Vielleicht wird am Ende alles ganz anders sein und das größte Verdienst der Sozialdemokraten, dem Thema zu einem angemessenen Stellenwert verholfen zu haben. Denn beim Startschuss zum ersten Volksbegehren, das nach den in der vergangenen Legislaturperiode von Grünen und SPD erleichterten Regeln stattfindet,verdeutlicht: Bisher sind vor allem direkt Betroffene zum Engagement bereit, mit ganz wenigen Ausnahmen. Drei Sätze hin, zwei Sätze her, und schon hat die schwangere junge Frau beim SPD-Stand auf dem Schlossplatz unterschrieben. Eine Familie will weitere Bögen mitnehmen, um sie im Freundeskreis zu verteilen. Der Vater aus Marbach rechnet vor, dass eine Betreuung ihn 750 Euro im Monat kosten würde. Also verzichtet seine Frau vorerst auf den beruflichen Wiedereinstieg. Kein Wunder, dass sich neben dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sogar die IG Metall an die Seite der GenossInnen stellt. Bezirksleiter Roman Zitzelsberger, selbst Sozialdemokrat, unterstreicht nicht nur den Nutzen für jene Kinder, die es ohnehin am nötigsten hätten. Sondern auch den für die Eltern, die arbeiten gehen können, während ihr Kind in der Kita ist.
Nicht wenige PassantInnen äußern allerdings ihren Unwillen über das SPD-Anliegen, das so vielen Familien unter den Nägeln brennt. "Für uns hat auch niemand gezahlt", reagiert eine weißhaarige Dame schnippisch. Ein älterer Herr lehnt weitere Informationen ab, weil seine Enkel schon aus der Schule sind. Ein anderer nennt direkte Demokratie "Mumpitz". Für Andreas Stoch, den <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik per-volksbegehren-aus-dem-tal-der-traenen-5519.html internal-link-new-window>neuen starken Mann der schwächelnden Südwest-SPD, wird genau anders herum ein Schuh draus: Instrumente wie die Volksabstimmung seien "genau für den Fall geschaffen worden, dass die Auffassung im gewählten Parlament eine andere ist als in der Bevölkerung". Mit der Bürgerschaft will er durchsetzen, wofür es im Landtag keine Mehrheit gibt.
Noch ist das Wunschdenken. Den ersten Schritt, die 10 000 Unterschriften für den Antrag auf ein Volksbegehren im Innenministerium, wird die SPD angesichts ihrer 36 000 Mitglieder im Südwesten zwar zügig gehen können. Ob die 770 000, die in der nächsten Etappe nötig sind, ebenfalls zusammenkommen, bleibt aber vorerst mehr als ungewiss. "Wir haben uns viel vorgenommen", weiß Generalsekretär Sascha Binder. Mit dem Volksbegehren werbe seine Partei nicht allgemein für mehr Gerechtigkeit, sondern mit einem ganz konkreten Projekt. Vor allem die Wochen bis zum 26. Mai zählen, wenn wegen Kommunal- und Europaparlamentswahlen in den Fußgängerzonen ohnehin Stände stehen werden. Immerhin hat die SPD in Städten, Gemeinden und Kreisen landesweit vor fünf Jahren knapp 18 Prozent geholt, die jetzt gegen den Abwärtstrend verteidigt werden sollen. OptimistInnenen träumen sogar davon, in Stuttgart künftig wieder mit mehr als nur neun GemeinderätInnen im Rathaus vertreten zu sein.
Thema verschwand aus dem Koalitionsvertrag
Dass es um die soziale Gerechtigkeit nicht gut bestellt ist – und vor allem um das Bewusstsein dafür bei nicht betroffenen Mitbürgern –, zeigen schon die ersten Reaktionen von CDU und FDP, und selbst die von den Grünen und natürlich auch die der Arbeitgeberverbände. "Die Forderung nach einer generellen Kostenfreiheit ist die falsche Schwerpunktsetzung", urteilt Stefan Küpper von den Arbeitgebern im Land – ganz so, als sei der Fachkräftemangel überhaupt kein Thema. Vielmehr müssten weiterhin der zahlenmäßige Ausbau der Kita-Plätze, flexible Betreuungszeiten und die Qualitätssteigerung im Vordergrund stehen. Brigitte Lösch, Stuttgarter Landtagsabgeordnete für die Grünen, wird noch deutlicher: "Die Gießkannen-Politik der SPD lehnen wir ab." Eine generelle Kita-Gebührenfreiheit sei nicht finanzierbar. Außerdem absorbiere sie Gelder, die dringend für Qualitätsentwicklung und -sicherung benötigt würden. Niedrigere Gebühren oder sogar Gebührenbefreiung müsse es "ganz gezielt für armutsgefährdete Familien geben". Offen bleibt dabei, wieso diese nicht schon längst eingeführt sind – seit 2011 regieren die Grünen, haben es aber nicht geschafft, den Wildwuchs in Städten und Gemeinden zu beschneiden.
Denn schon seit PISA und dem Anfang des Jahrtausends ist bekannt, wie schlecht das Land dasteht bei den Aufstiegsmöglichkeiten durch Bildung. Diese waren CDU und FDP lange Zeit weniger wichtig als gute Noten in den wichtigen Fächern. Das trug dazu bei, dass in weiten Kreisen bis heute kaum Problembewusstsein für frühkindliche Bildung entstand. Eher im Gegenteil: Viele Eltern halten diese Art von dreigliedrigem Kastenwesen im Schulsystem bis heute für richtig. Die Grünen hatten anno 2010 mit hauchdünner Mehrheit gebührenfreie Kitas abgelehnt. Und der Koalitionsvertrag mit der SPD von 2011 beschränkte sich auf die Feststellung, dass Gebührenfreiheit "wichtig ist", zunächst "aber der Ausbau von qualitativ hochwertigen Betreuungsangeboten gemeinsam mit den Kommunen vorangebracht werden muss".
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era rasch
am 12.01.2019