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Krieg und Frieden

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Betrachtet man das politische Gezänk um die Bildungspolitik, wünscht man sich vor allem eins: dass sich alle Beteiligten so verhielten wie ordentliche Schüler – bereit zur Mitarbeit und zum selbstständigen Denken. Dann wäre Baden-Württemberg entscheidend weiter.

"Es herrscht kein Schulkrieg", sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann streng. Krieg nicht, aber Unfrieden, und das seit Jahrzehnten, wofür es etliche Gründe gibt. Bildungspolitik ist unter den wenigen Länderhoheiten die wichtigste. Eltern, Großeltern, Erstwähler und Lehrkräfte können Wahlen entscheiden. Und parteiübergreifend gehört es noch immer zum Selbstverständnis der jeweiligen Opposition, scharf Front zu machen gegen die Regierenden. Noten ja oder nein? Schneller zum Abitur oder nicht? Ganztags- oder Halbtagsschule? Krippen schon für Kinder unter drei? Neuerdings hinzugekommen ist die Frage aller Fragen: Ist die grün-rote Gemeinschaftsschule funktionstüchtig?

Übertrieben zimperlich ist die CDU nicht bei ihren Antworten. Von einem Verbrechen an der jungen Generation sprach der südwürttembergische CDU-Bezirksvorsitzende Thomas Bareiß jüngst auf einem Parteitag, der ihn wenig später mit 98,9 Prozent wiederwählte. "Wir werden dem grün-roten Bildungswahnsinn nicht noch den Segen erteilen", pflichtete Landeschef Thomas Strobl bei.

Zugleich hat die Union Gespräche angeboten. Kretschmann ist ohnehin dialogbereit, SPD-Chef Nils Schmid peilt eine Spitzenrunde in der ersten Novemberhälfte an: "Wenn wir bereit sind, aufeinander zuzugehen, und wenn alle das Wohl unserer Kinder in den Mittelpunkt stellen, dann werden wir am Ende einen Schulfrieden auf Grundlage eines Zwei-Säulen-Modells in Baden-Württemberg schließen können."

Zahlreiche Fachpolitiker und Führungskräfte in der Union, darunter Saarlands Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer oder die frühere Bundesbildungsministerin Annette Schavan, bekennen sich spätestens seit dem Bundesparteitag vor einem Jahr in Leipzig zu ebenjenem Zwei-Säulen-Modell, das aus Gymnasium und einer integrativen Schulform besteht. Ein entsprechender Grundsatzbeschluss wurde auf dringenden Wunsch Baden-Württembergs mit einem Bestandsschutz für Haupt- und Realschulen ergänzt, "wo diese funktionieren und dem Elternwillen entsprechen". Schavan hatte allerdings eine Umfrage dabei, nach der gerade noch zwei Prozent der Eltern ihre Kinder auf eine Hauptschule schicken möchten. Dass schon allein aus demografischen Gründen etwas geschehen muss, meint sie schon lange. Ihre Botschaft: "Viele Schulstandorte können nur erhalten werden, wenn kluge Wege der Zusammenführung gefunden werden."

Das Rad der Geschichte zurückdrehen

Im Land gehen diese Wege 129 Schulen mit mehr als 6000 Kindern, weitere 108 Anträge sind gestellt. Ginge es nach Peter Hauk, dem Chef der CDU-Landtagsfraktion, würde das Rad der Geschichte wieder zurückgedreht. Als Voraussetzung für Friedensgespräche fordert er nicht nur, dass Grün-Rot diese 129 "Einheitsschulen" wieder umbaut, sondern einen "sofortigen Stopp der Einrichtung weiterer Gemeinschaftsschulen" und nichts Geringeres als den "Abschied vom ideologischen Konzept" des neuen Schultyps. Mit voller Absicht legt er die Latte derart doch. Das Interesse am Modell, das Standorte sichert, ist groß bei vielen CDU-Bürgermeistern und Gemeinderäten. Natürlich weiß Hauk, dass die Reform längst Landesgesetz ist und dass, wer die Voraussetzungen erfüllt, gar nicht abgewiesen werden kann. Entsprechend hohl klingt sein Appell: "Die Schule ist der falsche Platz für politische Kraftmeierei und Ideologiespielchen."

