Andréas Hofstetter-Straka ist nun mal Theologe. Es sei ihnen die "ungeheure Gnade" widerfahren, im richtigen Moment mit dem Verein Stadtlücken zusammenzukommen – ein besseres Wort fällt ihm partout nicht ein. Glück vielleicht? Ja, es sei "wirklich nur Glück" gewesen, dass genau zu der Zeit, als die katholische Kirche Stuttgart ein Beteiligungsverfahren zur Zukunft der Kirche St. Maria in Gang bringen wollte, das Architekten-Netzwerk den Raum unter der Paulinenbrücke gleich gegenüber zu erobern begann. Und sich bereit erklärte, mitzumachen. Das war, so der Pastoralreferent, reiner Sauerstoff für die Kirchengemeinde.
St. Maria ist ein neugotischer Kirchenbau, 1879 geweiht, an einem Ort, wo die Widersprüche der Stadtgesellschaft in besonders krasser Form aufeinanderprallen: oben die Paulinenbrücke, Teil der autogerechten Stadt der 1960er Jahre; unten die Tübinger Straße, neuerdings Fahrradstraße, auch wenn der Autoverkehr dort nicht verschwunden ist. Auf zwei Ecken dieser Kreuzung, die keine ist, neue Anlageobjekte im Wert von mehreren Hundert Millionen Euro: die Shopping Mall Gerber und das Luxuswohn- und Gewerbegebäude Caleido. An der dritten Ecke noch ein Stück Gründerzeit mit einer Institution von Tabakladen und der Franziskusstube für Obdachlose von Schwester Margret.
Auf der vierten Ecke, hinter einem grünen Vorplatz, steht die Kirche. Dahinter das Furtbachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie und das Karlsgymnasium, die traditionsreiche Eliteschule der Stadt. War das Viertel bis vor nicht allzu langer Zeit von Altbauten bestimmt, von eher günstigen Wohnungen und kleinen Läden, so prägen nun zunehmend schwarze, glatte, abweisende Glasfassaden das Bild. Die Kirche ist in diesem Bild noch kein Fremdkörper. Und doch steht sie da wie ein Zeuge einer anderen Zeit, die im Verschwinden begriffen ist.
Noch kommen am Sonntag 60 bis 90 Gläubige zum Gottesdienst, sagt Hofstetter-Straka. In der Kirche hätten 920 Platz. Das Problem kennen viele Gemeinden. Aber bei St. Maria kommt noch etwas anderes hinzu. Die Kirche erlitt bereits im Ersten Weltkrieg einen Bombenschaden. Und wurde im Zweiten Weltkrieg zu 75 bis 80 Prozent zerstört: Eigentlich blieben nur die Türme und die Seitenwand zur Furtbachklinik stehen. Sie wurde schnell wieder aufgebaut, aber eben teilweise nur notdürftig. An die Stelle der Gewölbe trat eine flache Holzdecke. Was heute bei der Statik Probleme bereitet.
Renovieren für 90 Personen?
Seither ist nie wieder groß renoviert worden. Bis 2015 ein großes Stück Putz ziemlich weit oben von der Wand abplatzte. Es war klar: Da musste etwas geschehen. Statt die Kirche zu schließen, hatte ein Architekt im Kirchengemeinderat eine andere Idee: Die Bänke kamen raus. Ein Holzboden wurde verlegt, damit man mit dem Hubsteiger hineinfahren, den Schaden untersuchen und mit einem Taubenschutznetz absichern konnte.
Obwohl weiterhin Gottesdienst abgehalten werden konnte, wenn auch ohne Bänke, stand die Kirche vor einem Dilemma. Die Seelsorge sollte nicht aufgegeben werden. Doch an sechseinhalb Tagen stand die Kirche leer, und die maximal 90 Besucher am Sonntag rechtfertigten kaum den Aufwand für eine Renovierung. Vereinzelt hatten früher schon andere Veranstaltungen stattgefunden, etwa 2009 ein Abend mit frühen Experimentalfilmen und Neuer Musik. Könnte man nicht auf die Stadtgesellschaft zugehen und sie einladen, den Raum zu nutzen? St. Maria steht mitten in einem belebten Quartier, so der damalige Pfarrer Paul Kugler, der inzwischen die Stellung gewechselt hat. Die Kirche könnte ein Ort der Begegnung sein, um Aktivitäten zu entfalten, die anderswo keinen Raum finden.
Und hier kamen die Stadtlücken ins Spiel. Sie wissen, wie Bürgerbeteiligung geht. "Hallo. Wir haben eine Kirche – haben Sie eine Idee?", schrieben sie auf ein Plakat. "St. Maria als", prangt hoch oben über dem Eingang an der Fassade. Sie stellten Ideenplakate mit den Umrisslinien der Doppelturmfassade und Toolboxes her – flache Schachteln mit den Konturen des Innenraums, in die jeder seine Ideen hineinzeichnen, -schreiben oder -basteln konnte.
Ideenwerkstatt, Spielraum – Sauerstoff für die Gemeinde!
Die Resonanz war überwältigend. Manche malten die Kirchenumrisse einfach bunt aus. Andere hatten ernsthafte oder auch nicht ganz so ernsthafte Vorschläge, Pommesbude etwa. Die einen ließen sich von den kirchlichen Funktionen leiten und schrieben "Ort des Friedens" oder "Columbarium", also eine Urnen-Ruhestätte wie in Köln. Oder wünschten sich einfach einen "Ruhepol in der Stadt" – an dem man auch Schach spielen kann. Die anderen gingen von ihren Bedürfnissen aus oder von Räumen, an denen ein Mangel besteht: sei es ein Familien- und Baby-Café, ein Indoor-Abenteuerspielplatz, Kochen für Senioren, eine Konzerthalle oder ein Bibliotheksraum. "Hüpfburg", steht auf einem Blatt, "denn Gott spürt man in der Luft." Einer schreibt: "Rock on!" Ein anderer wünscht sich ein Gebetshaus für alle Religionen.
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