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Stadtlücken

Mut zur Brücke

Stadtlücken: Mut zur Brücke
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Frei von Konsumzwang alle BürgerInnen zusammenbringen, das ist die Vision des Vereins Stadtlücken. Seit gut zwei Jahren experimentieren junge Kreative am Österreichischen Platz mit Ideen und Aktionen. Zeit für eine Zwischenbilanz und einen Blick in die Zukunft – um die es aktuell reichlich Verwirrung gibt.

Unter der Paulinenbrücke bündeln sich die Emotionen. Da ist die Freude des Sich-Wiedersehens, das stolze Zurückblicken in die Vergangenheit und – Ärger und Verwirrung. "Das Spiel ist aus unter der Paulinenbrücke", titelten die StZN vor einer Woche. In dem Bericht wird behauptet, dass der Verein Stadtlücken die Experimentierfläche im Stuttgarter Süden verlassen muss. Denn der ehemalige Parkplatz wird jetzt zum Interims-Standort der Feuerwache.

Letzteres stimmt zwar, doch: Die jungen ArchitektInnen, DesignerInnen, TüftlerInnen und Kunstschaffenden bleiben trotzdem am Österreichischen Platz. Marco Zörn von den Stadtlücken seufzt und schüttelt den Kopf. Er habe schon Mitleidsbekundungen von FreundInnen bekommen, erzählt er. "NEIN, ES GEHT WEITER!" schreibt der 29-Jährige in einem Facebook-Post einen Tag nach Erscheinen des Artikels. Zörn redet schnell, es gibt viel zu erzählen. Dass die Stadtlücken bleiben, ist ausgemachte Sache. Wie die praktische Umsetzung genau aussehen wird, zeigen die kommenden Sitzungen im Rathaus.

In dem zum Soziallabor umgestalteten Fleckchen urbanen Raums kehrte pandemiebedingt Ruhe ein. Langsam wird wieder gewerkelt. Am Samstagmittag stapeln sich hier Farbeimer, Reinigungsmaterial und Klebeband nebeneinander: Frühjahrsputz steht an. Die jungen Kreativen treffen sich zum ersten Mal unter dem Betondach seit mehr als drei Monaten. Zuvor wurde nur digital getagt. Marco Zörn will in der kommenden Zeit zunächst einen Fixpunkt für die StuttgarterInnen schaffen, einen "Anker", wie er es nennt. Kaffee hat sich als Anker bewährt, weiß der Sozialarbeiter. Nach und nach sollen auch die anderen Initiativen wieder einkehren: "Die Küche und der Fair-Teiler werden zurückkehren", verspricht der 29-Jährige.

Der Wille ist da, die Details sind noch unklar

Sicher ist auch: Um einen Umzug kommen sie nicht herum. Von den einstigen Parkplatzflächen müssen die Stadtlücken ins Rondell nach hinten ziehen. Das bringt weniger Sichtbarkeit mit sich. Sozialarbeiter Zörn zeigt Verständnis dafür, die Feuerwehr wird kommen, Beschluss ist Beschluss. Er kritisiert jedoch mangelnde Transparenz hinsichtlich der Frage, weshalb es gerade dieser Standort geworden sei. Schließlich seien in der letzten Bezirksbeiratssitzung noch etwa zehn andere im Gespräch gewesen. Doch es geht weiter. Vier Vollzeitstellen für die Planung sowie zwei für "soziokulturelle Koordination" wird es mit den vom Gemeinderat geplanten 1,6 Millionen Euro geben.

