KONTEXT:Wochenzeitung
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Weniger ist mehr

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Wirtschaftsnahe Organisationen wollen die maximalen Arbeitszeiten in Deutschland "flexibilisieren". Jetzt hat es die Forderung nach einem 12-Stunden-Tag in die Politik geschafft – angeblich im Interesse der Beschäftigten. Doch Erfahrungen aus Österreich zeigen das Gegenteil.

Wen genau sie mit "Wir" meint, konkretisiert die baden-württembergische Wirtschaftsministerin nicht weiter. Doch laut Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) stellen "wir" in der Praxis fest, "dass moderne Arbeitswelt und Arbeitszeitrecht in vielen Branchen immer häufiger in Konflikt miteinander geraten". Das betonte die Ministerin Ende November <link https: www.stuttgarter-nachrichten.de inhalt.wirtschaftsministerin-zur-arbeitszeit-wir-oeffnen-da-nicht-tuer-und-tor.fb528aac-c5c9-4e16-a39a-e5f2d655f2e9.html _blank external-link>im StZN-Interview. Dem Wunsch nach Flexibilität und Arbeitszeitsouveränität, den auch Arbeitnehmer äußern würden, will sie wie folgt entsprechen: "Sie sollen maximal zwölf Stunden an einem Tag arbeiten können." Und, das darf natürlich nicht fehlen, man müsse "doch die Realität betrachten" und international wettbewerbsfähig bleiben.

Exakt einen Monat später verlangt auch der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) "endlich mehr Flexibilität" im Arbeitszeitgesetz, hier allerdings (vorerst) beschränkt auf das Gastgewerbe, wo sich die "praxisfremden" rechtlichen Vorgaben "mittlerweile zur Wachstumsbremse" entwickelt hätten. Das führe zu einem hausgemachten Personalmangel, und <link https: www.traunsteiner-tagblatt.de _blank external-link>da brauche es dringend eine Korrektur.

Ganz neu sind diese Gedanken nicht. Und auch die Wortwahl wirkt passagenweise eigenartig vertraut. Eine restriktive, realitätsfremde und rückständige Gesetzgebung soll modernisiert werden, damit die Wirtschaft wächst und alle von mehr Flexibilität (sprich: Deregulierung) profitieren können? Da haben natürlich auch die üblichen Verdächtigen ihre Finger im Spiel. Denn arbeitgebernahe Organisationen, insbesondere der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga), fordern genau das in Bezug auf Arbeitszeiten bereits seit Jahren. "Das deutsche Arbeitszeitgesetz war gut für das Industriezeitalter", schrieb auch der Ökonom Christoph Schmidt in einem <link https: www.sueddeutsche.de politik gastkommentar-selbst-bestimmen-1.3753709 _blank external-link>Gastkommentar für die "Süddeutsche Zeitung" bereits im November 2017: "Für die digitale Welt taugt es nicht mehr." 

Es sei zudem "deutlich restriktiver, als es die EU-Arbeitszeitrichtlinie zulassen würde", und "Arbeitnehmer brauchen und wollen mehr Flexibilität." Schmidt, Vorsitzender des fünfköpfigen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (oft als "Wirtschaftsweise" bezeichnet), argumentiert, der Gesetzgeber dürfe "den Beschäftigten ruhig mehr Selbstbestimmtheit zutrauen". Das ist ihm so wichtig, dass er es in seinem nur neun Absätze umfassenden Kommentar gleich drei Mal erwähnt. 

Ausgeblendet, wer die Arbeitszeiten bestimmt

Bemerkenswert ist dabei, dass Schmidt die Verlängerung der maximalen Arbeitszeiten als Interesse der Beschäftigten darstellt. Denn in der Vergangenheit tat sich der neoliberale Ökonom vor allem durch arbeitgebernahe Positionen hervor. 2013 bezeichnete er die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn <link https: www.bild.de news standards bild-kommentar kommentar-christoph-schmidt-29721230.bild.html _blank external-link>in einem Gastbeitrag für die "Bild"-Zeitung als "Spiel mit dem Feuer". Die Argumentation: "Jeder Arbeitsplatz muss sich wirtschaftlich tragen, sonst fällt er weg. Daher muss der Mindestlohn niedrig angesetzt werden: 8,50 Euro ist entschieden zu hoch." 

