Initiator und Demo-Anmelder Michael Ballweg in der Vergangenheit "weitgehend an die Auflagen gehalten". Spätestens hier ist nun der Punkt erreicht, an dem man sich fragen muss: Leben wir eigentlich in der gleichen Wirklichkeit?

Verstöße haben Tradition

Ein kleiner Rückblick: Nicht nur wären da jüngste Ereignisse wie die in Kassel, bei denen die "Querdenken"-Bewegung zum wiederholten Male versammlungsrechtliche Auflagen ignoriert hat. Auch in Stuttgart hat die Missachtung von Maskenpflicht und Mindestabständen Tradition. Eine Art Dammbruch hat es bereits vor einem Jahr, im April 2020, gegeben – als sich mitten im ersten Lockdown rund 500 Demonstrierende der erst wenige Wochen alten Bewegung mit Sprüchen wie "Damals der Judenstern, heute die Gesichtsmaske" versammelten, sich umarmten, liebkosten, um den Hals fielen.

"Meine Kinder müssen seit über 5 Wochen zuhause bleiben, sie dürfen ihre Freund*innen nicht sehen, nicht auf den Spielplatz gehen, ihre Großeltern nicht besuchen und zu allen anderen Menschen viel Abstand halten", kommentierte der linke Stadtrat Luigi Pantisano das kontaktfreudige Geschehen auf dem Schlossplatz. "Wir Eltern mühen uns alle ab, sie durch diese Zeit so gut es geht zu begleiten. Wie soll ich ihnen nun dieses Bild erklären?"

Rechtsradikale Kontinuität – Kumpanei mit der Polizei

Schon damals waren für halbwegs aufmerksame BeobachterInnen die rechtsradikalen Einflüsse der "Querdenken"-Bewegung ersichtlich. Denn neben stadtbekannten Faschisten und rechten Verschwörungsideologen wie Michael Stecher und Oliver Hilburger waren auf dem Schlossplatz diverse Figuren aus dem Dunstkreis der AfD präsent, etwa der radikalisierte Ex-Landtagsabgeordnete Heinrich Fiechtner, gegen den die Berliner Polizei erst kürzlich, nach einem angedeuteten Hitlergruß, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat.

Damit zurück in die Gegenwart: Gerade weil die "Querdenker" inzwischen auch vom baden-württembergischen Verfassungsschutz beobachtet werden, ist der laxe Umgang der Staatsgewalt mit ihnen so merkwürdig. Wann hat es das zuletzt gegeben, dass eine offiziell als demokratiefeindlich eingestufte Organisation derart unbehelligt mit staatlichen Auflagen brechen durfte? Zumal unzweifelhaft dokumentiert ist, dass sich neben Hooligan-Gruppen auch die rechtsextreme Identitäre Bewegung und die Jungen Nationalisten der NPD am Protest beteiligten.

Doch nicht nur zeigte sich die Stuttgarter Polizei am vergangenen Samstag sehr kulant bei Verstößen gegen den Infektionsschutz. Teils entstand sogar der Eindruck einer über wohlwollende Sympathie hinausgehenden Kumpelhaftigkeit zwischen Rechtsbrechern und Ordnungshütern. Etwa wenn besagter Heinrich Fiechtner mit einer stilisierten Hakenkreuzbinde als Maske unter dem Kinn mit zwei Polizisten plaudert, dabei den Landtagsdirektor als "antidemokratische Ratte" betitelt – und alle drei herzhaft lachen. Oder wenn ein Beamter des Anti-Konflikt-Teams beim Handshake mit einem "Querdenken"-Ordner gefilmt wird.

Der Hund war's, ich schwöre!

Viele Nachrichten hätten das Präsidium wegen dieses Mittschnitts eines "vermeintlichen Handschlags" erreicht, twittert die Polizei Stuttgart. Und als wären die Ermittlungen damit abgeschlossen, dass der Hund die Hausaufgaben gefressen hat, gibt die Staatsmacht bekannt: "Nach Rücksprache mit dem Beamten ergriff der Versammlungsteilnehmer nach einem Gespräch dessen Hand und streckte sie in die Höhe." Dumm nur, dass ein weiteres Video den gleichen Beamten zeigt, wie er an einem Polizeifahrzeug vorbeischlendert, unter dessen Scheibenwischer jemand ein Bild von Olaf Scholz in Häftlingskleidung geklemmt hat – und es ignoriert. Da fühlt man sich wie eine ermüdete Schallplatte, wenn man anmerkt, dass es vielleicht nicht die allergeschickteste Lösung ist, Fehlverhalten der Polizei von der Polizei selbst aufarbeiten zu lassen.

