Berthold Kohler, der als Herausgeber der FAZ höchstselbst in die Tasten griff, macht hingegen vor allem fehlenden Respekt für die Stuttgarter "Gewaltorgie" verantwortlich: "Eine Achtung vor dem Recht und seinen Repräsentanten war in der 'Partywut' (so der Polizeipräsident) nicht erkennbar. Das passt in ein bekanntes Bild: Die Polizei klagt schon lange darüber, dass sie besonders bei jüngeren Leuten kaum noch Respekt genieße." Noch ein Problem – das Internet: "Im Netz wird selten die ausgewogene Argumentation mit Aufmerksamkeit, Reichweite und 'Likes' belohnt. Viel häufiger werden das Diffamieren und Draufhauen honoriert. Um Letzteres auch in den Straßen zu organisieren, braucht es nur noch einen Kick und einen Klick. Der Kreis zwischen der virtuellen und der realen Welt schließt sich, wenn der Mob wie auch in Stuttgart seine Straftaten filmt, um sich mit ihnen im Netz zu brüsten."
Der Generalmajor würde sich wehren
Der "Focus" hat Richter Thorsten Schleif vom Amtsgericht Dinslaken (Nordrein-Westfalen, 400 Kilometer von Stuttgart entfernt) aufgetrieben. Dieser "warnt" schon im Titel: "Viele Gewalttäter von Stuttgart müssen keine Strafen fürchten." Und zieht, wie so viele derzeit, einen gewagten Vergleich: "Der Rechtsstaat werde sich ähnlich schwertun wie nach den massenhaften sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015/2016." (Größere Medienaufmerksamkeit genießt Schleif, seitdem 2019 sein Buch "Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt" erschien, das der Kollege Thomas Fischer als "Alarm-Geschrei" bezeichnet.)
Während Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) anlässlich der Krawalle darauf hinweist, dass "wir" es "mit Multikulti nicht übertreiben" sollten und auch der grüne Sicherheitspolitiker Hans-Ulrich Sckerl Migration für die Probleme in Stuttgart mitverantwortlich macht, schreibt ein Autor im "Cicero" etwas von der "Angst vor dem M-Wort": Es sei moralisch verbrämt, den offensichtlichen Migrationshintergrund der Beteiligten nicht zu thematisieren, Medien übten sich stattdessen in "Sprach-Yoga. Mit ulkigen, verbalen Verrenkungen wurde in den ersten Berichten am Sonntag auffällig unauffällig vermieden, die Herkunft der Randalierer zu beschreiben", heißt es da. Und das sei "Humus für die Kritik an seriösen Medien".
Noch doller treibt es die "Bild", die ein Video-Gespräch mit Generalmajor Andreas Hannemann veröffentlicht: "Ich empfehle niemandem, einen von UNS anzugreifen!", titelt das Krawallblatt und zeigt dazu Aufnahmen, die den Soldaten zeigen, wie er mit Maschinengewehren bewaffnet einen Häuserkampf nachstellt. Und nur für den Fall, dass die Stuttgarter Krawallos erwägen könnten, mal auf die Bundeswehr loszugehen, warnt der Major: "Wir wehren uns."
Das Fass war halt voll
Hoch im Kurs stehen derzeit auch die Reportagen aus der Landeshauptstadt. Vergangenen Samstag am Eckensee ist RTL/Sat.1 vor Ort, die FAZ flaniert durchs Getümmel, der SWR macht Interviews auf dem Schlossplatz, Regio TV, ZDF und die "Süddeutsche" zeigen Präsenz, sogar aus der Schweiz ist ein Reporter angereist, um zu gucken, was am Wochenende nach den Krawallen so los ist. Durch fast alle deutschen Medien ging der "Create don't destroy"-Schriftzug, den der Stuttgarter Street-Art-Künstler SJKS auf einige der Spanplatten gesprüht hat, die zur Zeit noch die zerbrochenen Glasscheiben ersetzen, wo diese bei den Krawallen zerstört wurden. Weil das Motiv halt so supergut passt. Das sei ihm morgens, nach dem Krawall, so eingefallen und er sei einfach losgezogen, erzählt der Künstler. Die Fotoagentur Ghetty hat ein Bild davon unter der Rubrik "Images of anarchy" gelistet, und nun macht es die Runde.
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Ruby Tuesday
am 06.07.2020