Das ist Geld, das im Moment noch nicht fließt. Die Corona-Krise kam, Sitzungen wurden verschoben. Bei zwei geplanten Runden Tischen im Juli klären sich Detailfragen, so die Hoffnung des Stadtlücken-Teams. Marcel Roth (Grüne) wünscht sich dasselbe. Er sitzt seit den Kommunalwahlen vergangenen Jahres im Gemeinderat. Die Stadtlücken hätten viel zur Belebung unter der Brücke beigetragen, sagt er. Roth betont, es sei noch nicht sicher, dass wirklich alles im Rondell geplant und durchgeführt werden muss. Der kleine Platz etwa auf der anderen Straßenseite – gegenüber den Beeten, die die Obdachlosenszene beansprucht sei zusätzlich auch denkbar. Der politische Wille ist da. Das sieht auch Sozialarbeiter Zörn so. Mit der Stadtverwaltung muss noch geklärt werden, wie viele Menschen sich im Rondell aufhalten dürfen, so dass ein zweiter Fluchtweg garantiert werden kann. Die Stadt setzt die Fertigstellung des Interimsquartiers auf 2022 an, 2025 könnte der Verein sich dann wieder ausbreiten. Allerdings sind Bauprojekte in Stuttgart bekannt dafür, nicht nach Plan fertig zu werden.

Über 150 Aktionen in zwei Jahren kann der Verein verbuchen. Chorsingen, Open-Air-Kino, politische Diskussionsrunden, Souvenir-Laden, Kinderprogramm mit Hüpfburg: Die Vielfalt war groß. Gelegentlich wird das Urbanisierungsprojekt auch missverstanden. Es geht nicht um eine Aufwertung des Schmuddel-Images am Österreichischen Platz, nicht darum, die sozialen Konflikte mitsamt Obdachlosen- und Drogenszene zu meistern. Marco Zörn betont: "Es geht darum, Probleme sichtbar zu machen." Eine Vertreibung der Szene solle nicht stattfinden. Moderieren müsse man, um alle Interessen unter einen Hut zu bekommen.

"Schädliche, einseitige Subkultur"

Kritik gibt es dennoch. Vor etwa eineinhalb Monaten in gebündelter Form: Ein "Brandbrief" (StZN) von knapp 50 AnwohnerInnen und Gewerbetreibenden beklagte die Entwicklung unterhalb der Brücke. In dem Schreiben heißt es, die Stadtlücken seien "nicht befähigt, ein gutes Konzept für den Platz zu liefern". Durch den Verein werde eine "schädliche, einseitige Subkultur angezogen", auch eine konkrete Agenda unterstellt man: "Offenbar soll die Drogenszene dort etabliert werden, getarnt als Subkultur!" Federführend bei dem Protestbrief ist Ordensschwester Margret (Caritas), die direkt gegenüber in der Paulinenstraße 18 ihr Quartier hat. Von der Franziskusstube aus geht sie an diesem Samstag zielstrebig auf die werkelnden Mitglieder zu. Schleunigst sollen die ihr Auto wegfahren, das die Einfahrt blockiert. Der Ton ist schroff, ein Dialog scheint kaum mehr möglich. Immerhin ein lange bekanntes Problem könnte bald verschwinden: die markante Geruchsnote rund um den Platz. Mit der temporären Feuerwache sollen auch öffentliche Toiletten kommen – ohne 50 Cent Eintrittsgeld.

Auch wenn Umzug und Koexistenz mit der Feuerwehr einiges für das Projekt verändern werden – die Utopie bleibt. Ein Stückchen Raum in der Stadt zurückerobern, zwischen Gentrifizierung, Spekulation und Konsumwahnsinn. Kommenden Herbst lässt sich in der Architekturgalerie am Weißenhof ein Ideenkonstrukt einiger Mitglieder begutachten: das "Amt für öffentlichen Raum". In einer Ausstellung dort soll der Frage nachgegangen werden, warum ein solch vielschichtiger Ort wie der Österreichische Platz nicht von einer zentralen Institution verwaltet werden kann. Die Fülle an Akteuren macht das Agieren schwierig: Liegenschaftsamt, Hochbauamt, Tiefbauamt, Gemeinderat, Bezirksbeirat Mitte, Bezirksbeirat Süd – um nur einige zu nennen. Die Leitfrage ist und bleibt dieselbe: Wem gehört die Stadt? Sozialarbeiter Zörn sieht angesichts der aktuellen Entwicklungen die Dringlichkeit dieser Frage. Er lässt den Blick um den Platz schweifen: "Wenn es nicht einmal für eine Feuerwache einfach ist, öffentlichen Raum zu finden, wie einfach kann es dann für die Bürger sein?"


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