Während die Staatsmacht circa 15.000 "Querdenken"-AnhängerInnen, von denen sich fast niemand an die Versammlungsauflagen hielt, stundenlang durch die Stuttgarter Innenstadt marschieren ließ, ohne einzuschreiten, hat sie den Gegenprotest schikaniert. Mit einem Fahrradkorso protestierten AktivistInnen aus dem Umfeld der Antifa und blockierten dafür die B14. Sie wurden von der Polizei stundenlang eingekesselt und die Beteiligten erhielten für die Aktion 266 Platzverweise. (Die RechtsextremismusexpertInnen von "Endstation Rechts" verweisen in diesem Zusammenhang auf einen "Fun Fact": Beim "Querdenken"-Protest hat die Polizei am vergangenen Samstag ganze 254 Verstöße gegen die Corona-Auflagen registriert – aber Nopper hat ja schon zugesagt, dass die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen sei.)

In der schriftlichen Begründung für die Platzverweise heißt es, das Verhalten des Fahrradkorsos stelle "eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar". Ein Polizeisprecher lässt wissen, dass eine Bundesstraße nicht blockiert bleiben dürfe und dass das polizeiliche Einschreiten auch unter Gesichtspunkten des Infektionsschutzes weniger problematisch erscheine. "Denn hier haben fast alle Beteiligten Masken getragen."

Was aber ist mit den tausenden Hygieneverweigerern, die durch ihr Verhalten eine nicht minder "erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit" darstellen dürften? Laut Polizei sei es "nicht möglich, eine so große Personenzahl festzusetzen", zudem würde das Infektionsrisiko bei einem Einschreiten nur um so höher, da ja kaum jemand Maske trägt.

Nun sind deeskalative Einsatzstrategien aus pazifistisch-liberaler Perspektive grundsätzlich zu befürworten. Und dennoch sticht ins Auge, dass gerade Stuttgart Erfahrungen damit hat, Protest im Zweifel auch unsanft abzuräumen. Dabei muss man kein Jahrzehnt zurückblicken, als die Staatsmacht eine illegale Baumfällaktion ermöglichte, indem sie eine friedliche Schülerdemo mit Wasserwerfen anging und dabei einen unschuldigen Rentner bis zur Erblindung beschoss. Stichwort: Schwarzer Donnerstag. Vor nicht allzu langer Zeit gab es da auch einen Vorfall am Rande einer Demonstration gegen Mietenwahnsinn, bei dem AktivistInnen ein leerstehendes Haus mit Papierzetteln kennzeichneten – und dafür ohne Zaudern und Zögern mit Pfefferspray eingedeckt und Schlagstöcken traktiert wurden.

Bizarres Beschuldigungspingpong

Wenn nun das Auflösen einer großen Demonstration in der Praxis tatsächlich zu erheblichen Komplikationen geführt hätte: Wer trägt dann die Verantwortung für das Desaster vom Samstag?

Hierbei lässt sich nun ein sonderbares Beschuldigungspingpong zwischen Stadt, Land und Polizei beobachten: Niemand will verantwortlich sein. Uwe Lahl, der höchste Beamte im baden-württembergischen Sozialministerium, hat kein Verständnis, "dass die Stadt sich sehenden Auges in diese Situation manövriert hat." Die Demonstration hätte nach seiner Einschätzung verboten werden können, wie er bereits vor dem vergangenen Samstag betonte. Das aber verneinen Nopper und sein Ordnungsbürgermeister Clemens Maier vehement.

Wer hat nun recht? In der Corona-Verordnung des Landes heißt es, auch über solche Zusammenkünfte, die das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen, dass diese "verboten werden können, sofern der Schutz vor Infektionen anderweitig, insbesondere durch Auflagen, nicht erreicht werden kann." Das scheint der Stadt Stuttgart einen gewissen Handlungsspielraum zu strikterem Vorgehen einzuräumen.

So gäbe es durchaus die Möglichkeiten, beim Infektionsschutz strenge Vorgaben zu machen. Beispielsweise dürfte ein Demozug, bei dem Abstände absehbar nicht eingehalten werden können, untersagt werden. Oder im Mai, als der Verschwörungsideologe Ken Jebsen vor 10.000 Querdenkern auf dem Stuttgarter Wasen sprach, hat das Ordnungsamt vorgeschrieben, dass Kreuze auf dem Boden den Mindestabstand zu den Nebenstehenden markieren müssen. Auch wenn es trotzdem zu Übertretungen kam, hat diese sehr einfach umsetzbare Maßnahme das Einhalten der 1,5 Meter begünstigt.

