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Schulen

Weg mit der Gießkanne

Schulen: Weg mit der Gießkanne
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Erstmals in der Landesgeschichte sind die Grünen für Baden-Württembergs Bildungspolitik zuständig. Dass die Erwartungen gewaltig sind, weiß auch die neue Kultusministerin Theresa Schopper. Ideologische Debatten will man vermeiden. Trotzdem steht Ärger ins Haus.

Die CDU hat in ihrem zweiten Koalitionsvertrag mit den Grünen vieles unterschrieben, was mit dem eigenen Wahlprogramm wenig zu tun hat – in der Klima- und in der Verkehrspolitik, bei Energiewende und Schuldenbremse. Einiges wird Auslegungssache werden und anderes schon aus Finanzierungsgründen nicht so heiß gegessen wie gekocht. Manches wiederum ist so formuliert, dass kein Platz ist für Interpretationskämpfe. "Die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg steht im Zentrum unserer gemeinsamen Politik", heißt es beispielsweise im Grundschulkapitel. Deshalb wolle die Landesregierung "in eine sozialindexbasierte Ressourcenzuweisung einsteigen und dabei unterschiedliche Voraussetzungen von Standorten unterschiedlich behandeln". Im Klartext: Schulen für Kinder vom Killesberg müssen künftig mit weniger Unterstützung auskommen als solche auf dem Hallschlag.

Die Idee ist alt. Und zwar so alt, dass es einer ganzen Generation von CDU-BildungspolitikerInnen peinlich sein müsste, nicht weitergekommen zu sein auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit. Schon 1970 gibt die Kultusministerkonferenz (KMK) als Leitlinie für die Arbeit vor allem an Grundschulen aus, dass auch die Politik Verantwortung "für eine solidarische Kultur des Aufwachsens und der Bildung" trägt. Mehrfach werden die Beschlüsse fortgeschrieben, bis sie 2007 in eine Selbstverpflichtung der KMK münden, "ungleiche pädagogische Ausgangslagen in der Schulfinanzierung ungleich zu behandeln".

Nicht so im Südwesten. Die ohne Zweifel auch für ihre konservative Bildungspolitik immer wieder gewählte CDU übersetzte solche Vorgaben zunächst in das unerreichte Ziel, die Zahl der AbbrecherInnen in fünf Jahren zu halbieren. Später werden mit erheblichem Kostenaufwand Haupt- zu Werkrealschulen aufgewertet und beharrlich alle Studien negiert, ignoriert oder diskreditiert, die längeres gemeinsames Lernen und Lehren als einen Schlüssel zum Bildungsaufstieg erwiesen. Vor allem aber gehörte es zum Weltbild, die peinlichsten Ergebnisse von Studien kleinzureden, in denen Baden-Württemberg gegenüber anderen OECD-Staaten oft ganz schlecht abschnitt. Wenn PISA, IGLU oder TIMMS auch nur einen Abstieg beim Lesen, in Mathe oder den Naturwissenschaften belegten, war die Aufregung zwar groß, doch zugleich kam das Versagen in Fragen des Bildungsaufstiegs über eine Fußnote nicht hinaus.

Schulen in schwierigem Umfeld brauchen mehr Geld

Dabei war der überdurchschnittlich starke Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und den ermittelten Kompetenzen längst nachgewiesen. "Durch das starre Festhalten an früher sozialer Selektion", kritisierte der damalige SPD-Fraktionschef Wolfgang Drexler schon vor 16 Jahren, "verbaut die Landesregierung vielen Kindern aus sozial schwächeren Familien die Chance auf einen höheren Bildungsabschluss und damit die Hoffnung auf eine bessere Berufs- und Lebensperspektive."

Nach dem Motto "weg mit der Gießkanne" soll jetzt die weitgehend undifferenzierte Ressourcenverteilung durch die Schulverwaltung überwunden werden. Theresa Schopper, Nachfolgerin von Susanne Eisenmann (CDU), verantwortet den Paradigmenwechsel. "Es ist einfach wirklich wichtig, den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln", sagt die gebürtige Füssenerin, die 1983 bei den Grünen eingetreten ist und in Bayern Landesvorsitzende und Landtagsabgeordnete war, "denn Baden-Württemberg liefert da schon zu lange zu schlechte Ergebnisse in allen Vergleichsstudien." Dabei sei Bildungsaufstieg der Schlüssel für das weitere Leben. Durchsetzen will sie den Ausbau des Ganztagsangebots, mehr frühkindliche Bildung und sprachliche Förderung und eben jene neue Ressourcenzuweisung.