Dass sich die Schwarzmalerei vom Mindestlohn als Beschäftigungsbremse nicht im mindesten bewahrheiten sollte und er mit seiner Prognose völlig daneben lag, tat Schmidts Expertenruf als oberster Wirtschaftsweiser der Nation keinen Abbruch. Er will außerdem den Kündigsschutz weiter lockern, und die Rente mit 67 ist für ihn "nicht zukunftsfähig".

Laut dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Baden-Württemberg hätten "diejenigen, die sich nun als Speerspitze vermeintlicher Beschäftigteninteressen inszenieren, ausschließlich die betrieblichen Interessen im Sinn". Pressesprecherin Andrea Gregor erläutert im Gespräch mit Kontext, dass zwar das Narrativ bemüht werde, mehr Flexibilität stelle eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten dar. "Dabei wird aber ausgeblendet, wer die Gestaltungshoheit über die Arbeitszeiten hat." In der betrieblichen Realität werde das meist nicht gleichberechtigt ausgehandelt, sondern vom Arbeitgeber bestimmt. "Für den Einzelnen ist es dann in der Praxis schwierig, sich diesen Vorgaben ohne negative Konsequenzen zu widersetzen."

Und auch der DGB-Landesvorsitzende Martin Kunzmann schreckt nicht vor deutlichen Worten zurück: "Berge unbezahlter Überstunden, Arbeit auf Abruf, permanente Arbeitsverdichtung sowie gravierende Mängel beim Arbeits- und Gesundheitsschutz – das sind doch die Probleme, unter denen viele Beschäftigte jeden Tag leiden." Für Kunzmann wäre es wichtiger, hier den Hebel anzusetzen und lieber gegen bestehende Rechtsbrüche bei der Überschreitung maximaler Arbeitszeiten vorzugehen, "anstatt auf die Legalisierung von zwölfstündigen Mega-Schichten zu dringen". Nach Einschätzung des DGB sei das Arbeitszeitgesetz in seiner bestehenden Form zudem "alles andere als verstaubt". Und "hochflexible Arbeitszeitmodelle" mit "vielen Ausnahmemöglichkeiten für verschiedene Berufe und Branchen" ermögliche das Gesetz schon heute, "vom Gleitzeitkonto, über Lebensarbeitszeitkonten und mobiles Arbeiten bis hin zu Wahlmöglichkeiten zwischen Geld und Zeit" (<link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne schoene-neue-arbeitswelt-5053.html _blank internal-link>Kontext berichtete). 

Im Interview mit den StZN will Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut zwar "ganz klar betonen", dass es ihr "nicht um eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit" gehe. So solle die "durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit" unberührt bleiben, und was darüber hinausgehe, müsse "wie bisher innerhalb einer Sechsmonatsfrist ausgeglichen werden". In Österreich, wo der 12-Stunden-Tag seit dem vergangenen Herbst bereits Realität ist, zeigt sich jedoch, dass die Belastung für viele Beschäftigte seither drastisch zugenommen hat.

Erzwungene Freiwilligkeit

Im Nachbarland wurden Warnungen vor einer Verlängerung der Arbeitszeiten als Panikmache und Schmutzkampagnen abgetan. Die Regierungsparteien ÖVP und FPÖ versprachen zudem, dass die Änderungen auch im Interesse der Beschäftigten stünden, Stichwort: Flexibilisierung. Die Bereitschaft zum 12-Stunden-Tag sei zudem freiwillig. Doch nur wenige Wochen nach Inkrafttreten der Gesetzesänderungen deckte die österreichische Bundesarbeitskammer (AK) bereits extreme Missbrauchsfälle auf. "Das Recht auf freiwillige Ablehnung von Mehrarbeit ist nichts wert", bemängelte der Tiroler AK-Präsident Erwin Zangerl <link https: www.sn.at wirtschaft oesterreich _blank external-link>in den "Salzburger Nachrichten". Vielmehr, wird er im Bericht zitiert, werde "systematisch" versucht, die Mehr- und Überstundenregelung zu umgehen.

