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Randale in Stuttgart

Der wilde Südwesten

Randale in Stuttgart: Der wilde Südwesten
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Nach den Krawallen des vorvergangenen Wochenendes versucht die deutsche Presse, Antworten auf die Gewalt in Stuttgart zu finden. Auch vor Ort am Eckensee, wo unter massivem Polizeiaufgebot trotzdem gefeiert wird.

Da steht diese junge Frau, 19 Jahre alt, mit langen Haaren, die im Schein einer Laterne glänzen. Krankenschwester ist sie, schon etwas beschwipst von Wodka mit Red Bull, und wartet, bis sie von der Polizei durchsucht wird. Die hat eine Phalanx gebildet vor einem Mäuerchen mit lauter jungen Leuten. Geldbeutel werden gefilzt, Jacken-, Hosen- und Handtaschen ausgeräumt, Ausweise kontrolliert. "Das ist total ungerecht", sagt die Frau. "Immer auf die Jungen. Andauernd werden wir hier kontrolliert."

Sie arbeite auf einer Corona-Station in einem Krankenhaus, erzählt sie, da liefen immer wieder Besucher rein und raus, obwohl das verboten sei. "Die gehen danach einkaufen und stecken alle Leute an." Und da soll man selber daheim sitzen? Nä! "Genau", stimmt ihre Freundin zu. Dann lieber Eckensee. "Wo sollen wir denn sonst hin? Ist ja alles zu." Das ist die eine Perspektive hier – mehr Polizeipräsenz nervt. Anders sieht das ein junger Typ mit Bart, er schnorrt gegen Mitternacht eine Zigarette und erzählt kurz vor sternhagelvoll, wie gut er es finde, dass dieses Wochenende so viel Polizei da sei. "Ohne Scheiß." Andauernd gebe es hier Schlägereien, "wegen Alkohol, weisch, ist immer so". Und jetzt, wo da die vielen blauen Kastenwagen stehen und die Polizei-Drohne über den See surrt, fühle es sich besser an. Und ja, auch das kann man sich gut vorstellen, wenn man so in die Runde guckt. Denn am Eckensee ist es voll, wie immer.

Die Luft ist Wodka-schwanger, ab und zu wabert ein Gras-Wölkchen vorbei und kreuzt die Schallwellen Dutzender mitgebrachter Mini-Boxen. Rund 500 Polizisten sind unterwegs, Großlage. Cyberkriminalisten beobachten derweil die sozialen Netzwerke. Die Einzelhändler an der Königstraße, Stuttgarts Shoppingmeile, haben Security engagiert. In der Stadt patrouilliert Polizei mit Pferden. Die Nervosität, dass sich die Gewalt vom letzten Wochenende wiederholen könnte, ist spürbar. Doch es bleibt ruhig.

Die Bilder der Stuttgarter Krawallnacht gingen um die halbe Welt – oft verbunden mit der Frage, was da los war in der Landeshauptstadt. Nachdem die Situation bei einer Drogenkontrolle am Eckensee eskalierte, randalierten mehrere Hundert Menschen in der Innenstadt, plünderten neun Geschäfte, verletzten einen Studenten und 16 Polizisten.

Die totale Action

Etliche Jugendforscher trugen in den vergangenen Tagen ihre Erklärungen vor, etwa Bernd Holthusen im "Spiegel". Die Jugendlichen, meint er, seien "in der Corona-Debatte bisher weitgehend vergessen worden". Und was tun junge Menschen, "wenn sie plötzlich nicht mehr das tun können, was alle Teenager tun? Unvernünftig sein, Spaß haben, Party machen." Da gebe es "die unterschiedlichsten Bewältigungs- und Verarbeitungsformen", manche ließen ihre Aggressionen raus, andere nutzten Plünderungen, um sich ein neues Handy zu besorgen. "Und dann gibt es die sogenannten Bystander – Zuschauer am Rande, die nicht aktiv ins Geschehen eingreifen, sich aber freuen, dass endlich mal etwas los ist. Sie machen Handyvideos, die sie im Netz posten, weil es spektakulär ist, die totale Action."

