KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Polizei Stuttgart

"Rassistisches Gedankengut auch bei Polizei"

Polizei Stuttgart: "Rassistisches Gedankengut auch bei Polizei"
|

Datum:

Thomas Berger, Vizepräsident der Stuttgarter Polizei, hat den Einsatz am Krawall-Samstag geleitet. Ein Kontext-Gespräch über Gewalt, Repression, Frust und Rassismus in den eigenen Reihen.

Herr Berger, Sie haben auf der Pressekonferenz nach den Ausschreitungen gesagt, Beamte mit zusammen Hunderten von Dienstjahren hätte sich geirrt in der Einschätzung der Lage. Welche Konsequenzen haben diese Beamten seither daraus gezogen?

Wir müssen das Thema Gewaltbereitschaft ganz neu denken. Nicht nur in Quantitäten, weil wir mit immer noch mehr Einsatzkräften auch nicht Herr solcher Vorgänge werden, sondern in Qualitäten. Wir können so etwas polizeilich nicht mehr bewältigen. Wir sind zuständig für die Intensivtäter, für die Gewaltsuchenden, und darum kümmern wir uns auch. Aber dem Gesamtphänomen Respekt und Respektlosigkeit gegenüber Menschen, die als Repräsentanten des Staats wahrgenommen werden, muss sich die Gesellschaft stellen. Da ist es bei weitem nicht getan mit der Frage, welche Gruppe lagert gerade um den Eckensee. Es geht darum, dass die Gewalt gegenüber der Polizei, die in dieser Nacht offenbar wurde, am Ende einer ganzen Kette steht.

Dann reden wir über die Kette. Selbst wenn alle Zuständigen an einem Tisch zusammenkämen und danach ein sinnvolles Maßnahmenpaket finanziert würde, würde es bis zum Umsteuern doch eine halbe Generation dauern.

Klar, dieser Tisch wäre sehr groß. Denn das Ganze beginnt in Familien und in Milieus, und ich finde, wir dürfen uns vor der Analyse nicht drücken. Wenn ich in einer Familie groß werde als Sohn mit einer ganz anderen Wertigkeit als meine Schwester und von frühester Kindheit mit meinem Chromosomensatz besser gestellt werde und für schlechte Noten ein neues Smartphone bekomme, nur weil ich ein Junge bin, dann läuft sozial etwas aus dem Ruder. Genauer: Es ist schon lange aus dem Ruder gelaufen. Natürlich kann Schule manches oder sogar einiges korrigieren. Aber wenn die erste Sozialkontrolle die Polizei ist, wenn wir es sind, die zum ersten Mal durchsetzen, was nicht geht, dann ist schon zu viel schiefgelaufen. Wir wissen das schon, und jetzt haben es halt alle gesehen: Wenn das Problem bei uns landet, ist es zu spät.

In ersten Analysen zur Randale in Stuttgart war auch viel von Frust die Rede …

Wir haben Menschen, die sozial am Rande stehen, manche selbstverschuldet, aber viele auch nicht. Da richtet sich dann der Frust gegen die Verhältnisse, nicht nur gegen die Polizei. Das geht schon auf der Zulassungsstelle los, wenn es das Wunschkennzeichen nicht gibt. Oder nehmen Sie die Gewalterfahrungen, die Schiedsrichter in der Bezirksliga machen. Wir müssen da endlich eine große gesellschaftliche Debatte führen. Zu viele scheuen sich davor, weil das Problem so riesig erscheint, dass man sich wegdrehen möchte. Aber wenn dieser Sonntag eines lehren muss, dann, dass Wegdrehen nicht mehr geht. 

Da sind wir wieder bei der Frage, wie lange ein Umsteuern dauern würde. Was könnte denn kurzfristig funktionieren?

Im allerersten Schritt werden wir wohl nicht um repressive Maßnahmen herumkommen, da bin ich ganz ehrlich. Die Grenze in unserer Gesellschaft ist die Gewaltfreiheit. Wer über diese Grenze hinausgeht, bekommt es mit denen zu tun, die die staatliche Gewalt übertragen bekommen haben und die durch die Justiz kontrolliert werden. Das sind wir. Und die, die da anfangen, unter Alkohol diese Grenze zu überschreiten, die müssen einfach kapieren, dass wir sie daran hindern. Das ist der erste Schritt. Und der zweite ist die Frage, wie wir mit denen umgehen, die den Rahmen bilden, die Prosecco-trinkend auf den Stufen stehen, zuschauen, filmen und posten. Das sind Schaulustige und Gaffer, um die müssen wir uns auch kümmern, denn das kann so auch nicht weitergehen.

