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Schlüsselerlebnis Polizeigewalt

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Als Schauspielschüler hat Michel Brandt den Polizeieinsatz am Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten erlebt, heute sitzt er für die Linke im Bundestag. Die Erlebnisse vom 30.9.2010 machen ihn noch heute wütend. Sie waren ein Katalysator für seinen Weg in die Politik.

Am Samstag hat der VfB Heimspiel, das Volksfest gerade angefangen – und die Parkschützer haben zur Demonstration vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof aufgerufen, um an den Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Gegner vor acht Jahren zu erinnern. Matthias von Herrmann, Pressesprecher der Parkschützer, schaut kurz vor der ersten Rede über die noch nicht so große Menge, wirkt leicht skeptisch. Acht Jahre, das sei "ein bisschen ein blöder Termin", sinniert er, keine runde Zahl, die vielleicht größere Mobilisierungseffekte gehabt hätte.

Am Ende sind es dann laut Veranstalterangaben doch 2000 Demo-TeilnehmerInnen, selbst die Polizei zählt 1100. Wundern kann man sich trotzdem, war der 30. September 2010 doch einer der traumatischsten Tage in der jüngeren Geschichte der Stadt.

Angefangen hatte es am Vormittag mit einer angemeldeten Schülerdemo, die gegen das Bahnprojekt und den Tiefbahnhof demonstrierte, aber bald waren es Tausende Stuttgarter, die erlebten, wie martialisch ausgestattete Polizeieinheiten Meter um Meter des Parks räumten und wie Wasserwerfer, Pfefferspray und Knüppel gegen friedlich demonstrierende Bürger eingesetzt wurden, die lediglich passiven Widerstand leisteten. "Was sollen die Kinder von unserem Rechtsstaat halten, der sie von der Straße spritzt?", fragte der im Vorfeld um Vermittlung bemühte Stuttgarter Stadtdekan Michael Brock während des Einsatzes. Die Schüler hätten, so Brock damals, eine besondere Form des Gemeinschaftskundeunterrichts erlebt.

Eine Art Unterricht, ein Schlüsselerlebnis war es auch für Michel Brandt, 2010 als 20-jähriger Schauspielschüler unter den Demonstranten im Park, acht Jahre später erster Redner bei der Demo. Wollte man es boulevardesk zuspitzen, könnte man vielleicht schreiben, die Wasserwerfer des 30.9. hätten Brandt in die Politik gespült, denn der junge Karlsruher ist seit einigen Jahren Mitglied der Partei Die Linke und sitzt für sie seit dem vergangenen Jahr im Bundestag. Doch ganz so simpel ist es dann doch nicht. 

"Ich komme aus Niedersachsen, war dort vor allem gegen die Castor-Transporte engagiert", sagt Brandt. Er sei schon früh, "mit 12, 13 Jahren, bewegungspolitisch aktiv" gewesen, in sozialen, ökologischen, antifaschistischen und antirassistischen Bewegungen. Ein zusätzlicher Schub, ein Katalysator für sein weiteres politisches Engagement sei aber der Schwarze Donnerstag gewesen. Vor allem eine Erfahrung, die ihn bis heute wütend macht.

2008 war Brandt nach Stuttgart gekommen, um hier an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Schauspiel zu studieren. "Ich habe geguckt: Was ist denn politisch los hier? Und es war genau die Zeit, in der die Anti-S-21-Bewegung so groß wurde. Da hab ich mich sehr gut verorten können, aufgrund der Breite, der Vielfalt des Protests." Brandt trug sich im Ende 2009 gegründeten Parkschützer-Netzwerk im Internet ein, um sich im Falle von Abriss- und Baumfällaktionen am Bahnhof per SMS benachrichtigen zu lassen und so schnell wie möglich vor Ort zu kommen.

Im Hambacher Forst kamen die Bilder aus Stuttgart wieder hoch

"Es geht los", hieß es in der SMS am 30. September 2010, sie kam, als Brandt gerade bei Theaterproben war. Die Proben waren damit beendet, er machte sich sofort auf in den Park, wo sich zur ursprünglichen Schülerdemo schon Hunderte weitere Demonstranten gesellt hatten. Und es auch bald immer mehr Verletzte werden sollten. 

