Kurze Wege zur nächsten Behandlung durch verschiedene Ärzt:innen unter einem Dach. In der DDR war dieses Konzept als Poliklinik mit mindestens vier verschiedenen medizinischen Fachbereichen die gängigste Art ärztlicher Versorgung. Nach dem Fall der Mauer verloren die Polikliniken bis 1995 nach und nach ihre Zulassung. Auch weil damals alles, was aus der DDR stammte, schon alleine deswegen abgelehnt wurde, wollte die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl die Versorgung auch in den neuen Bundesländern "schrittweise in Richtung des Versorgungsangebotes der Bundesrepublik Deutschland mit privaten Leistungserbringern" verändern. Doch als 2004 die Sorgen um eine flächendeckende medizinische Versorgung wuchsen, wurde die Idee der Polikliniken von der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder als "Medizinische Versorgungszentren (MVZ)" reaktiviert. Mit fachübergreifenden Gemeinschaftspraxen sollte die ärztliche Versorgung auch an weniger bevölkerten Orten gesichert werden. Aber die bundesdeutsche Politik setzte dabei auch im Kabinett von Angela Merkel im Gegensatz zu den Polikliniken voll auf die Privatisierung.
Das Ergebnis: Während die Zahl der Arztpraxen insgesamt bundesweit rückläufig ist, steigt die Anzahl der MVZ seit Jahren. In Baden-Württemberg hat sich ihre Zahl seit 2015 von 135 auf 305 Zentren erhöht und damit mehr als verdoppelt. Zu kurzen Wegen und einer flächendeckenden Versorgung tragen die MVZ allerdings kaum bei. Die Gründungswelle neuer MVZ ist vor allem durch Finanzinvestoren getrieben, die auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten in den letzten Jahren immer stärker den Gesundheitsmarkt suchen. "Analysen zeigen, dass sich investorengetragene MVZ vermehrt in Ballungsgebieten etablieren und vornehmlich wirtschaftlich besonders lukrative und skalierbare Leistungsbestandteile anbieten", berichtet daher das Landesgesundheitsministerium auf Kontext-Anfrage.
Praxenketten internationaler Finanzkonsortien
Eine dieser Private-Equity Investoren ist die Schweizer Ufenau Capital Partners AG, die ihren Anleger:innen Investitionen in Wachstumsmärkte verspricht. Seit 2017 finanziert sie das Wachstum der Corius-Gruppe, die nach eigenen Angaben an 32 Standorten bundesweit Hautarztpraxen und MVZ betreibt. In Baden-Württemberg ist Corius mit Hautzentren und -praxen in Biberach, Reutlingen, Schwäbisch Gmünd und Stuttgart vertreten. Auf dem Markt der Dermatologie konkurrieren sie dabei mit einem anderen Finanzinvestor: Die Frankfurter Investorengruppe Halder GmbH verspricht eine gute Rendite durch die "Übernahme rentabler Unternehmen" und hat seit Anfang 2022 im Dermazentrum Freiburg investiert, eine von zwölf Halder-Praxen bundesweit. Gewinnträchtig scheint dabei besonders das Angebot der ästhetischen Dermatologie, also Schönheitschirurgie.
Finanzinvestoren geben ihr Geld nicht nur in MVZ, sondern bauen auch selbst Arztketten auf. Besonders beliebt sind Augenarztpraxen. 500 solcher Filialketten unter Regie internationaler Finanzunternehmen soll es in diesem Bereich bundesweit geben. Allein die deutsch-schweizerische Kette Sanoptis unterhält in Mannheim sechs Augenarztpraxen. Erst im Mai dieses Jahres wanderte Sanoptis von einem Finanzinvestor zum nächsten. Das belgische Investmenthaus Groupe Bruxelles Lambert versprach beim Kauf weitere 750 Millionen Euro für weitere Aufkäufe und Investitionen. Auf frisches Geld hofft auch die bereits durch die Hände mehrerer Finanzinvestoren transferierte Ober Scharrer Gruppe. Im Frühjahr stiegen ein kanadischer Pensionsfonds und ein französisches Beteiligungshaus bei einer der größten Augenarztketten Deutschlands ein, die in Baden-Baden, Bühl und Offenburg sechs MVZ oder private Augenarztpraxen betreibt. Für die Beliebtheit dieses Medizinbereichs ist auch die gute Möglichkeit für private Zusatzleistungen verantwortlich. So werden Patienten spezielle Untersuchungen verkauft.
Privatisierung erhöht die Kosten
Die wachsende Verbreitung von MVZ trifft auf Kritik der großen Ärzteverbände. Die Vertretung der baden-württembergischen Ärzte sieht "die ärztliche Freiberuflichkeit im ambulanten Versorgungsbereich dadurch in hohem Maße bedroht". Die Ärzte forderten bereits 2019 die politischen Verantwortlichen zu Maßnahmen auf, die verhindern, dass "renditeorientierte Finanzinvestoren ohne originäres Versorgungsinteresse ein MVZ gründen und in die ambulante Versorgung eindringen". Zusätzlichen Nachdruck erhielt die Forderung durch ein Gutachten im Auftrag der kassenärztlichen Vereinigung Bayern im Frühjahr dieses Jahres. Demnach ließen sich MVZ ihre Leistung von den Kassen um 5,7 Prozent höher honorieren als es bei gleicher Patientencharakteristik, gleichen Vorerkrankungen und gleichem Behandlungsanlass in Einzelpraxen zu erwarten gewesen wäre. Sprich: In den besagten MVZ wird offenbar mehr therapiert. Zudem rechneten investorengeführte MVZ für gleiche Leistungen sogar 10,4 Prozent mehr ab. Auch das Landesgesundheitsministerium stellt daher fest: "Die von Investoren betriebenen MVZ dienen vorrangig den Interessen der Kapitalanleger. Durch Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge werden solche Interessen regelmäßig bis auf Versorgungsebene im MVZ durchgesetzt."
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Lidia Marens
am 08.10.2023https://polit-x.de/de/documents/16862699/bundeslander/sachsen/landtag/do…