Winfried Kretschmann musste am vergangenen Montag die Welt der Grünen retten. Statt gemütlich im Bierzelt auf dem Wasen eine Maß samt Göckele zu genießen. Der Vorgang wäre aber für sich genommen auch nicht weiter aufsehenerregend und kaum – von den üblichen Promis-auf-dem-Wasen-Meldungen der Lokalpresse abgesehen – Gegenstand der Berichterstattung gewesen. Doch den groß den Medien angekündigten – und wenige Tage vorher hastig wieder abgesagten – Volksfestbesuch umweht der Hauch des Tabu-Behafteten. Der 30. 9. 2010 habe sich als "Schwarzer Donnerstag ins kollektive Gedächtnis Baden-Württembergs eingebrannt" – so auch Kontext in der vergangenen Woche. Winfried Kretschmanns Auftritt auf dem Wasen am dritten Jahrestag der gewaltsamen Räumung des Schlossgartens wäre daher "geschmacklos und empörend", kommentieren S-21-Gegner. Für Parkschützer Matthias von Hermann stellt der Vorgang immerhin noch eine "Instinktlosigkeit" dar. Ob das nun ein mehrheitsfähiges oder zumindest relevantes Stimmungsbild widerspiegelt, muss offen bleiben. Demoskopische Umfragen zu dem Thema existieren nicht.
Das Bild des aus den Augen blutenden Dietrich Wagner hat wahrlich das Zeug dazu, auch noch späteren Generationen als Ikone des Bürgerprotests und abschreckendes Beispiel einer fehlgeleiteten Polizei zu dienen. Von diesem Tag gibt es allerdings noch ein anderes Bild. Diese Aufnahme zeigt den damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus, der in einem Cannstatter Festzelt aus dem Bierkrug trinkt. Bürgerkriegsähnliche Szenen im Schlosspark und bierselige Atmosphäre im Festzelt – der Kontrast konnte kaum krasser ausfallen. Und deshalb schwante Mappus auch bald, dass diese Aufnahme kein positives Bild von ihm zeichnet. Der zupackende Macher und Problemlöser mutierte zum gewissenlosen Gewaltmenschen, der Alte und Kinder hochdruckstrahlend aus dem Weg räumt und sich nach vollendeter Tat mit einem kräftigen Schluck aus dem Maßkrug für sein ruchloses Tagwerk belohnt. Das Ende ist bekannt.
Dieses Negativ-Image übertragen nun die Kritiker auf den Volksfestbesuch des aktuellen Ministerpräsidenten. Das passt ja auch wunderbar. Der im Bundestagswahlkampf als Verräter und Mitglied des Lügenpacks niedergebrüllte Kretschmann entpuppt sich als Reinkarnation von Rambo Mappus beim Schunkeln mit seinen Ministern. Die moralische Fallhöhe von Winfried Kretschmann tendiert bei dieser Sicht der Dinge gegen unendlich. Kein bisschen Spaß darf sein auf dem Gebiet oder dem Datum, das die Empörten besetzt halten.
Die Empörungsmaschinerie läuft gut geölt und auf hohen Touren. Manchmal mehr, manchmal weniger berechtigt. Aber sie läuft garantiert immer heiß, wenn die Nazinummer an der Reihe ist. Herta Däubler-Gmelin kostete ein angeblicher Vergleich mit dem damaligen US-Präsidenten Georg W. Bush und "Adolf Nazi" das Amt als Bundesjustizministerin. Dass Däubler-Gmelin das vom "Schwäbischen Tagblatt" verbreitete Zitat dementierte, also Aussage gegen Aussage stand, die Unschuldsvermutung für die Ministerin sprechen müsste, forget it! Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte einen hochwillkommenen Anlass, die ihn ohnehin nervende Däubler-Gmelin loszuwerden und gleichzeitig bei den Amerikanern ein wenig Boden gutzumachen, den er jenseits des Großen Teichs wegen seiner Ablehnung des Irakkriegs verloren hatte.
Schweigen ist doch manchmal Gold
Kretschmanns Vorvorgänger Günther Oettinger kann gleich in mehreren Strophen ein Lied davon singen, wie es ist, wenn die Empörungswelle hochschwappt. Bei seinem gagaesken Versuch, seinen Vorvorgänger, den ehemaligen Marinerichter Hans Filbinger, bei dessen Trauerfeier in einen Gegner des NS-Regimes umzudeuten, hagelte es einen "Shitstorm" (wörtlich übersetzt: Scheißesturm!) aus dem publizistisch-politischen Komplex, dass sich Oettinger nur mit einer rhetorischen 180-Grad-Wende retten konnte. Schweigen ist eben doch Gold, und manchmal hilft auch der Blick auf den Kalender.
Im selben Jahr sollte Oettinger auf dem Landespresseball den Eröffnungswalzer tanzen, doch die Festivität war auf den 9. November terminiert. Ein weiterer Beleg für die Instinktlosigkeit dieses Mannes, wie bei der Filbinger-Nummer garniert mit der Variation des baden-württembergischen Werbespruchs in "Wir können alles außer Geschichte". Zum Scheitern verurteilt war damals auch der Entlastungsversuch, dass Oettinger nur der Schirmherr der von einem Journalistenverein ausgerichteten Veranstaltung war, am Datum demnach definitiv unschuldig war. Nur mit einem Kniff retteten die Presseballmacher die verfahrene Lage und den Verein vor der Pleite. Aus dem Ball wurde eine "Gala" mit ausdrücklichem Tanzverbot. Dass die Deutschen an diesem Tag nicht nur ihren jüdischen Mitbürgern ihre Läden zertrümmert und ihre Synagogen abgebrannt haben, sondern theoretisch auch den Fall der Mauer feiern könnten, blieb bei dieser bizarren Debatte auf der Strecke.
Die Liste der Angefeindeten ist lang und prominent besetzt. Ohne klangvolle Namen läuft die Empörungswelle ins Leere. Im vergangenen Sommer erwischte es die Bundeskanzlerin. Die hatte sich erdreistet, am selben Tag zunächst das Konzentrationslager Dachau und anschließend ein Bierzelt – schon wieder ein Bierzelt! – in ebendieser Kreisstadt Dachau für einen Wahlkampfauftritt zu besuchen. "Geschmacklos!", geißelte die grüne Frontfrau Renate Künast diese Terminabfolge. Merkel war als erste deutsche Kanzlerin einer Einladung eines ehemaligen Lagergefangenen gefolgt und erhielt für ihren Auftritt von Opfervertretern einhelliges Lob, auch weil sie im Bierzelt den Besuch in der KZ-Gedenkstätte thematisiert hatte.
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Stuttgart Süd
am 08.10.2013