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Der letzte Guss in der heißen Kiste

Der letzte Guss in der heißen Kiste
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Mehr als hundert Jahre alt war sie, die Heidenheimer Gießerei. Im Sommer 2013 war Schluss, 125 Menschen wurden auf die Straße gekippt. Sie haben nicht nur ihre Arbeit, sondern auch den "Ort des Zusammenhalts" verloren, schreibt Jörg Hofmann, der Vorsitzende der IG Metall, in dem bewegenden Buch "Der letzte Guss". Die Geschichte von Voithianer Walter veröffentlicht Kontext vorab.

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"Was ich durchgemacht habe, um über die Runden zu kommen!" Eigentlich wollte Walter über die düstere Odyssee nach der Betriebsschließung, über die demütigenden Aufenthalte in Wartezimmern, über die herablassende Behandlung in Behördenstuben mit niemandem mehr reden. Nicht mit den Nachbarn in der Siedlung, die er sonst so gerne um sich hatte, nicht mit Freunden und Bekannten. Nicht mit seiner Familie. Er hatte sich zurückgezogen, hatte sich regelrecht abgekapselt. Aber dann beginnt er doch zu erzählen.

Als das Werk dicht gemacht wurde, war er noch keine 60 Jahre alt und hatte bereits 45 Jahre Arbeit in der Gießerei auf dem Buckel. Schwere Arbeit. Mit vierzehn Jahren begann er dort seine Lehre als Modellschreiner. Modellschreiner war er geblieben bis zum letzten Tag. "Ich hatte immer wieder Angst um den Arbeitsplatz", erinnert er sich im Rückblick, es waren schwierige Zeiten. "In Zehn-Jahres-Schritten wurde Personal abgebaut. Dann war ganz Schluss." Er schüttelt abwesend den Kopf. Eine Insolvenz hatte er schon einmal durchgemacht. Er weiß, wie sich das anfühlt, wenn die Listen kursieren, auf denen Namen stehen. Damals ging es für ihn weiter. Doch jetzt war die Hoffnung verbraucht.

Nach seiner Entlassung hatte man ihm zu verstehen gegeben, er sei halt ein "blöder Jahrgang". Das war eine bittere Wahrheit. "Du bekommst Arbeitslosengeld, aber die Rente frühestens mit 63". Es ist klar, was das bedeutete: "Das ist der Dank für 45 Jahre Arbeit". Also arbeitslos. Bewerbungen schreiben. Keine Antworten. Ablehnungen. Zu alt. Zwei Mal bekam er Unterlagen von fremden Menschen zurückgeschickt. Der Gang zum Briefkasten wurde eine Qual. Eine Bewerbung kam nach fünf Jahren wieder zurück. Bisher hatte er eine anspruchsvolle Arbeit im Team geleistet, jetzt war er alleine und machte die zermürbende Erfahrung, machtlos und eine Nummer zu sein.

Obwohl er nicht mehr zur Arbeit ging, fühlte er sich müde, konnte nicht mehr schlafen, kam sich elend nutzlos vor. Die Sorge ums Überleben ließ ihn gereizt werden. Zuweilen sogar aggressiv. Für sein Umfeld wurde er anstrengend. Das hat alle extrem belastet. Ihn selbst auch, aber er wusste einfach nicht mehr, wie es weitergehen sollte, suchte schließlich seinen Hausarzt auf. "Wie erklär' ich das dem Mann", fragte er sich auf dem Weg dorthin, denn er war in den 45 Jahren fast nie krank gewesen. Der Hausarzt hörte gut zu, verstand den Schmerz, der in ihm wühlte und schrieb ihn krank. Also galt er als nicht mehr arbeitsfähig. Er bekam Krankengeld. Das war überhaupt nie sein Ziel. So grotesk es sich anhörte: Er konnte für ein paar Wochen durchatmen.

Die Krankenkasse meldete sich umgehend, zweifelte an seiner Arbeitsunfähigkeit. "Psychoanrufe" nennt er die penetranten Telefonate. Klare Ansage: Er sei verpflichtet, an seiner Genesung aktiv mitzuarbeiten und solle zum Psychologen gehen. Doch an welcher Krankheit leidet man, wenn man nach 45 Jahren auf der Straße steht und keine Perspektive hat? Er, ein sportlicher Typ, von außen betrachtet kerngesund. Es folgte die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Erster Satz des Gutachters mit einem seidenen Lächeln im Gesicht: "Sie können ja noch zehn Jahre arbeiten!" Meinte der das tatsächlich ernst? Fortan nennt er den Gutachter nur noch "Giftzwerg". Giftzwerg blättert in den Unterlagen und fasst zusammen: "Bei Ihnen steht zu wenig in den Unterlagen. Folglich sind sie arbeitsfähig. Sie können arbeiten gehen." Das Krankengeld drohte gestrichen zu werden. Ihn erfasste existentielle Panik.

