Ein Viertel der Kinder fällt also schon mit zehn in die Kategorie Minderleister, wenn es um die Fähigkeit zum sinnerfassenden Lesen geht. Seit 2001 wird die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) – oder Progress in International Reading Literacy Study (PIRLS) genannt – durchgeführt. Nach den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz sollte die regelmäßige Teilnahme an Vergleichsstudien, allen voran PISA, nicht nur Erkenntnisse zu den "Wissens- und Fertigkeitsbeständen" bringen, sondern zudem ermöglichen, von anderen zu lernen. Tatsächlich orientiert sich Baden-Württemberg mittlerweile gerade in puncto Leseförderung unter anderem an Hamburg, das mittlerweile im Ranking der 16 Bundesländer einen Spitzenplatz erobert hat. Vom Herbst an wird unter anderem lautes Vorlesen für alle zum Wochenprogramm gehören.
Im Prinzip ist an Vorbildern kein Mangel. Der genauere Blick nach Singapur, Kanada oder Finnland zeigt indes, wie kompliziert die Kopie von Erfolgsmodellen ist angesichts unterschiedlichster Voraussetzungen. So ist schon seit der ersten PISA-Studie bekannt, dass finnische Kinder und Jugendliche auch deshalb schnell Lesen lernen, weil internationale Filme und Serien nur untertitelt, nicht aber synchronisiert werden. In Singapur kommen viele Sechsjährige schon lesend aus der verpflichtenden Vor- in die sechsjährige, zweisprachige Grundschule. In Kanada ist Heterogenität eingepreist, weil es im öffentlichen System bis in hohe Klassen in der Regel keine freie Schulwahl gibt, der Bildungserfolg gilt als in vorbildlicher Weise entkoppelt von der Herkunft. Hinzu kommen gravierende Unterschiede in der Finanzierung. Im OECD-Vergleich stecken viele Staaten sehr viel mehr Geld als die Länder im föderalen Deutschland in die ersten Vorschul- und Schuljahre. Baden-Württemberg leistet sich gerade zum x-ten Mal die Diskussion, warum Grundschullehrkräfte nicht endlich genauso bezahlt werden wie ihre Kolleg:innen im Gymnasium.
Was will der Kaiser von China?
Gekennzeichnet ist die öffentliche Diskussion im IGLU aber auch von Wissenslücken. Denn Hand aufs Herz: Wer weiß genauer, was Zehnjährige eigentlich leisten müssen, um eine der beiden höheren von insgesamt fünf Kompetenzstufen der IGLU-Studie zu erreichen. Und um nicht in jene Kategorie der Leseschwachen und -schwächsten zu fallen, über die gerade einmal mehr heftig diskutiert wird in Deutschland. Die zur Bearbeitung vorgelegten Texte, die einen erzählend, die anderen informierend, sind jedenfalls alles andere als trivial. Selbst wer die unterdurchschnittliche Stufe zwei erreichen will, muss "explizite Informationen identifizieren und zur lokalen Kohärenzherstellung in der Lage sein".
Zum Beispiel auf Basis der 15 Absätze langen Geschichte vom leeren Topf, in der der Kaiser von China einen Wettbewerb veranstaltet, um seinen Nachfolger zu finden. Detailliert wird beschrieben, wie er Samenkörner ausgibt, wie es sprießt im ganzen Dorf, in den Töpfen von Cheun, Ming oder Wong. Nur Jun bekommt nichts zustande und muss fast weinen, als er vor den Kaiser tritt. Der dröhnt: "Aus den Samenkörnern, die ich euch gegeben habe, konnte nichts wachsen, weil alle diese Samenkörner abgekocht wurden." Und dann lächelt er Jun an. Die Tests, die für die aktuelle Studie zwischen April und Juli 2021, also im zweiten Corona-Schuljahr, stattfanden, dauern circa fünf Stunden, inklusive Auf- und Abbau der Laptops und etliche Pausen. Das verlangte Ergebnis ist leicht fasslich beschrieben: "Die Kinder müssen verstehen, dass die offizielle Aufgabe des Kaisers nur dazu dient, die Ehrlichkeit der Teilnehmenden zu testen und denjenigen zu finden, der nicht durch Schummeln einen Sieg erschleichen will."
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Jue.So Jürgen Sojka
am 31.05.2023Der SWR Meinungsmacher Martin Rupps am 25.05.2023 DRAMATISCHE LAGE AN GRUNDSCHULEN
Grundschulen 2023 - Friss oder stirb https://up.picr.de/45750296re.pdf -meine Kommentare-