Besonders laut zur Jagd bläst Hans-Ulrich Rülke. Der Anführer der sieben wackeren FDP-Abgeordneten im Landtag will zwar Schmids Einladung folgen, wird aber zugleich notorisch von Fantasien geplagt, etwa einer "grünen Einheitsschule, bei der Kinder schon mit der Geburtsurkunde das Abiturzeugnis bekommen". Er wittert hinter der Einführung dieser neuen Lern- und Lehrformen die dämonische Absicht, dass am Ende "keiner mehr bis drei zählen kann und den Brüdern auf die Schliche kommt". Seinem bildungspolitischen Sprecher Timm Kern steht eine Art schulpolitischer Umsturz vor dem liberalen Auge: Jetzt räche sich, dass die Landesregierung bei ihren Reformen "den revolutionären statt den evolutionären Weg gewählt" habe.

Auf den Weg stetiger Weiterentwicklung hatten die Vorgängerregierungen gesetzt, evolutionär und pekuniär. Denn jede Menge Geld sollte das dreigliedrige Schulsystem stützen. Mehr als hundert Millionen Euro sind allein zusätzlich in die Hauptschule geflossen, die Größenvorgaben wurden zugunsten des Überlebens kleiner Standorte im ländlichen Raum gemildert, Schulverbünde konstruiert, Werkrealschulen erdacht und noch kurz vor der Landtagswahl 2011 weiterentwickelt mit dem Slogan "Wir bringen die mittlere Reife aufs Dorf".

Am demografischen Wandel, an der Erkenntnis, dass die Zahl der Schüler und Schülerinnen zwischen 2005 und 2020 um etwa 320 000 zurückgeht, führte keiner dieser Wege vorbei. So wenig wie an der Erkenntnis, dass sich gemeinschaftliche Schulformen in vielen Bundesländern längst etabliert haben – und dies auf dringenden Rat der Fachwelt. Selbst Baden-Württemberg war schon mal weiter. Vor zwanzig Jahren tagte eine hochkarätige Enquêtekommission des Landtags unter dem Vorsitz des späteren Kultusministers Helmut Rau (CDU). Es war die Zeit der Großen Koalition und der damit verbundenen ideologischen Abrüstung. Die Rechtsprofessorin und damalige Stuttgarter CDU-Landtagsabgeordnete Claudia Hübner warb für Kinderbetreuung schon in Krippen, für altersgemischte Gruppen und längeres gemeinsames Lernen: "Pädagogisch integrierten Systemen gehört die Zukunft." Immerhin, danach bequemte sich die CDU zur Genehmigung von Ganztagsunterricht an sozialen Brennpunkten.

Für die Umsetzung anderer Enquête-Empfehlungen, etwa Kindertagesstätten für Drei- bis Zehnjährige, wurden ebenfalls Mittel zur Verfügung gestellt. Zeitlich befristet allerdings, und als verschiedene Finanzierungen Ende des vergangenen Jahrzehnts endgültig ausliefen, war die Stimmung wieder deutlich aufgeheizter. Steuersenkungsrunden, auch solche, die Rote und Grüne verantworten, haben die Mittel verknappt. Immer neue überparteiliche Vereinbarungen, allen voran jene, zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Bildung zu stecken, stehen bis heute vor allem auf dem Papier. Nicht zuletzt arbeiteten sich SPD und Grüne im Land ab an der langjährigen CDU-Kultusministerin Annette Schavan - später Forschungsministerin unter Merkel - und ihrem "Schavanismus". Der Begriff stand für die vielen Baustellen, die sie eingerichtet hatte: vom Abitur nach acht Jahren über die Grundschulfremdsprache bis zur Bildungsplanreform 2004.

Heterogenität als Selbstverständlichkeit

Letztere hätte die Chance zwar nicht zum Frieden, wohl aber zur Wiederannäherung geboten. Die allermeisten der ersten Kollegien, die auf die veränderte Lern- und Lehrkultur setzen, auf Begleitung, darauf, dass Schüler und Schülerinnen Aufgabenniveau samt Zeitbudgets selber wählen, nennen als Basis der Entwicklung die damals geschaffenen Möglichkeiten und Freiheiten. Zumindest dies anzuerkennen wäre wiederum an CDU und FDP. Bereits seit 2004 ist vielerorts der klassische Frontalunterricht in den Hintergrund gedrängt worden, keiner muss seinen Unterricht mehr nach 45 Minuten beenden, viele Projekte wurden gestartet. Eine der ersten Gemeinschaftsschulen, die Elsenztalschule in Bammental, wurde – als sie noch keine war – von Helmut Rau für ihre Innovationskraft ausgezeichnet. Rektor Peter Fanta hat kein Verständnis für den Zwist ums längere gemeinsame Lernen. Für ihn ist "Heterogenität Selbstverständlichkeit und nicht die Ausnahme". Schon seit sieben Jahre wird hier nach neuen Konzepten unterrichtet, in 80-Minuten-Einheiten, mit Grund- und Profilkursen. Nach jeweils zwölf Wochen werden neue Schwerpunkte gewählt. Zeugnisse bewerten vor allem Kompetenzen. Der Rektor beichtet, früher habe er die Vorgaben aus Stuttgart "reichlich gedehnt" – aber Erfolg und Zufriedenheit aller Beteiligten sprächen für sich. 

