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Fehltage

Kranke sollen arbeiten

Fehltage: Kranke sollen arbeiten
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Kranke sind die neuen Hartzer. Wirtschaftsbosse stellen sie als faul dar, machen sie verantwortlich für die Rezession und fordern: Zähne zusammenbeißen! Dabei geht eine Mehrheit ohnehin schon krank zur Arbeit.

Wo Entscheidungen keinen Preis mehr hätten, führte Christoph Werner kürzlich im Gespräch mit dem "Stern" aus, würden sie "nicht verantwortungsvoller". Der vorsitzende Geschäftsführer der von Vater Götz gegründeten Drogeriemarktkette dm erläuterte seine Überzeugung, "dass menschliches Verhalten neben der Einsicht auch durch die Konsequenzen beeinflusst wird, die es auslöst". Das Interview fragt allerdings nicht nach Ratschlägen für die Kindeserziehung – an die Verantwortung appelliert Werner mit Blick auf den hohen Krankenstand in der Republik. Die Schuld daran verortet er offenbar bei faulen Beschäftigten, denn er ist sicher: "Wenn eine Krankmeldung sich auch auf das Einkommen auswirken würde, wäre der Krankenstand in Deutschland ein anderer."

Damit reiht sich Werner ein in die Riege von Wirtschaftsbossen, die dem Missstand vieler Fehltage beikommen wollen – vor allem durch verschärften Druck. Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius verriet der "Süddeutschen Zeitung" im Dezember, er frage einmal pro Jahr den Werksarzt, was sie denn als Unternehmen gegen den hohen Krankenstand in den deutschen Werken tun könnten. Die Antwort des Arztes sei immer die gleiche: "Nichts über das hinaus, was wir schon machen." Entsprechend müsse das Problem nicht von Daimler, sondern politisch gelöst werden. Källenius' Analyse: "Es darf nicht so einfach sein, sich krankzumelden." Kritisch sieht er etwa die Möglichkeit, sich den gelben Schein per Telefon ausstellen zu lassen.

Der Vorstandsvorsitzende der Allianz, Oliver Bäte, argumentiert ähnlich. So schrieb er bereits im Oktober in einem Gastbeitrag für das "Handelsblatt", die Deutschen müssten "dringend wieder ein Verständnis dafür herstellen, dass unser Wohlstand auch etwas mit dem Willen zu tun hat, sich für den Erhalt dieses Wohlstands anzustrengen". Ein "chronisch erhöhter Krankenstand" sei da hinderlich, denn ohne diesen wäre die deutsche Wirtschaft laut Bäte "im vergangenen Jahr nicht um 0,3 Prozent geschrumpft, sondern um knapp 0,5 Prozent gewachsen" – das will der Verband forschender Pharma-Unternehmen errechnet haben. Aber es hat etwas von einem Wunschkonzert: Wenn VW drei Mal so viele Autos verkauft hätte, wäre wahrscheinlich auch ein positiver Effekt auf die Konjunktur zu verzeichnen.

Am 10. Januar bekam Bäte Gelegenheit, im "Handelsblatt" noch einmal nachzulegen: Das Gesundheitssystem schaffe – ähnlich wie das Bürgergeld – "falsche Anreize für Menschen, sich vom Sicherheitsnetz in die soziale Hängematte zu begeben. Bislang konnten wir uns das leisten, nun aber fehlen der Wirtschaft die Arbeitsstunden" (dabei meldete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mit Blick auf die geleisteten Stunden im September 2024: "In Deutschland wurde noch nie so viel gearbeitet."). Doch laut Bäte gelte es nun, den Staat wieder "sozial gerecht zu gestalten". Und in diesem Sinne empfiehlt der Vorstandsvorsitzende: Die Arbeitnehmer sollen "die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen", denn "Deutschland ist mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen".

Nicht mal Europameister

Laut den Zahlen der OECD ist Deutschland indessen noch nicht einmal Europameister, sondern landet bei den Arbeitsstunden, die durch Krankheit verloren gehen, hinter Norwegen, Finnland, Slowenien, Spanien, Portugal und Frankreich. Seitens "Handelsblatt" erfolgt dennoch keine Rückfrage an den Gesprächspartner – ebenso wenig wie eine kritische Einordnung der Behauptung.

Zur Debatte stehen nun die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, daneben die telefonische Krankmeldung. Zu Letzterer äußerte sich Markus Beier, der Vorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands (HÄV): Es handle sich dabei um "eine der wenigen politischen Maßnahmen", die "aktuell wirklich Bürokratie reduziert", die Patienten und Praxen entlaste und obendrein den Vorzug habe, dass am Telefon keine Ansteckungsgefahr besteht. Zudem deuten Befragungen darauf hin, dass Leute, die blau machen wollen, den gelben Schein im Zweifel auch vor Ort in einer Praxis oder neuerdings übers Internet bekommen.