Ähnlich sieht das der Psychotherapeut Hans Hopf in den "Stuttgarter Nachrichten", demzufolge Jugendliche "sozusagen ihre innerseelischen Konflikte, nicht selten mit Zerstörung" kompensieren. Er verweist auf Erich Fromm: Dieser "sah als Ursache für solche Formen der Destruktivität und Akten der Selbstzerstörung ein unerträgliches Gefühl der Langeweile und Ohnmacht und das Bedürfnis, zu erleben, dass es doch noch jemanden gibt, der reagiert, jemand, auf den man einen Eindruck machen kann, eine Tat, die der Monotonie des täglichen Lebens ein Ende machen wird."

Berthold Kohler, der als Herausgeber der FAZ höchstselbst in die Tasten griff, macht hingegen vor allem fehlenden Respekt für die Stuttgarter "Gewaltorgie" verantwortlich: "Eine Achtung vor dem Recht und seinen Repräsentanten war in der 'Partywut' (so der Polizeipräsident) nicht erkennbar. Das passt in ein bekanntes Bild: Die Polizei klagt schon lange darüber, dass sie besonders bei jüngeren Leuten kaum noch Respekt genieße." Noch ein Problem – das Internet: "Im Netz wird selten die ausgewogene Argumentation mit Aufmerksamkeit, Reichweite und 'Likes' belohnt. Viel häufiger werden das Diffamieren und Draufhauen honoriert. Um Letzteres auch in den Straßen zu organisieren, braucht es nur noch einen Kick und einen Klick. Der Kreis zwischen der virtuellen und der realen Welt schließt sich, wenn der Mob wie auch in Stuttgart seine Straftaten filmt, um sich mit ihnen im Netz zu brüsten."

Der Generalmajor würde sich wehren

Der "Focus" hat Richter Thorsten Schleif vom Amtsgericht Dinslaken (Nordrein-Westfalen, 400 Kilometer von Stuttgart entfernt) aufgetrieben. Dieser "warnt" schon im Titel: "Viele Gewalttäter von Stuttgart müssen keine Strafen fürchten." Und zieht, wie so viele derzeit, einen gewagten Vergleich: "Der Rechtsstaat werde sich ähnlich schwertun wie nach den massenhaften sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015/2016." (Größere Medienaufmerksamkeit genießt Schleif, seitdem 2019 sein Buch "Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt" erschien, das der Kollege Thomas Fischer als "Alarm-Geschrei" bezeichnet.)

Während Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) anlässlich der Krawalle darauf hinweist, dass "wir" es "mit Multikulti nicht übertreiben" sollten und auch der grüne Sicherheitspolitiker Hans-Ulrich Sckerl Migration für die Probleme in Stuttgart mitverantwortlich macht, schreibt ein Autor im "Cicero" etwas von der "Angst vor dem M-Wort": Es sei moralisch verbrämt, den offensichtlichen Migrationshintergrund der Beteiligten nicht zu thematisieren, Medien übten sich stattdessen in "Sprach-Yoga. Mit ulkigen, verbalen Verrenkungen wurde in den ersten Berichten am Sonntag auffällig unauffällig vermieden, die Herkunft der Randalierer zu beschreiben", heißt es da. Und das sei "Humus für die Kritik an seriösen Medien".

Noch doller treibt es die "Bild", die ein Video-Gespräch mit Generalmajor Andreas Hannemann veröffentlicht: "Ich empfehle niemandem, einen von UNS anzugreifen!", titelt das Krawallblatt und zeigt dazu Aufnahmen, die den Soldaten zeigen, wie er mit Maschinengewehren bewaffnet einen Häuserkampf nachstellt. Und nur für den Fall, dass die Stuttgarter Krawallos erwägen könnten, mal auf die Bundeswehr loszugehen, warnt der Major: "Wir wehren uns."

Das Fass war halt voll

Hoch im Kurs stehen derzeit auch die Reportagen aus der Landeshauptstadt. Vergangenen Samstag am Eckensee ist RTL/Sat.1 vor Ort, die FAZ flaniert durchs Getümmel, der SWR macht Interviews auf dem Schlossplatz, Regio TV, ZDF und die "Süddeutsche" zeigen Präsenz, sogar aus der Schweiz ist ein Reporter angereist, um zu gucken, was am Wochenende nach den Krawallen so los ist. Durch fast alle deutschen Medien ging der "Create don't destroy"-Schriftzug, den der Stuttgarter Street-Art-Künstler SJKS auf einige der Spanplatten gesprüht hat, die zur Zeit noch die zerbrochenen Glasscheiben ersetzen, wo diese bei den Krawallen zerstört wurden. Weil das Motiv halt so supergut passt. Das sei ihm morgens, nach dem Krawall, so eingefallen und er sei einfach losgezogen, erzählt der Künstler. Die Fotoagentur Ghetty hat ein Bild davon unter der Rubrik "Images of anarchy" gelistet, und nun macht es die Runde.