So veröffentlichte die AK Auszüge aus Dienstverträgen, in denen es heißt: "Der Arbeitnehmer erklärt seine ausdrückliche und freiwillige Bereitschaft, bei Vorliegen eines erhöhten Arbeitsbedarfes eine Tagesarbeitszeit von bis zu 12 Stunden sowie eine Wochenarbeitszeit von bis zu 60 Stunden leisten zu wollen." Wie eine Sprecherin der AK gegenüber Kontext prognostiziert, werde sich das Ausmaß der Problematik in den kommenden Monaten noch deutlicher abzeichnen: "Viele Menschen wollen weiterhin in ihrem Job arbeiten und durchhalten, bis es nicht mehr geht." Es sei aber davon auszugehen, dass immer mehr Beschäftigte unter der zunehmenden Arbeitslast zusammenbrächen. Denn selbst wenn, wie gesetzlich vorgeschrieben, ein Ausgleich der Arbeitszeiten innerhalb von sechs Monaten erfolge, würde die extreme Belastung in den 12-Stunden-Schichten langfristig an der Gesundheit zehren.

"In Sachen Arbeitszeit wurden die Forderungen der Industriellenvereinigung fast wortgleich ins Koalitionsprogramm übernommen", berichtet der "Tagesspiegel" über die Gesetzgebung der Regierung unter Sebastian Kurz. Eine Kostprobe aus dem Koalitionsvertrag: "Flexible Arbeitszeitmodelle sind unter Bedachtnahme auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen im Sinne einer Win-win-Situation auszubauen." Das klingt bekannt: Angeblich sollten alle profitieren. Und an anderer Stelle klingt es fast, als habe man beim Wirtschaftsweisen Schmidt abgeschrieben: "Die österreichischen Arbeitszeitregelungen sind deutlich restriktiver, als die Europäische Arbeitszeit-Richtlinie vorgibt." (Zur Erinnerung die Schmidtsche Variante: "Sie [die Regelungen zur Arbeitszeit] sind deutlich restriktiver, als es die EU-Arbeitszeitrichtlinie zulassen würde"). Übrigens: Wie auch in den Worten der baden-württembergischen Wirtschaftsministerin hieß es damals aus Österreich, an der wöchentlichen Durchschnittsarbeitszeit werde sich nichts verändern.

Weniger Arbeit ist besser als mehr

Ein Blick auf die Wortwahl hierzulande und den grün-schwarzen Koalitionsvertrag. Leicht paraphrasiert wird die Absicht, das Arbeitsrecht zu deregulieren, dort im Abschnitt "Für eine moderne Arbeitswelt" wie folgt ausformuliert: "Wir stehen dafür, dass den Wünschen der Beschäftigten nach mehr Arbeitszeitsouveränität und den Flexibilitätsanforderungen der Arbeitgeber Rechnung getragen und vorhandene Hürden abgebaut werden." Die Begriffe "Arbeitszeiten", "Arbeitszeitmodelle" und "Arbeitszeitregelungen" tauchen insgesamt fünf Mal auf, und nur einmal haben die Autoren vergessen, dazuzuschreiben, dass diese doch bitte flexibel sein sollen.

Doch nicht nur der DGB bezweifelt, dass die Beschäftigten tatsächlich von einem von der CDU flexibilisierten Arbeitsrecht profitieren würden. Im Landtag bezeichnete der SPD-Fraktions- und -Landesvorsitzende Andreas Stoch den Vorstoß und die Argumentation von Ministerin Hoffmeister-Kraut als "Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer", das Land brauche Beschäftigte, "die unter würdigen Bedingungen arbeiten und nicht als flexibilisierte Arbeitstiere gezählt werden".