Vor den Risiken und Nebenwirkungen, am ersten Krankheitstag keinen Lohn zu zahlen, warnte kürzlich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD): "Wenn man jetzt die Beschäftigten unter Druck setzt, krank zur Arbeit zu gehen, weil sie sich den Karenztag nicht leisten können, dann riskieren wir, dass sie Kollegen anstecken und Krankheiten verschleppen." Wohin das führt, zeigt sich in der Pflege: Die Branche mit dem aktuell höchsten Krankenstand ist zugleich die, in der Beschäftigte am häufigsten krank zur Arbeit gehen. Ein Teufelskreis: Weil ohnehin viele ausfallen, denken sich die noch nicht krank Geschriebenen, dass sie ihre Kolleg:innen nicht im Stich lassen dürften – bis die Belastungsgrenzen irgendwann überschritten sind und ein langfristiger Ausfall droht. Ein Burnout ist dann nicht in zwei Tagen behandelt.

Doch den Wortmeldungen aus der Wirtschaft, die ein entschlosseneres Zusammenbeißen der Zähne einfordern, liegt in der Regel die Unterstellung zugrunde, dass viele krank Gemeldete eigentlich arbeitsfähig wären. Und sicher: Blaumachen ist ein real existierendes Phänomen. Doch der Nachweis, dass der Dienst heutzutage häufiger geschwänzt wird als früher, gestaltet sich als schwierig. So gibt es gegenwärtig zwar viele Verweise darauf, dass die Zahl der Krankheitstage in Deutschland ein historisches Höchstniveau erreicht hätten, was etwa die Techniker Krankenkasse im Dezember vermeldete. Aus statistischer Sicht sind die Daten der Krankenkasse allerdings nur bedingt brauchbar. Denn erst seit Juli 2022 sind Ärztinnen und Ärzte gesetzlich verpflichtet, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung digital an die Krankenkasse zu übergeben. Vorher war dafür der Arbeitgeber zuständig. Weil viele Betriebe die Meldung unterließen, gab es eine Dunkelziffer. Aufgrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden sind die Jahreswerte vor und nach 2022 daher nicht seriös vergleichbar.

Darauf verweist auch Christopher Prinz, Arbeitsmarktexperte bei der OECD. Nach ihren eigenen Daten bewege sich der Krankenstand in Deutschland gar nicht auf einem auffällig hohen Niveau, sondern genau im Schnitt der Jahre 2015 bis 2019. "Es gibt keinen sachlichen Grund, die Debatte gerade jetzt zu führen", sagt Prinz.

Verbreiteter als das Blaumachen ist laut einer repräsentativen Befragung des Pinktum Instituts das genaue Gegenteil: 59 Prozent gaben an, "oft auch dann zur Arbeit zu gehen, wenn sie eigentlich krank zu Hause bleiben sollten". Und wenn doch jemand arbeitsfähig dem Dienst fernbleibt, heißt es in der im Juni 2024 veröffentlichten Studie, handelt es sich überproportional oft um männliche Führungskräfte. Die Appelle, dringend fleißiger zu werden, sollten Wirtschaftsbosse also, wenn überhaupt, ans eigene Milieu adressieren.

Doch in der Krise verlangt die Kapitalfraktion Opferbereitschaft. Wo das Wachstum nicht wächst, haben meist zwei Rezepte Konjunktur: den Gürtel enger schnallen und die Ärmel hochkrempeln. Während das erste auf Sparorgien einstimmt, fordert das zweite mehr Leistungsbereitschaft – die nach den Wünschen der dm- und Allianz-Chefs im Zweifel durch angezogene Daumenschrauben erzwungen werden soll, selbst wenn eine Mehrheit schon so krank malochen geht.

Bentham misst das Glück mit Geld

Den Arbeitsethos anzupreisen als eine der höchsten moralischen Verpflichtungen überhaupt, ist in der Epoche der Aufklärung populär geworden – während der Müßiggang etwa im antiken Griechenland noch als Tugend galt. In ungewohntem Dogmatismus ohne weitere Begründung schrieb etwa Immanuel Kant: "Es ist von der größten Wichtigkeit, dass Kinder arbeiten lernen. Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muss." Und die "größte moralische Vollkommenheit des Menschen" sei: "Seine Pflicht zu tun. Und zwar aus Pflicht."

