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Populismus im Rechtsstaat

Die Vertrauensfrage

Populismus im Rechtsstaat: Die Vertrauensfrage
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Nachdem Geflüchtete rechtswidrig an der deutschen Grenze zurückgewiesen wurden, delegitimieren führende Regierungspolitiker Gerichtsbeschlüsse. Fatal ist das, weil ein Verfassungsstaat eine Vertrauensbasis braucht – und nun elementare Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit für billige Symbolpolitik geopfert werden. 

Der Militärputsch ist aus der Mode gekommen. Im Interview mit der "Zeit" beschreibt der Jurist Friedrich Zillessen, dass die Autoritären von früher "oft alle Regeln über Bord geworfen" hätten, um an die Macht zu gelangen. Heute, wo erneut eine autoritäre Welle über den Globus schwappt, habe sich diese Strategie verändert. "Man versucht, die Demokratie aus den Institutionen heraus zu schwächen." Das geschieht nicht auf einen Schlag, nicht durch den einen Schlüsselmoment, der alles verändert – sondern durch tausend kleine Nadelstiche, die sich in einer schleichenden Erosion demokratischer Werte und Grundsätze bemerkbar machen. 

Am Anfang des autoritären Staatsumbaus stehen Angriffe auf die Kontrollinstanzen: Freie Presse, Zivilgesellschaft und Gerichte sind unter Druck, ob in Ungarn oder Israel, Argentinien oder China – so es sie überhaupt noch gibt. In den USA haben sich nicht ohne Grund bereits neue Begriffe gebildet, wie Zillessen ausführt. So beschreibe etwa das "Court Packing" den Versuch, die Gerichte mit eigenen Leuten zu besetzen, während unter "Court Curbing" zu verstehen sei, dass unliebsamen Kammern Ressourcen gestrichen oder Zuständigkeiten entzogen werden. 

Allerdings beginnt dieser Prozess der Staatsverwilderung nie bei Null – und am Anfang steht immer die Delegitimation: Donald Trump erklärt für korrupt oder irre, wer seinen Zielen im Weg steht, die AfD agitiert nicht nur gegen die "Lügenpresse", sondern zum Beispiel auch gegen das Thüringer Verfassungsgericht. "Dort sitzt keiner, der nicht das richtige Parteibuch hat", kommentierte der Faschist Björn Höcke diesen März, nachdem ihm ein Urteil gegen seine Partei nicht gefallen hat. Aus einer missliebigen Entscheidung abzuleiten, dass die Justiz politisch gesteuert sei, ist indessen längst keine Strategie mehr, die sich nur unter Rechtsextremen großer Beliebtheit erfreut. 

"Es hat konkrete Folgen, wenn Politiker öffentlich ankündigen, Gerichtsurteile ignorieren zu wollen", warnt aktuell Jörg Müller, der Präsident des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Damit nimmt er Bezug auf den Kurs der schwarz-roten Bundesregierung: Nachdem das Berliner Verwaltungsgericht die Zurückweisung von drei Geflüchteten an der deutsch-polnischen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte, kündigten Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) an, die mit europäischem Recht kollidierende Zurückweisungspraxis fortsetzen zu wollen. Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU), ein studierter Jurist, meinte im ARD-Morgenmagazin, das "Berliner Verwaltungsgericht kann nicht über die Rechtslage in ganz Deutschland entscheiden".

Frei bleibt flexibel

Alle Wortmeldungen stammen von führenden Politikern einer Union, die bei der vergangenen Bundestagswahl mit dem Slogan "Recht und Ordnung wieder durchsetzen" warb. Richter Müller findet es auf Mastodon "seltsam, dass es oft dieselben Personen sind, die sich über mangelnden Respekt vor dem Staat, seinen Institutionen und Repräsentant*innen beklagen – und dann selbst das alles gezielt öffentlich delegitimieren". Er bedauert, dass so viele Politiker:innen offenbar glauben, sie könnten "in Zeiten, in denen die Demokratie gezielt und organisiert von ausländischen Staaten, sehr reichen Menschen und vielen in ihrer geschlossenen Bubble Irregeleiteten angegriffen wird, Politik weiter so betreiben wie gewohnt: ein bisschen Show, ein bisschen 'Dem-Volk-nach-dem-Mund-reden', einfache Lösungen versprechen, echte Probleme ignorieren". Und dann setzt er noch einen drauf: "Ob das vor 100 Jahren in Deutschland auch so war, weiß ich nicht. Aber mein Eindruck ist, wir steuern auf ein ganz ähnliches Szenario wie damals zu."