Alle sind sie auf der Suche nach Antworten, und so richtig vollends überzeugende hat niemand gefunden. Der "Spiegel" etwa übermittelt die Thesen zweier Jugendlicher, die schon häufiger schlechte Erfahrungen mit Polizei gemacht haben und denen zufolge "das Fass halt voll" gewesen sei. "Das war ein bisschen Black Lives Matter, ein bisschen Amerika."

Die "Zeit" berichtet über eine Stadt, die vor allem ihren gut situierten Erwachsenen etwas bietet. Die sitzen auch an diesem Abend in den noblen Restaurants in Stuttgarts Mitte. Die Jungen blieben in der teuren Stadt auf der Strecke und würden zudem auch noch andauernd von der Polizei kontrolliert. Oder nach Hause geschickt, weil Corona-Mindestabstände nach spätestens dem zweiten Bier sowieso obsolet sind. Am vorvergangenen Wochenende, zitiert die "Zeit" einen Streetworker, hätten "viele dieser Jugendlichen in Stuttgart versucht, den Spieß umzudrehen". Sie hätten die Rolle des Underdogs und Störenfrieds bewusst angenommen und fatalerweise zu etwas Coolem verklärt: "Nach dem Motto: Schaut her, wir sind auch da und wir gehen nicht weg, auch wenn ihr uns an den Rand drängt."

Nervige Drogenkontrollen macht auch das "Hanfmagazin" für die Ausschreitungen mitverantwortlich und verweist auf 100.000 aktenkundige Verfahren pro Jahr, die man sich mit Legalisierung von Cannabis sparen könnte. Darüber hinaus sei "sehr einfach und doch entlarvend", warum es ausgerechnet Stuttgart erwischt hat: "Nirgends sonst regiert eine Regierung einer Partei, die seit 30 Jahren versprochen hat, die Verfolgung einzustellen und zu beenden." Stattdessen habe sich die Verfolgungsquote erhöht. Da scheint die Eskalation nur konsequent: "Wie wütend können sie werden, wenn ihnen klar wird, dass sie strukturell belogen werden – was für Optionen bleiben, wenn ein offensichtlicher Lügner und Verfolger regiert?" Den Autor verleitet das gar zur Conclusio: "Grüne PolitikerInnen verwüsten Stuttgart."

Och, schade

Die Berichterstattung über Randale sei "immer Ideologieproduktion und Wunschbildmalerei", schreibt Medienkritiker René Martens in der MDR-Kolumne "Altpapier" über die Stuttgarter Ausschreitungen. Tatsächlich scheinen viele Erkläransätze den altbekannten Blattlinien zu entsprechen. Überraschende Denkansätze sind kaum vorhanden. Der Krawall dient als Projektionsfläche, bereits feststehende Weltbilder und Deutungsmuster noch einmal zu verbreiten. Darüber hinaus bleibt eine gewisse Ratlosigkeit.

Am Eckensee hat sich die Polizei mittlerweile durch die Reihen der Jugendlichen kontrolliert und steht vor der jungen Krankenschwester. "Mit Ihnen geht es jetzt weiter", sagt der Polizist. "Durchsuchen Sie mich jetzt?", fragt das Mädchen kokett und blinzelt den hübschen Beamten an. "Das macht die Kollegin", sagt der. "Och, schade", seufzt das Mädchen.

Und auch in dieser Woche gilt noch, was Kontext in der vergangenen vermeldet hat: Stuttgart steht noch.


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2 Kommentare verfügbar

  • Ruby Tuesday
    am 06.07.2020
    Antworten
    Der Katzenjammer kommt meist bei der Rückfahrt in die Polizeikaserne. Wenn Zeit ist über das Geschehen nachzudenken. Die hohen Damen und Herren Parlamentarier sitzen derweil in ihren Plüschsesseln, spielen „Nieder mit den Gummibärchen“ oder lassen ihre Fehdehandschuhe frisch aufbügeln. Die…
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