Die Idee einer inneren Dressur wurde im Zuge des Übergangs vom Absolutismus zum Liberalismus virulent, also zum Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit veränderten neue Produktionsbedingung die gesellschaftliche Arbeit: Weg von der Subsistenzwirtschaft, bei der die erstellten Waren an oftmals bekannte Menschen aus dem Dorf verkauft wurden, hin zum anonymen Weltmarkt, bei dem sich Käufer und Verkäufer nur selten kennen. Aufschlussreich über die Genese wirtschaftsliberalen Denkens sind insbesondere die Schriften von Jeremy Bentham (1748 - 1832), der als Philosoph der Frage nachging, wie sich das "größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl" erreichen lässt."Das Thermometer ist das Instrument, um draußen die Temperatur zu messen", heißt es um 1770 bei dem Briten, "das Barometer ist das Instrument, um den Luftdruck zu messen." Um Glück zu messen, wählt er als angeblich objektiven Maßstab das Geld aus und erläutert: "Wer mit der Genauigkeit dieser Instrumente nicht zufrieden ist, muß andere zu finden suchen, oder er muß der Naturwissenschaft Lebewohl sagen." Nach Benthams Überlegungen – geprägt durch massenweise Verelendung im England des Industriekapitalismus – scheine erst einmal naheliegend, "den Reichsten ihren Reichtum abzunehmen und ihn auf die weniger Reichen zu übertragen". Doch Bentham denkt weiter – und warnt dann vor den Folgen von Umverteilung. Dadurch ergebe sich nämlich "eine völlige Vernichtung des Glücks", weil durch die Gewissheit, sein vieles Geld teilen zu müssen, "man die Früchte seiner Arbeit nicht genießen wird, wodurch jeder Ansporn zur Arbeit ausgelöscht würde".

Bentham überlegt daher, wie mit dem Problem umzugehen sei, dass zu viele Arme vor dem Verhungern auf die Idee kommen zu stehlen oder zu morden. Da es ihm unmöglich scheint, genügend Polizisten anzuheuern, um die verelendeten Massen in Schach zu halten, müsse man sie disziplinieren – innere Dressur ist geboten. So ist Bentham Urheber der Idee des Panopticums, einer kreisrunden, gläsernen Überwachungsanstalt. Das Konzept führte er 1791 genauer aus: Es sei "anwendbar auf alle Einrichtungen, in denen Personen jeder beliebigen Art unter Kontrolle gehalten werden sollen; insbesondere auf Besserungsanstalten, Gefängnisse, Werkstätten, Manufakturen und Fabriken, Armenhäuser, Irrenhäuser, Krankenhäuser und Schulen". Der Clou: Während die Beobachteten in ihren Einzelzellen in der kreisrunden Anordnung permanent sichtbar sind, ist die in der Mitte befindliche Bewacherloge selbst nicht einsehbar: Die Fenster "sind durch Jalousien so verdeckt [...], dass die Insassen von ihren Zellen aus nicht sehen können, ob sich jemand in der Loge befindet oder nicht".

In "Überwachen und Strafen" diskutiert der französische Philosoph Michel Foucault 1975 die Idee des Panopticums als Modell für das architektonische Ordnungsprinzip moderner Überwachungsgesellschaften und führt aus: "Die Sichtbarkeit ist eine Falle." Wenn Beobachtung jederzeit möglich scheint, richtet sich der Blick nach innen und die Betroffenen beginnen, das eigene Verhalten zu kontrollieren. Jeder wird seiner selbst Wärter und Polizist zugleich – und entwickelt womöglich einen Hass auf alle, die sich den Zwängen nicht im gleichen Ausmaß unterwerfen. Vielleicht weil sie selbst insgeheim auch lieber im Freibad blaumachen würden, als sich nach Einwurf von Ibuprofen Granulat bei der Fabrikarbeit ausbeuten zu lassen.

Glücksphilosoph Bentham kam jedenfalls auf die Idee, die Züchtigung der verarmten straffälligen Massen mit einer hocheffizienten Prügelmaschine zu optimieren, in der "die Stärke und die Abfolge der Hiebe vom Richter vorgeschrieben werden. So wird jede Willkür vermieden". Im Sinne der größtmöglichen Effizienz ließen sich so mehrere Delinquenten gleichzeitig bestrafen, was "zugleich Zeit spart und den Terror der Szenerie steigert".

Die Bentham'sche Prügelmaschine wurde in der vorgeschlagenen Form bislang nicht verwirklicht, Teilaspekte der panoptischen Ideen scheinen in modernen Adaptionen umgesetzt. Der innere Zwang, fleißig sein zu müssen und schließlich zu wollen, die Unterdrückung körperlicher und seelischer Bedürfnisse zwecks Produktivitätssteigerung sind eher gesellschaftlicher Standard als Einzelfall. Die Selbstzurichtung auch dort noch einzufordern, wo sie autodestruktive Tendenzen entwickelt – siehe Pflege –, erscheint dennoch einigermaßen ungesund.


Minh Schredle hält am 30. Januar um 19:30 Uhr einen Online-Vortrag unter dem Titel "Krankes Deutschland". Zugangsdaten gibt es hier

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7 Kommentare verfügbar

  • Dr. Sven Kulus
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Wenn wir Deutschen uns so heroisch halbtot zur Arbeit schleppen, warum sind wir dann Krankentageweltmeister??? So viele Krankheiten mehr als sonstwo?
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