Anfang November vermeldeten zwei CDU-Abgeordnete vorschnell, die grün-schwarze Landesregierung habe sich auf Initiative der Union bereits "auf Eckpunkte zur Flexibilisierung der Wochenarbeitszeit geeinigt". <link https: www.stuttgarter-zeitung.de inhalt.flexible-arbeitszeiten-viel-wirbel-um-eine-voreilige-erfolgsmeldung.71c78d0a-413c-4197-8880-c2eda941d2dd.html external-link-new-window>Sie mussten allerdings zurückrudern, nachdem der Koalitionspartner davon gar nichts mitbekommen hatte. Auf Anfrage von Kontext positioniert sich die Fraktion der Grünen nun gegen den Vorstoß der Wirtschaftsministerin: "Eine pauschale Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeit auf 12 Stunden lehnen wir ab. Für uns steht der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Vordergrund. Das gilt auch für eine mögliche Erhöhung der zulässigen Wochenarbeitszeit", sagt Andrea Lindlohr, die wirtschaftspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag. Tatsächlich biete das bisherige Arbeitszeitgesetz bereits eine Reihe von Möglichkeiten, flexiblere Arbeitszeiten zu vereinbaren, etwa im Bereich der Landwirtschaft, der Pflege und Gesundheitsberufe und im Ruf- und Bereitschaftsdienst. "Wir sind bereit, dort Flexibilisierungsmöglichkeiten zu diskutieren, wo sie nach Ansicht der beteiligten Tarif- und Betriebsparteien gebraucht werden. Darum ist es für uns der richtige Weg, die Rolle der Sozialpartner im Arbeitszeitgesetz zu stärken", sagt die Grüne.

Und Bernd Riexinger, der Voristzende der Linkspartei, kommentiert: "Mit ihrer Forderung macht sich die Wirtschaftsministerin zur Handlangerin der Arbeitgeberverbände." Stattdessen solle die wöchentliche Arbeitszeit laut dem Stuttgarter Bundestagsabgeordneten besser reduziert werden, etwa auf 30 Stunden, sodass "Leben und Arbeiten, Verantwortung und Zeit für Kinder und Freundschaften und gesellschaftliches Engagement in Einklang gebracht werden können."

Eine solche Tendenz, die Arbeitszeiten lieber zu verringern als auszubauen, ist derzeit in Skandinavien zu beobachten. Im November 2017 berichtete Reinhard Wolff <link https: www.taz.de _blank internal-link>in der "taz" über Erkenntnisse aus Schweden: "Hier gilt der Achtstundentag schon länger nicht mehr als der Weisheit letzter Schluss. Man hält auch nichts von einer 'Flexibilisierung', die die tägliche Arbeitszeit faktisch nur ausweiten würde. Allerdings haben die Skandinavier gute Erfahrungen mit dem Sechsstundentag bei gleichem Lohn gemacht." 

Der verblüffende Befund, den Modellversuche im Pflegebereich lieferten: Bei verringerter Arbeitszeit stieg die Produktivität. Denn ArbeitnehmerInnen, die weniger unter Stress leiden, sind motivierter, zufriedener, seltener krank und ihnen unterlaufen weniger Fehler. Eine echte Win-win-Situation.


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4 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 10.01.2019
    Antworten
    N. Hofmeister-Kraut (CDU), Wirtschaftsministerin – M. Kunzmann (DGB Landesvorsitzender) –
    A. Stoch (SPD-Fraktionsvorsitzender) – A. Lindlohr (Grüne, wirtschaftspolitische Sprecherin) –
    B. Riexinger (Linkspartei Vorsitzender)
    *** Dafür dagegen zu sein, oder dagegen dafür zu sein? ***

    Fragestellung,…
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