Von einer Blaupause könnten Landtagsabgeordnete auch schon seit mindestens 15 Jahren erzählen. Etwa von einer Ausschuss-Reise nach Toronto mit seinem "Learning Opportunity Index". Der gehorcht der durchaus erwartbaren Erkenntnis, dass die Schulen im schwierigsten Umfeld die größte Unterstützung brauchen. Die Maßzahlen kommen aus als typisch eingestuften Modellschulen und deren direkter Wohnumgebung. Sie bestimmen die Zusammensetzung der Kollegien bis hin zur Ausstattung von Kunst- und Theater-AGs zwecks Stärkung des Selbstbewusstseins. Die Intervalle unterstreichen die Ernsthaftigkeit: Alle zwei Jahre wird überprüft, ob die Kategorisierung weiterhin stimmt.

Gemeinsam lernen – mehr Bildungsgerechtigkeit

London kann gute Erfahrungen vorzeigen. Nachdem Anfang des Jahrtausends nur noch neun Prozent der SchülerInnen von der öffentlichen Mittelstufe in die Oberstufe wechselten, wurde dort die personelle und finanzielle Unterstützung von Schulen neu geregelt. Die pädagogischen Konzepte wurden modernisiert, indem sie Lehrkräfte anhielten, Kindern viel mehr zuzutrauen. Inzwischen kommen aus öffentlichen Mittelstufen mehr als 70 Prozent der Jugendlichen in der Oberstufe an.

Für Baden-Württemberg soll in einem ersten Schritt herausgefunden werden, wo Bildungsaufstieg heute schon funktioniert. Allein dieser Perspektivwechsel ist nicht einfach, denn bisher sind in vielen Untersuchungen weniger die Erfolge als die Unterschiede dokumentiert. Etwa zwischen Mannheim und Heidelberg, zwei Städten mit sehr ungleichen Schulen, weil auch die Quartiere, in denen sie liegen, so ungleich sind: Hier bleiben Kinder aus Familien ohne deutsche Wurzeln und/oder sozial schwierigen Verhältnissen unter sich und dort das begüterte akademische Milieu.

Das traditionell rot-geführte Mannheim gehört zu den Kommunen im Land, die allein aus eigenen Mittel gegensteuern. "Denn die Ressourcenausstattung, die landesseitig gestellt ist, reicht nicht aus, um die spezifischen Bedarfe vor Ort zu erfüllen und den Bildungs- und Erziehungsauftrag in einer heterogenen und schnellen Veränderungen unterworfenen Gesellschaft zielführend und nachhaltig umzusetzen", beschreibt die frühere Schulbürgermeisterin Ulrike Freundlieb die Ausgangslage. Auf diese Weise binde eine Kommune jedoch "wertvolle Mittel, die an anderer Stelle ebenfalls einen sinnvollen und dringend benötigten Einsatz finden könnten." Bund und Land müssten aktiv werden.

Ab mit den alten Zöpfen

Vorher müssen aber alte Zöpfe ab. Mit der Umstellung der Verteilung und damit der neuen Wertschätzung für Schulen in schwierigem Umfeld werden viele Fragen aufbrechen, um deren Beantwortung sich Grün-Schwarz zwischen 2016 und 2021 herumgedrückt hat. Kommt die Gerechtigkeitsfrage wirklich ernsthaft auf die Tagesordnung, können Grundsatzdebatten nicht ausbleiben, weil längst Stand der wissenschaftlichen Debatte ist, dass die Verteilung der Kinder ab der fünften Klasse auf unterschiedliche Schularten nicht nur teuer, sondern auch noch in hohem Maße ungerecht ist.

Aber die stabile Grüne mit dem herzhaften Lachen, bisher engste Mitarbeiterin von Winfried Kretschmann, weiß umzugehend mit Widerständen, Gegenwind und Niederlagen. Etwa als ihr 2013 die Partei ein sicheres Listenmandat verweigerte und sie den Einzug in den Landtag verpasste. Ihre Rolle im Stuttgarter Staatsministerium beschrieb Theresa Schopper einmal als Sherpa, genauer als Sherpani, als Hochgebirgsexpertin in schwierigem Gelände: "Telefonieren und kommunizieren, koordinieren, politische Strategien verfolgen, Entscheidungen vorbereiten, Entwicklungen anstoßen, das alles mache ich sehr gerne." Immerhin eine zentrale Gruppe unter jenen, die Reformen akzeptieren müssen, hat ihr in den Kopfnoten ein erstes gutes Zeugnis ausgestellt. Sie begegne ihren GesprächspartnerInnen mit Wertschätzung, heißt es im Landeselternbeirat, und damit "diametral anders als die Vorgängerin". Auch ein Seitenhieb kann Ansporn sein.


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6 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 22.06.2021
    Antworten
    Weg mit der Kanne zum Gießen?
    Weg mit den Einschränkungen, die zu Beschränktheit führt!!!

    Am Vormittag die Wiederholung von BR alpha aus der Sende-Reihe „respekt“ vom 04.11.2019 Demokratie lernen – was sich an schulen ändern muss https://www.br.de/extra/respekt/demokratie-lernen-demokratieerzi…
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