Bei den Protesten gegen die Castor-Transporte, wo Brandt schon früh dabei war, war die Polizei nicht gerade zimperlich gegen Demonstranten vorgegangen. Aber mit seinen Erlebnissen am 30.9. sei das nicht vergleichbar gewesen. "Dieser gezielte Angriff auf die Schüler, der da stattgefunden hat, dieser Angriff auf Menschen, die teils noch nie auf der Straße waren, die nicht wussten, was auf sie zukommt, nicht damit umgehen konnten, nicht geglaubt haben, dass diese Wasserwerfer wirklich loslegen – das habe ich in der Form nicht oft erlebt, das hat einfach bis heute eine ganz besondere Qualität." Vor zwei Wochen sei er im Hambacher Forst gewesen, "wo die Demonstrationen der mit den Waldbesetzern Sympathisierenden auch sehr bürgerlich geprägt sind", da seien die Stuttgarter Bilder wieder in ihm hochgekommen.

Nicht nur wegen des Polizeieinsatzes hat Brandt im Hambacher Forst an Stuttgart 21 denken müssen. Die Räumung des Waldstücks stehe "für eine Verachtung der Regierenden und der Konzerne für demokratische Prinzipien", sagt er auf der Demo. Ähnlich wie beim Bahnhofsprojekt, das für ihn ein "Paradebeispiel für eine politische Kultur der Ignoranz" ist, einer Politik "gegen die Menschen und nur für Profite".

In Stuttgart blieb Brandt bis zum Abschluss seines Studiums im Jahr 2012, das letzte Jahr auch als Ensemblemitglied am Stuttgarter Staatstheater. Dann wechselte er nach Karlsruhe ans Badische Staatstheater, wurde auch dort wieder politisch aktiv – gegen die Sammelabschiebungen, die von der Landeserstaufnahmestelle aus organisiert wurden, gegen TTIP, aber auch im Personalrat des Staatstheaters für die Rechte und Arbeitsbedingungen seiner KollegInnen. 2013 wurde er Mitglied der Linken.

"Der Weg in die Partei kam tatsächlich erst, als ich mir gesagt habe: Ich möchte diese ganzen Themen miteinander verbinden, sozusagen Bewegungspolitik und die Arbeit für die Linke mehr koppeln", sagt Brandt. 2016 kandidierte er bei der Landtagswahl, bei der die Linke den Einzug ins Südwest-Parlament aber verfehlte. Im Jahr darauf dann ließ er sich für die Bundestagswahl aufstellen, auf Platz sechs der Landesliste. Erst spät in der Wahlnacht des 28. Septembers erfuhr er, dass er es in den Bundestag geschafft hatte. Dort ist der 28-Jährige aktuell der viertjüngste Abgeordnete. 

Für seine Partei ist Brandt nun Obmann im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe – entsprechend drehen sich viele der bisherigen Aktivitäten des Parlamentsneulings um Seenotrettung und eine menschenwürdigere Politik gegenüber Geflüchteten. Die Erlebnisse des 30.9.2010 haben ihn nicht losgelassen und beeinflussen seine politische Arbeit. Er kämpft für ein Verbot von Pfefferspray bei Polizeieinsätzen, hat dazu Ende September eine <link http: dip21.bundestag.de dip21 btd _blank external-link>Kleine Anfrage im Bundestag initiiert. Zwei Todesfälle im August hatten noch einmal dessen Gefährlichkeit gezeigt (<link https: www.kontextwochenzeitung.de politik toedliche-feldversuche-5321.html _blank internal-link>Kontext berichtete), doch von der Wirkung konnte sich Brandt schon vor acht Jahren überzeugen; die meisten Verletzten des Schwarzen Donnerstags gab es durch das Reizgas. Und seit 2010 habe sich in Deutschland, so Brandt, "die eingesetzte Menge von Pfefferspray mehr als verdoppelt."