Manche Stimmen rufen nach mehr Härte. Wenn die Polizei aber härter rangeht, könnten  Bilder erzeugt werden, die die Polizei in die Nähe amerikanischer Verhältnisse rückt. Wie ist dieser Teufelskreis zu durchbrechen?

Durch Aufklärung und Ehrlichkeit und Information. Das beginnt bei unserer Ausbildung. Wir haben eine der längsten Fachausbildungen. Fast die Hälfte unserer Polizeibeamten in Baden-Württemberg haben einen Bachelor, 70 Prozent der Anwärter haben die Hochschulreife. Wir setzen darauf, dass unsere Leute die Situationen, auf die sie treffen, ohne Anordnung richtig einschätzen. Ausdruck dessen ist übrigens auch, dass für junge Polizeibeamte der Dienstgrad nicht ausreicht bei der Überzeugungsarbeit, sondern Argumente mitzählen. Ich genieße das, wenn junge Beamte keine Angst vor dem Vizepräsidenten haben. Der noch größere Unterschied zu den USA ist aber der Schusswaffengebrauch. Die Schusswaffe ist in den USA nicht selten ein Mittel zur Durchsetzung des Vollzugswillens, was auch kein Wunder ist in Staaten, in denen es mehr Waffen gibt als Einwohner. Wir haben unsere Schusswaffe einzig und allein, um uns oder andere in extremen Gefahren zu schützen. Hinzu muss jede Gesellschaft offen und ehrlich die Frage beantworten, inwieweit in ihr systematischer Rassismus herrscht. Denn wir sind ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaft. Was nicht geht, ist, die Situation auf anderen Kontinenten pauschal auf hiesige Verhältnisse zu übertragen.

Und  wie sieht es in Deutschland aus?

Wir haben mit großer Wahrscheinlichkeit Polizeibeamte mit rassistischem Gedankengut auch bei der Polizei. Da ist jeder Einzelfall zuviel und wir versuchen deshalb, uns intensiv damit auseinanderzusetzen, etwa mit Staatskundeunterricht. Aber wir haben keinen latenten Rassismus, wie uns vereinzelt vorgeworfen wird, vor allem unter dem Stichwort "racial profiling". Da gibt es übrigens ein großes Missverständnis. Natürlich machen wir Profiling. Denn wenn der Drogenhandel am Rotebühlplatz nicht in der Hand von südschwedischen Mitbürgern über 60 ist, sondern, mal gegriffen, in der Hand von arabischen und maghrebinischen Gruppen, macht es keinen Sinn, aus statistischen Gründen ein älteres Ehepaar auf dem Spaziergang zu kontrollieren. An dem vorhin erwähnten sehr großen Tisch müsste aber auch mitbedacht werden, dass viele Drogenhändler mit Drogen handeln, weil ihre Familien in Afrika die Schlepper bezahlen müssen. Aber die Polizei kann solche soziologischen - oder man kann auch sagen:  internationalen - Fragestellungen nicht bearbeiten. Das ist die Aufgabe anderer.

Wer war dabei?

Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion Uli Sckerl fordert Aufklärung von Innenminister Thomas Strobl (CDU), nachdem dieser jetzt doch davon ausgeht, dass "Linksextremisten keine untergeordnete Rolle gespielt haben" in der Krawallnacht vom vorvergangenen Sonntag. "Wir haben es mit einer völlig heterogenen Gruppe zu tun, da ist alles dabei – vom Betrunkenen bis zum gewalttätigen Linksextremisten", sagte Strobl in einem Gespräch mit den beiden Stuttgarter Zeitungen. "Das Innenministerium hatte zuletzt die Beteiligung von Linksextremisten dementiert", so Sckerl. Wenn es jetzt andere Erkenntnisse geben sollte, müsse dies umfassend erläutert werden. Im Innenausschuss des Landtags am 24. Juni sei betont worden, dass man politische Hintergründe ausschließen könne. Inzwischen liegen allerdings weitere Ermittlungsergebnisse vor. Auch der Ministerpräsident hat sich direkt von der Stuttgarter Polizeispitze informieren lassen und berichtet, dass es in einem Fall Hinweise auf eine linksextreme Gesinnung gebe. Woher diese Erkenntnis komme, wisse er noch nicht, das werde er aber "sehr dezidiert" erfragen. Ohnehin müssten noch viel mehr Details aufgearbeitet werden, so Kretschmann, "das ist mir ein großes Anliegen, weil nur auf Basis gutem Faktenwissen zu entscheiden ist, wie wir weiter vorgehen". (jhw)