Dass der Kurs von CDU und Bundesregierung in der Justiz für Aufregung sorgt, zeigte sich auch beim Deutschen Anwaltstag vom 2. bis 6. Juni in Berlin. Wie das Fachportal "Legal Tribute Online" (LTO) berichtet, sei das Grenz-Zurückweisungs-Urteil das alles dominierende Thema gewesen. Und im LTO-Podcast äußert sich sogar Andreas Voßkuhle, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgericht: "Entscheidungen müssen zunächst einmal beachtet werden. Dann kann man überlegen, ob man gegen eine Entscheidung vorgehen will oder ob man den Rechtsrahmen verändern kann. Aber jetzt haben wir eine Entscheidung und die gilt zunächst einmal." Voßkuhle selbst ist überzeugt, dass die Migration besser geregelt werden müsse, aber betont, dass der entsprechende Rechtsrahmen dafür auf europäischer Ebene verhandelt werden müsse. Seitens der LTO-Redaktion wird im Anschluss noch ergänzt, dass es sich dabei um "super komplexe und politische Abstimmungsfragen" handle, "also eine ganz andere Aufwandsebene als zu sagen: So, wir probieren es jetzt mal mit Zurückweisungen an der Grenze". 

Einer, der sich mit der Komplexität europäischer und nationaler Gesetzgebungsprozesse bestens auskennen müsste, ist Kanzleramtschef Frei. Denn am 28. Januar dieses Jahres war es für ihn noch "glasklar", dass Asylsuchende laut den sogenannten Dublin-Regeln auf europäischer Ebene nicht einfach ins Nachbarland zurückgewiesen werden dürfen. "Die Dublin-III-Verordnung geht dem nationalen Recht vor, auch dem Verfassungsrecht", betonte Frei damals noch – sah allerdings auch Spielräume, indem er die Frage aufwarf: "Gilt die Dublin-III-Verordnung auch in der Situation, in der wir jetzt sind?" Ausnahmen sind nämlich erlaubt, wenn eine nationale Notlage vorliegt. Doch schien Frei – zumindest damals noch – zu ahnen, dass die Begründung, warum eine solche vorliegend soll, heikel werden könnte. Denn wenn es eine rechtliche Regelung für Zurückweisungen an der Grenze gebe, sei klar, "dass man das selbstverständlich umsetzt, bis irgendjemand dagegen klagt, bis ein Gericht sagt: So wie ihr es macht, ist es nicht in Ordnung. Und dann muss man es ändern."

Ein halbes Jahr später will die Union doch nichts mehr ändern müssen und Frei sagt sinngemäß: Ach, das war doch nur ein Verwaltungsgericht! Die Entscheidung sei jedenfalls "keine Maßgabe für das Regierungshandeln im Ganzen" und nun werde eben bei der Begründung, warum eine nationale Notlage vorliegen soll, nachgeschärft. Die Argumentation dürfte spannend werden: Im Jahr 2016 gab es 750.000 Asylanträge in Deutschland, 2024 waren es 250.000. Die Zahl der Menschen auf der Flucht hat sich in dieser Zeitspanne beinahe verdoppelt, von 65 Millionen weltweit auf aktuell 123 Millionen. Und während Friedrich Merz bereits fordert, die Liste der sogenannten sicheren Herkunftsländer auszuweiten, wird nun händeringend nach Gründen gesucht, warum ausgerechnet in Deutschland eine nationale Notlage vorliegen soll. 

Nicht nur Höcke fragt nach dem Parteibuch

Merz waren die Zurückweisungen an der Grenze sogar so wichtig, dass er sie zur Bedingung für seine Kanzlerschaft erklärte: Da gehe er "all in". Indessen kann niemand mit einem Funken Verstand ernsthaft annehmen, die Maßnahme trage irgendeinen signifikanten Beitrag zur Lösung der seit Jahren schwelenden Migrationskrise bei, die sich im Zuge der eskalierenden Erderhitzung absehbar noch drastisch verschärfen wird. Hier geht es lediglich um Symbolpolitik – für die viel geopfert wird. 

