Ähnlich äußerten sich andere in der Union. "Es gibt in diesem Haus auch keine Mehrheit mit der AfD, das gilt heute, und es gilt für die Zukunft", wurde Thorsten Frei, erster Parlamentarischer Geschäftsführer und Spitzenkandidat der baden-württembergischen CDU bei der Bundestagswahl, noch deutlicher. Hendrik Hoppenstedt aus Hannover argumentierte in derselben Plenarsitzung in Richtung AfD mit dem Blick nach Österreich oder Frankreich als Grund dafür, "dass wir mit Ihnen nicht zusammenarbeiten werden". Und für die CSU positionierte sich sogar Daniela Ludwig aus Oberbayern eindeutig: "Die Menschen wollen jetzt kein Pingpongspiel zwischen Themen, wechselnden Mehrheiten, mal so, mal so, (…) sondern das Volk, die Wählerinnen und Wähler, sind die Einzigen, die uns wieder Legitimation und damit auch neue Mehrheiten geben können."
Befremdlich ist zudem, wie Parteigremien und Anhänger:innen – siehe Künzelsau oder am selben Tag in Fulda – die Neudefinition des Begriffs Zusammenarbeit abnicken. Mehr, als dass die Runzeln auf der Stirn von Unions-Abgeordneten und -Strateg:innen Tag für Tag tiefer werden, ist aus der Berliner Blase nicht zu erfahren. Bisher galt offiziell, die AfD scheide als Mehrheitsbeschafferin aus, sogar mit Ausschlussverfahren hatte der Bundesvorsitzende bei Zuwiderhandlung mehrfach gedroht. Manuel Hagel, Landesvorsitzender der CDU Baden-Württemberg, wehrt sich wiederum in einem aktuellen Interview mit "Focus" gegen die Idee der Einbindung der AfD mit einem "Niemals" und liefert diese Begründung: "Die AfD ist intellektuell, habituell und kommunikativ das Gegenteil von uns, sie stellt sich gegen alles, was wir Christdemokraten lieben, gegen Europa, unsere liberale Gesellschaft, soziale Marktwirtschaft und unsere Freiheit." Diese Feststellung ist weit weg vom neuen Kurs. Dennoch dankt Hagel in Künzelsau dem Bundesvorsitzenden "für Führung und Haltung, wie es einem deutschen Kanzler würdig ist".
Wenn Klartext aus dem Ruder läuft
Die Neigung, viel zu wagen und wenig Rücksicht auf Gepflogenheiten zu nehmen, ist verbrieft. Merz ist ein Meister der Zuspitzung, ein "Klartexter", wie Volker Resing in seiner eben erschienenen Biographie ("Friedrich Merz – Sein Weg zur Macht") urteilt. In weiser Voraussicht befasst er sich auch mit den Hürden, die vor dem Einzug ins Kanzleramt noch stehen können. "Es gibt diesen Merz-Mythos", schreibt der Berliner Journalist, "eine Begeisterung, einen Hype, den seine Fans befeuern, da wird sein rhetorisches Talent hervorgehoben, seine Auffassungsgabe komplizierte Sachverhalte einfach darzulegen." Aber wie weit das wohl tragen werde, möchte der Autor wissen angesichts der Tatsache, dass jenes rhetorische Talent und die von Fans gerühmte Klartextfähigkeit wiederholt "aus dem Ruder" gelaufen seien.
Diesmal bestätigt sich der Befund gleich mehrfach. Die Ankündigung, er werde am ersten Tag seiner Amtszeit "das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen", ist nicht nur eine Kopie von Donald Trumps Stil. Angesichts von fast viertausend Kilometern bundesdeutscher Außengrenze erscheint sie kaum realisierbar. Kontraproduktiv wäre die de-facto-Schließung von Übergängen obendrein, wie nicht nur Polizeigewerkschafter:innen entgegenhalten, weil so die Zahl der Versuche, illegal und unkontrolliert deutschen Boden zu erreichen, in die Höhe schnellen würde.