Umgehend begibt er sich in psychiatrische Behandlung, nimmt Hammermedikamente gegen die nun immer ausgeprägteren depressiven Symptome. Nur die Psychoanrufe der Krankenkasse lässt er sich nicht mehr gefallen. Sein entschiedener Ton am Telefon zeigt schließlich Wirkung. Sie lassen ihn erst mal in Ruhe. Eine Psychologin im Piratenlook empfängt ihn auf dem Sofa. Therapiestunden. Er ist es nicht gewöhnt, über sich zu reden. Bringt ihr Pralinen mit. Sie freut sich über die nette Geste. "Was soll ich sagen?" Das Reden tut ihm trotzdem gut. Der Schmerz findet seine Worte.

Wieder Gutachten beim Giftzwerg. Dasselbe seidene Lächeln. Dasselbe Ergebnis: arbeitsfähig. Er legt Widerspruch ein. Das Gutachten wird durch den Medizinischen Dienst überprüft. Giftzwerg ist nicht mehr da. Die neue Gutachterin zeigt die notwendige Sensibilität und rät zur Reha. 

Drei Wochen ist er in der Reha. Für ihn ist es keine einfache Zeit, denn er trifft auf Leute, denen es noch schlechter geht. Jede freie Minute läuft er durch den Wald, läuft und läuft wie besessen, bekommt das Gefühl, dass der Boden unter den Füßen langsam trägt. Danach wieder zur Agentur für Arbeit, dieses mal Reha-Beratung. Falsches Zimmer, falscher Name. Der Kollege war aber enorm hilfreich.

Jetzt endlich in Rente. Dort, wo die Gießerei stand, dort wo er 45 Jahre mit einer verschworenen Gruppe von Kollegen komplexe Formen gebaut hat, hängen viele Erinnerungen. Gute und schlechte, betont er nachdenklich. Der Mutterkonzern gibt viel Kohle als Sponsor für den Fußball. "Für uns hatten sie damals nichts übrig. Wir hätten nur einen kleinen Teil der Sponsoring-Gelder gebraucht." In einem süffisanten Leserbrief hat er mal geschrieben, man solle die Gießerei in "Arena" umbenennen. Für Arenen gäbe es schließlich locker Geld. Doch all das ist längst Geschichte. Den kritischen Journalisten von der Zeitung haben sie sowieso nicht mehr auf das Gelände gelassen.

Der Zusammenhalt der Kollegen war super. Das wird ihm immer in Erinnerung bleiben. Der größte Rückhalt war in all den schwierigen Jahren der Betriebsrat. Der hat immer für die Kollegen gekämpft. Fünf oder sechs Geschäftsführer hat er überlebt. Jeder hatte neue Ideen und Flausen im Kopf. "Es wäre gut gewesen, wenn die mal auf uns und auf unseren Betriebsrat gehört hätten. Dann wäre es nicht soweit gekommen." Davon ist er überzeugt. Und fügt bitter hinzu: "Oder wollten sie es überhaupt anders?" Manchmal überkommt ihn dann der Hass auf die Verantwortlichen. Sie haben das Ende der Gießerei auf ihrem Gewissen.

"Jungen Leuten würde ich als Erfahrung von damals mit auf den Weg geben: Kämpft in eurer Firma miteinander und nicht gegeneinander. Gemeinsam seid ihr stark gegen die Chefs. Lasst nicht alles mit Euch machen. Geht in die Gewerkschaft. Kämpft für euch um Gerechtigkeit. Sonst wären wir in der moderneren Sklavenzeit, die nur der Firma was bringt und nicht euch." Es sind nicht die gewohnten Sätze aus Kundgebungen, die er von sich gibt, es sind keine Phrasen. Es ist das Resumee eines bewegten Berufslebens mit zwei Insolvenzen und einer Entlassung. Er lehnt sich zurück. Man kann ihn verstehen.

"Ich fang jetzt langsam wieder an", meint er zum Schluss. Er sitzt jetzt wieder öfter mit den Nachbarn in der Siedlung zusammen, geht raus, redet. Die Nächte sind erholsam. Und er muss nicht mehr befürchten, dass am Ende des Monats kein Geld mehr kommt. Über allem freut er sich an seiner Enkelin. Die ist dreieinhalb Jahre alt und hat ihm in den letzten Jahren mit ihrer ausgelassenen Lebendigkeit viel geholfen. "Ja, jetzt fang ich langsam wieder an", sagt Walter.


Rolf Siedler und Joachim E. Röttgers: Der letzte Guss. Herausgegeben von der Katholischen Betriebsseelsorge Aalen, Einhorn-Verlag Schwäbisch Gmünd, 2018, Preis 19,80 €.
Autoren und Herausgeber stellen das Buch am 4. Dezember, 19.30 Uhr, in der Stadtbibliothek Heidenheim vor.


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