Kennzeichnungspflicht? Gibts immer noch nicht.

Es existieren mehr als genügend Fotos, die den extensiven Gebrauch von Pfefferspray durch die Polizei im Schlosspark gegenüber friedlichen, oft sitzenden Demonstrierenden dokumentieren. Allerdings kam es nur zu einer einzigen Verurteilung wegen "grundlosen" Einsatzes. Ein Hindernis ist, dass die Polizisten mangels Kennzeichnung nicht zu identifizieren sind – weswegen die BahnhofsgegnerInnen bei der Demo zum achten Jahrestag des Polizeieinsatzes einmal mehr <link https: www.bei-abriss-aufstand.de presseerklaerung-wo-bleibt-die-kennzeichnungspflicht-fuer-polizisten-herr-kretschmann _blank external-link>eine Kennzeichnungspflicht fordern.

Im Prinzip alles andere als eine radikale Forderung, in neun Bundesländern und den meisten europäischen Staaten gibt es eine Kennzeichnungspflicht, und ihre Einführung auch im Südwesten war immerhin 2011 im grün-roten Koalitionsvertrag im Land vereinbart – dann aber fünf Jahre lang von Innenminister Reinhold Gall blockiert worden (<link https: www.kontextwochenzeitung.de politik wo-bleibt-das-schmerzensgeld-3504.html _blank external-link>Kontext berichtete). Und unter nun Grün-schwarz ist daran einstweilen nicht zu denken, der neue Innenminister Strobl lehnt eine Kennzeichnung strikt ab. 

Brandt sieht ohnehin eine zunehmende Aufrüstung der Polizei, durch die neuen "Polizeiaufgabengesetze" in den Bundesländern würden "polizeiliche Befugnisse weiter ausgeweitet, die Eingriffsschwelle deutlich abgesenkt". Das Ziel sei die "Einschränkung von friedlichen Protesten" – solche wie im Hambacher Forst, solche wie vor acht Jahren im Schlossgarten. "Das stellt einen massiven Eingriff in unsere Grundrechte dar", empört sich Brandt bei seiner Demorede, und nicht zuletzt deswegen seien "Demokratiebewegungen wie die gegen Stuttgart 21 unverzichtbar".

<link https: youtu.be _blank external-link>Für seine Rede (<link file:40927>hier als PDF) bekommt Brandt am Samstag viel Beifall, seine Stimme ist kräftig und akzentuiert – da macht sich auch die Sprachausbildung seines Studiums bemerkbar. Auf Dauer nur noch auf den Bühnen von Demowagen oder Plenarsaal zu stehen und nicht mehr auf denen des Theaters, das will er allerdings nicht. Für sein Bundestagsmandat hat Brandt am Badischen Staatstheater aufgehört, ein schwerer Schritt. "Ich vermisse das Theaterspielen", sagt er, aber es sei kein Abschied für immer. Nein, sein ganzes Leben will Brandt nicht Berufspolitiker bleiben. "Aber im Moment habe ich das Gefühl, die Arbeit als Abgeordneter ist für mich sinnstiftender, sie ist gerade wichtiger, und ich bin da am richtigen Platz."

Stuttgarts Schwarzer Donnerstag

Der 30.9.2010 war ein traumatischer Tag für Stuttgart: Beim Polizeieinsatz gegen S-21-Gegner im Schlossgarten gab es Hunderte Verletzte. Die Aufarbeitung bleibt mangelhaft.

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2 Kommentare verfügbar

  • Charlotte Rath
    am 04.10.2018
    Antworten
    … „extensiven Gebrauch von Pfefferspray“ … Extensiv steht für das Gegenteil von intensiv. Meint der Autor „exzessiv“?
    Am 30.09.2010 kam nicht „nur“ Pfefferspray zum Einsatz. Da wurde auch ein Mittel eingesetzt, dessen Symptomatik (Kratzen im Hals, großer Durst, später Schwindel, Übelkeit und…
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