Wenn die Rahmenbedingungen in der Ausbildung und im Alltag stimmen, dann müsste das bedeuten, dass es an falscher Planung liegt, wenn Einsätze aus dem Ruder laufen. Stuttgart hat den Schwarzen Donnerstag im Schlossgarten rund um Stuttgart 21 hinter sich.

Der sogenannte Schwarze Donnerstag hat die Stuttgarter Polizei geprägt wie kein anderes Ereignis. Das war schrecklich auch für uns, das war furchtbar und negativ, es wurden Fehler gemacht, die auch einer gewissen Überfoderung geschuldet waren.  Aber die Lehren, die wir draus gezogen haben, sind positiv. Da komme ich nochmal zum Thema Information und Aufklärung. Vielleicht müssen wir einfach besser erklären.

Zum Beispiel die Gründe, aus denen die Stuttgarter Polizei ihren Weg der Zurückhaltung auch nach dieser Krawallnacht beibehalten will.

Unser schärfstes Schwert ist unsere moralische Integrität. Denn daraus leitet sich auch der Rückhalt in der Bevölkerung ab. Aktuell stehen 85 Prozent hinter uns, weil sie wissen, dass wir uns sehr stark bemühen, moralisch integer zu sein. Polizeibeamte sind dann am besten geschützt, wenn sie die Bevölkerung hinter sich wissen.

Wie passt da ins Bild, dass die AfD für Sie demonstriert und versucht, die Krawallnacht für sich auszuschlachten?

Was uns wirklich hilft, das sage ich sarkastisch, sind Solidaritätsadressen und Unterstützungsdemos bestimmter Parteien. Die führen dann vor allem dazu, dass wir an Wochenende mit ohnehin großer Belastung noch belasteter sind.

Wie steht es um Videoüberwachung oder Alkoholkonsumverbot?

Es braucht immer Anlässe, um über Themen intensiv nachzudenken. Aber die Betonung liegt auf dem intensiven Nachdenken. Das hilft uns genauso, wie mit uns zu reden anstatt immer über uns. Auch das trägt zu einer personellen Entlastung bei – durch intelligente Lösungen.

Zum Beispiel?

Ein Beispiel ist die Integration von Sozialarbeitern der Stadt Stuttgart in unsere Arbeit im Brennpunkt. Wir haben das jetzt am Freitag versucht. Zugegeben war ich zunächst etwas skeptisch, ob sich die Gruppen ansprechen lassen, aber ich habe mich offensichtlich geirrt. Wir müssen an die Gaffer heran, die ihre Filmchen ins Netz stellen und den Tätern eine Bühne geben. Wir brauchen Videoüberwachung zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten, um die Täter aus der Anonymität zu holen. Und wir, als staatliche Institutionen, müssen wieder mehr  ins Vorfeld solcher Entwicklungen vordringen, also an die Familien und in die Schulen. Vor allem aber müssen wir die junge Generation in den Blick nehmen, die wir verändern und der wir eine Perspektive geben können. Da sind wir wieder an dem großen Tisch. Denn auch das ist keine Aufgabe der Polizei.


Thomas Berger, Jahrgang 1971, Spitzenbeamter im SPD-geführten Innenministerium unter Reinhold Gall, Polizeivizepräsident der Landeshauptstadt seit 2018. Sein Mandat als SPD-Fraktionschef in Schorndorf legte er im Frühjahr 2020 nieder. Für die Sicherheit in Stuttgart zu sorgen, sei mehr als ein Fulltime-Job, begründete der 49-Jährige seinen Rückzug aus der Kommunalpolitik.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


3 Kommentare verfügbar

  • Ruby Tuesday
    am 02.07.2020
    Antworten
    Thomas Berger war noch nicht geboren, als die Berliner Polizei und besonders die Politiker*innen eine bittere Erfahrung machen mussten: Jungen Männern greift man nicht ungestraft zwischen die Beine. Erst recht nicht, wenn sie keine Straftat begangen haben, ihre Traumfrau daneben steht und…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:


Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 9 Stunden
Alles gut




Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!