So verweist nicht nur Björn Höcke auf das Parteibuch von Richtern, das tun auch rechte Medien wie "Nius" oder die NZZ, die vermelden, dass einer der drei Richter hinter der Zurückweisungsentscheidung ein Grüner gewesen sein soll. Und dies wiederum greift in Baden-Württemberg sogar ein Staatssekretär auf: Der Freiburger Siegfried Lorek (CDU), zuständig für Justiz und Migration, verkündete es grinsend in einem zwischenzeitlich wieder gelöschten Video auf Instagram. Hinterher entschuldigte er sich und meinte im Anschluss, dass er damit natürlich nichts insinuieren wollte. 

Gerade Lorek ist einer, der sich mit Seilschaften bestens auskennt. Kurz nachdem er 2016 als Abgeordneter in den baden-württembergischen Landtag einzog, legte seine Frau eine rasante Karriere bei der Landespolizei hin – angefangen mit einer außerordentlich positiven Beurteilung, die mit einer üppigen Gehaltserhöhung einherging. Wenig später erhielt sie eine nur extrem selten vergebene Bestnote, die wiederum zu einer Beförderung führte, sodass Gabriele Lorek ihr Bruttogehalt im öffentlichen Dienst binnen vier Jahren von 3.500 auf 4.575 Euro steigern konnte. Ihr Gatte Siegfried soll parallel dazu auf den Fluren des Landtags damit geprahlt haben, er habe "wesentlich dazu beigetragen", dass die Landespolizeipräsidentin und der ranghöchste Polizist im Lande in ihre Ämter kamen, und sollte es für eine Wiederwahl in den Landtag nicht reichen, hätten diese beiden "schon für mich gesorgt". In einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der die Beförderungspraxis bei Baden-Württembergs Polizei prüft, wurde Lorek mehrfach als einflussreicher Strippenzieher bei der Postenvergabe dargestellt. 

Dennoch kommt die wohl kurioseste Wortmeldung in der aktuellen Debatte wahrscheinlich vom Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag: Jens Spahn, ebenfalls CDU. Aktuell kursieren Berichte, laut denen der Mann als Gesundheitsminister in der Corona-Zeit einen Milliardenschaden verursacht haben soll, insbesondere durch einen Maskendeal, den er offenbar ohne Ausschreibung an ein Unternehmen aus seinem eigenen Wahlkreis vergeben haben soll. Der Trump-Versteher warnt nun mit Blick auf das Berliner Verwaltungsgericht und seine Entscheidung vor einem erodierenden Vertrauen in die politische Mitte, wenn der Staat auf dem Gebiet der Migration nicht handlungsfähig sein darf. 

Gerade das Stichwort Vertrauen ist wichtig: Denn trotz realer politischer Seilschaften, die es in der Geschichte der Bundesrepublik zweifellos auch mal in Reihen der Judikative und Exekutive gegeben hat, haben die elementaren Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit im Großen und Ganzen funktioniert. Wenn das Prinzip, sich aus Anstand an Regeln zu halten, allerdings aufgekündigt wird, ist völlig offen, was folgt. So widmete sich das Portal LTO im März 2024 dem Gedankenexperiment, was eigentlich passieren würde, wenn eine Regierung Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dauerhaft missachten würde. Die ernüchternde Antwort lautet im Wesentlichen, dass eine solche Missachtung schlicht nicht vorgesehen sei. So könne das BVerfG die Rechtslage gestalten und Verfassungswidrigkeiten feststellen, ermahnen und anweisen – bleibe aber schlussendlich darauf angewiesen, dass andere seinen Entscheidungen Folge leisten. Verfassungsrechtler Heiko Sauer kommentiert dazu: "Das Bundesverfassungsgerichts hat keine eigene Zwangsmacht. Es ist wie alle demokratischen Institutionen auf ein Grundmaß an Befolgungsbereitschaft angewiesen."

Am Ende steht die Einsicht, dass Verfassungsstaatlichkeit nicht ohne Akzeptanz und Vertrauen funktioniert – das könnte ein Grund sein, warum vielen Juristinnen und Juristen derzeit bange wird. 

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3 Kommentare verfügbar

  • Oktarine
    vor 1 Tag
    Antworten
    "Denn trotz realer politischer Seilschaften, die es in der Geschichte der Bundesrepublik zweifellos auch mal in Reihen der Judikative und Exekutive gegeben hat, haben die elementaren Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit im Großen und Ganzen funktioniert."
    Das ist ein Satz fürs Poesiealbum.

    Und…
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