Und dieses Mal? Nun, Kreuze hat es nicht gegeben. Dem SWR gegenüber sagte dafür Ordnungsbürgermeister Maier, erst seit wenigen Monaten im Amt, sie hätten vorgeschrieben, dass man "die Fläche auf dem Wasen, es ist ja eine große Fläche, parzelliert und auch durch Gitter so weit abteilt, dass Zusammendrängen der Menschen dann verhindert wird oder zumindest eingeschränkt wird, oder auch dass maskenbefreite Teilnehmer auf einer eigenen Fläche platziert werden, dass für jeden anderen sofort ersichtlich ist, dass diese Menschen tatsächlich über ein Attest verfügen." Wer das Geschehen auf dem Wasen beobachtet hat, muss diese Aussage für einen Scherz halten.

Super gemacht, Leute. Großes Lob

Gar nicht mal so sehr zugespitzt lässt sich der "Querdenken"-Samstag wie folgt bilanzieren: Eine vom Verfassungsschutz beobachtete Bewegung mit massiven rechtsradikalen Einflüssen zieht mit 15.000 Menschen durch Stuttgart und wird trotz tausender offensichtlicher Rechtsverstöße nicht von einer Polizei behelligt, die lieber eine Gegendemonstration schikaniert, obwohl und weil sich diese an den Infektionsschutz hält. Noch gar nicht erwähnt wurden bis hierhin die Übergriffe auf Medienvertreter: So wurde ein freier Journalist von einem "Querdenker" geohrfeigt und ein Presseteam der ARD in einer Live-Schalte unter "Lügenpresse!"-Rufen mit Gegenständen beworfen.

Und was sagen die verantwortlichen Bürgermeister zu diesem durch und durch erbärmlichen Bild, das die Stadt Stuttgart in dieser Gemengelage abgegeben hat? "Hinterher ist man immer schlauer", verrät Frank Nopper der "Stuttgarter Zeitung". Und Clemens Maier verteidigt sich gegen Kritik: "Ich glaube, wir haben das Beste daraus gemacht", zitiert ihn die Deutsche Presseagentur.

Nachdem sich der Autor in einer ersten Bewertung dieser Aussagen zunächst an einem Kotzkrampf verschluckt hat, ist die mildeste Wortwahl, zu der er sich durchringen kann, dass die Stadtverwaltung angesichts so viel dummdreister Selbstgefälligkeit eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.


Info:

Eine lesenswerte Zusammenfassung der politischen Reaktionen auf das Desaster vom Samstag gibt es im "Tagesspiegel". Die taz berichtet vertiefend über Angriffe auf Medienvertreter, ebenso wie der "Zeitungsverlag Waiblingen". Auch die MDR-Medienkolumne "altpapier" hat sich aktuell der "Grenzüberschreitung von Stuttgart" mit einem Schwerpunkt gewidmet. Und "Der Postillon" informiert über einen genialen Trick: "Mann bezeichnet sich ab sofort als Querdenker, damit er sich nicht mehr an Regeln und Gesetze halten muss".

Über demokratiefeindliche Netzwerke in der Corona-Krise erscheint am heutigen Mittwoch der Sammelband "Fehlender Mindestabstand", herausgegeben von den JournalistInnen Heike Kleffner und Mathias Meisner und mit Beiträgen geschätzter KollegInnen. Vorabdrucke gibt es hier, hier, hierhier und hier

Politisch könnte das Demo-Wochenende noch ein Nachspiel haben: Die linke "FrAktion" im Gemeinderat hat einen Fragenkatalog an die Stadtverwaltung formuliert. Die Stuttgarter SPD fordert den Rücktritt von Ordnungsbürgermeister Maier. Und ebenfalls auf Antrag der SPD sind am kommenden Montag in einer Sondersitzung des baden-württembergischen Innenausschusses der Stuttgarter OB Nopper sowie die Minister Thomas Strobl (Innen) und Manfred Lucha (Gesundheit) nicht ein-, sondern geladen. Die Sitzung wird ab 14 Uhr im Livestream übertragen. 


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79 Kommentare verfügbar

  • Minh Schredle
    am 14.04.2021
    Antworten
    Liebe Kommentierende,

    da hier nun mehrfach die Frage nach meiner Definition eines Nazis aufkam, möchte ich dem Informationsinteresse gerne nachkommen. Allerdings kann ich mir dabei die Bemerkung nicht verkneifen, dass in meinem Artikel hier das Wort "Nazi" weder im Text noch in…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 12 Stunden
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