Der schlimmste Kontrollverlust unterläuft Merz jedoch in Minute 14 seiner Künzelsauer Rede. Der CDU-Bundesvorsitzende nennt die Mitglieder der Regierung Scholz kurzerhand "Novemberbankrotteure". Ist ihm die Anlehnung an das als "Hitler-Putsch" in den Geschichtsbüchern dokumentierte Ereignis vor gut 101 Jahren wirklich nicht aufgefallen, ist ihm die "Proklamation an das deutsche Volk" zur Absetzung der "Novemberverbrecher in Berlin" entgangen? Vielleicht hat er sie in seinem Brass auf SPD und Grüne einfach hingenommen. Viele im Netz tun das übrigens nicht. "Bei dieser Wortgruppe", schreibt einer, "drängt sich die historische Analogie zum rechtsextremen Kampfbegriff förmlich auf." Erörtert wird auch die Frage, was eigentlich von einem Kanzler zu erwarten ist, wenn er schon im Kandidatenstatus und in "komfortabler demoskopischer Lage" derart um sich schlägt.
So manches passt bei Merz nicht zusammen. Beispiel: seine vollmundige Formulierung, er gucke nicht rechts und nicht links, sondern beim Thema Migrantenzurückweisung nur geradeaus. Denn selbstverständlich hat die CDU-Spitze intensiv nach rechts geguckt, als sie in ihre Anträge Passagen hineinschrieb, deren einziger Zweck darin besteht, Weidel & Co. das Ja zu erschweren oder sogar zu verunmöglichen – und damit die Unionsparteien aus der Schusslinie der Kritik zu manövrieren. "Sie will, dass Deutschland aus EU und Euro austritt und sich stattdessen Putins Eurasischer Wirtschaftsunion zuwendet", heißt es über die Rechtsaußen-Opposition, "all das gefährdet Deutschlands Stabilität, Sicherheit und Wohlstand. Deshalb ist diese Partei kein Partner, sondern unser politischer Gegner." Ferner nutze sie Probleme, Sorgen und Ängste infolge massenhafter illegaler Migration, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren und Verschwörungstheorien in Umlauf zu bringen.
Vielleicht helfen Kindersprüche
Auf Verschwörungstheorien setzen die Union und ihr Anhang gewiss nicht, auf Verunsicherung sehr wohl. Als ein Land "voller Angst und voller Zweifel" beschreibt der einstige Finanzmanager beim Künzelsauer Neujahrsempfang die Republik. Hagel wiederum nennt jede der Bluttaten der letzten Monate "einen Stich in das Herz unserer Landes". Er habe "die Schnauze voll davon, dass alles beim Alten bleibt".
Es lohnt die Vorstellung, wie es um die Stimmung in Deutschland bestellt wäre, hätten die Union, hätten Friedrich Merz, Thorsten Frei oder Manuel Hagel und die CSU-Granden sich mäßigend eingebracht in die Flüchtlingsdebatte. Gut möglich, dass ihr Vorsprung vor der SPD ähnlich groß wäre, auf jeden Fall wäre aber nicht das Geschäft der AfD mit bedient worden. In einer ntv-Umfrage zu Wochenbeginn unterstützen bis zu 95 Prozent das Verhalten der Unionsparteien. Nur im ganz klein Gedruckten wird auf die fehlende Repräsentativität hingewiesen. Vielmehr macht die Zahl nicht nur unter Schwarzen, sondern auch in sich für seriöse haltenden Medien die Runde als Beleg, dass der CDU-Kanzlerkandidat nicht falsch liegen könne.
Eine Instruktion aus einem langen politischen Leben hat Winfried Kretschmann (Grüne) für den "Kollegen Merz". Wer nicht mit der AfD zusammenarbeiten wolle, "und das nehme ich ihm ab, dann muss er mit anderen zusammenarbeiten". Seine eigener Kompass sei in Krisen immer auf Kompromiss gestellt. Und dann versucht Baden-Württembergs Ministerpräsident auf seiner allwöchentlichen Pressekonferenz den CDU-Bundesvorsitzenden noch mit einem Kinderspruch zu erreichen: "Schau links, schau rechts, schau gerade aus, dann kommst Du sicher gut nach Haus." Auf Unterstützung seitens CDU im Bemühen um Mäßigung, hofft er nicht. "Man kann nicht erwarten", sagt der Grüne, "dass es Dissidenten zum eigenen Spitzenkandidaten gibt." Schade eigentlich.
2 Kommentare verfügbar
Gun Wille
vor 3 WochenDas…