Den Vogel schoss aber nach dem grünen Machtwechsel von 2011 der heutige CDU-Innenminister Thomas Strobl ab. Seine Erkenntnis: "Vielen Müttern bleibt keine andere Wahl, als halbtags zu arbeiten, weil wir keine Ganztagsschulen haben." Und weiter: "Wir wollen Frauen die Wahlfreiheit ermöglichen, aber davon ist Baden-Württemberg Lichtjahre entfernt." So wie die CDU von moderner Geschlechtergerechtigkeit – die Placebo-Initiative "Frauen im Fokus" zur Aufhübschung des Landesverbands hin oder her.
Bildungspolitisches Verweilen in der Kreidezeit
Wenn Karl-Friedrich Röhm, der Bildungsexperte der kleineren Regierungsfraktion, heute von der Notwendigkeit "familienfreundlicher Verweilzeiten am Nachmittag" als Ergänzung der Ganztagschule spricht, müssten die Grünen eigentlich kollektiv aufheulen. Familienfreundlich? Wer kümmert sich nachmittags um die Kinder? Gerhard Mayer-Vorfelder, noch so ein gesellschaftspolitischer Vordenker der Union, war noch tief in den Neunzigern gegen Ganztagsschulen, weil die nach seiner Ansicht nichts anderes bewirken, als Gattinnen von Ärzten oder Apothekern "Freizeit zur Selbstverwirklichung zu eröffnen". Als Anfang des Jahrtausends die rot-grüne Bundesregierung den Länder Milliarden zum Auf- und Ausbau zur Verfügung stellte, wollte die CDU-/FDP-Regierung in Stuttgart das schöne Geld zunächst gar nicht annehmen.
Es ist eine politische Paradoxie, dass ausgerechnet Eisenmann diesem Denken aufsitzt. Sie warb innerparteilich und im Stuttgarter Gemeinderat für mehr Ganztagsschulen und für die Einsicht, dass alle Mittel dort am effizientesten eingesetzt werden, wo die Standards pädagogisch hoch sind und Unterricht sich rhythmisiert mit Freizeit auf dem Schulhof abwechselt, mit Sport oder Musik. Sie stellte sich sogar gegen eine von der eigenen CDU-Fraktion erdachte Umfrage unter gut 38 000 Eltern in der Landeshauptstadt, die vor allem eines bezweckte: dem Projekt Ganztagsschule Knüppel zwischen die Beine zu werfen durch Verzögerung des Ausbaus. Kurz vor der Landtagswahl 2011 fand Eisenmann eine Mitstreiterin in Kurzzeit-Kultusministerin Marion Schick (CDU), die die Ganztagsschule nach mehr als 25 Jahren aus dem Modellversuch endlich ins Schulgesetz überführen wollte. Sie scheiterte an der Landtagsfraktion.
CDU-Chef Strobl versprach beim Eintritt in die grün-schwarze Landesregierung, das Land "aus der Kreidezeit heraus" zu führen. Tatsächlich bleibt die CDU wie darin festgetackert. Werden ihre BildungspolitikerInnen an die unendliche Verhinderungsgeschichte erinnert oder gar mit dem Abstieg des Landes in Vergleichsstudien konfrontiert, kommt sofort das Beispiel Bayern als Rechtfertigung auf den Tisch: Auch die CSU hält am überkommenen dreigliedrigen Schulsystem fest, auch in Bayern gibt es nur wenige rhythmisierte Ganztagsschulen, und der Schulerfolg aufs Ganze gesehen ist trotzdem groß, wie auch der INSM-Monitor belegt. Bildungsarmut zu verhindern, sei eine der Stärken des Freistaats und mitverantwortlich für den insgesamt zweiten Platz in der Bundesländertabelle. Baden-Württemberg dagegen weise "sowohl in der 4. Klasse als auch in der 9. Klasse einen überdurchschnittlichen Anteil” an sogenannten Risikoschülern auf. Beim Indikator "Förderstruktur" landet das Land auf dem vorletzten Platz.
Da schließt sich der Kreis zur Ganztagsschule, in die bundesweit fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen geht und im Südwesten nicht einmal ein Fünftel. Was gewiss auch mit den Eltern zusammenhängt. Nur haben CDU und FDP über viele Jahre das Ihre dazu getan, diese auf Skepsis und Ablehnung zu trimmen. Nicht auszudenken, wenn auch nur ein Bruchteil des Werbebudgets der Stuttgart- 21-Fans hier investiert worden wäre: in die Aufklärung der Eltern über modernes Schulwesen, über den Abbau von Vorurteilen gegenüber verbindlichen Angeboten und längerem gemeinsamen Lernen.
Und noch eines ist kaum vorstellbar: Dass sich die Grünen besinnen oder wenigstens mal in den Archiven blättern, um sich eigene Überzeugungen in Erinnerung zu rufen. O-Ton Winfried Kretschmann, höchstpersönlich: "Die Bildungspolitik ist nicht nur rückständig, sondern auch sozial ungerecht." Denn nur Eltern "mit dem entsprechenden Geldbeutel" könnten sich Nachhilfe für ihre Kinder leisten, und zu viele andere nicht, "deshalb müssen endlich flächendeckend Ganztagsschule im Land eingeführt werden". Das war 2008. Und ist 2019 aktuell wie nie.
11 Kommentare verfügbar
Sebastian
am 27.08.2019Nun zeigt sich: für die Grünen ist fortschrittliche Bildungspolitik nur ein nice to have.
Wie wäre es damit, dass…