Auch im Landesinstitut für Schulentwicklung steht den Experten schon lange vor Augen, wie wichtig individuelle Förderung wird und welche Herausforderungen die Heterogenität der Lerngruppen mit sich bringt – und zwar ausdrücklich struktur- und schulartenübergreifend. Ein eben erschienener hundertseitiger Leitfaden führt Lehrkräfte konkret an die Arbeit mit Kompetenzrastern in den Klassen fünf und sechs heran. Schon 2007 hatte der zuständige Landtagsausschuss diese Art des Unterrichts im damals CDU/SPD-regierten Schleswig-Holstein erlebt. Legendär unter Insidern wurde der Merksatz der Baden-Badener CDU-Abgeordneten Ursula Lazarus, so weit komme es noch, dass der Süden von Norden lerne.

Muss er aber, da sind sich viele Fachleute sicher. Zwar schneidet Baden-Württemberg in Sachen Fachwissen in Vergleichstests regelmäßig besser ab als viele andere Länder. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg ist aber nirgends auffälliger als im Südwesten. In Zeiten wachsenden Fachkräftemangels eine besonders schlechte Botschaft. Die Arbeitgeberverbände und das Handwerk, der Städte- und der Gemeindetag verlangen den Schulfrieden. Am besten nach dem Vorbild von Nordrhein-Westfalen: SPD und Grüne auf der einen und die Union auf der anderen Seite hatten sich dort im Juli 2011 auf ein gegliedertes System und integrative Formen geeinigt, Gemeinschaftsschulen inklusive. Bis 2023 wird der Status quo nicht angetastet.

Nachdem Grüne und SPD hierzulande ihre ursprünglichen Maximalpläne verworfen haben, sogar das Gymnasium unter das Dach der Gemeinschaftsschule zu rücken, wäre es jetzt vor allem an der CDU-Fraktion, den Reset-Knopf zu drücken vor solch einem Prozess. Zurück auf Start in der Reformdebatte – weil die von Anfang an falsch eingefädelt war: Im Frühling 2012 lud Hauk zwölf Experten zu einem "Qualitätsabgleich Gemeinschaftsschule", darunter den Schweizer Pädagogen Peter Fratton und den Elternbeiratsvorsitzenden Theo Keck. Fratton, der auch viele Privatschulen berät, darunter die der Unternehmerfamilie Würth in Künzelsau, erläuterte unterschiedliche Reformansätze. Das Problem der Optimierung eines Systems oder einer Struktur sei, "Bestehendes besser machen zu wollen, was aber den Druck auf alle Beteiligten erhöht". Wer Innovationen wage, verlasse dagegen ausgefahrene Wege. Seine Botschaft: "Ein großer Vorteil der Gemeinschaftsschule ist, dass mit ihr eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung entsteht." Keck berichtete, wie das Thema im höchsten Vertretungsgremium der Eltern im Land nicht weniger als vier Mal kontrovers diskutiert und am Ende einstimmig bei einer Enthaltung abgesegnet wurde. "Zu meiner eigenen Überraschung", bekannte der frühere Elitepolizist, der daraufhin prompt persönlich attackiert und der Regierungsnähe verdächtigt wurde.

Ein 35-Seiten-Papier dokumentiert diese Veranstaltung und ist seither die Basis für CDU-Diskussionen über die grün-rote Schulpolitik vor Ort. Keck und die vier anderen Befürworter der neuen Schulform kommen darin gar nicht vor, Fratton ein einziges Mal. Dafür sind 16 Seiten den Gegenargumenten gewidmet. Der Schweizer, eingeladen von der Regierung Kretschmann, die Umsetzung der neuen Lern- und Lehrformen zu begleiten, ist inzwischen im Unfrieden geschieden. Seine Resümee lässt wenig Gutes ahnen für allfällige Kompromissversuche: Er habe die Opposition im Land "total unterschätzt" und eine derart unversöhnliche Stimmung "wie in Baden-Württemberg noch nie erlebt".


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2 Kommentare verfügbar

  • Gelbkopf
    am 03.11.2013
    Antworten
    Ach ja, das politische Gezänk um die Bildungspolitik, das ich seit Jahrzehnten erlebe. Letzte Woche durfte ich anhören (SWR-Abendschau), wie ein gewisser Peter Hauk, Vertreter einer sich christlich nennenden Partei, die Wurzel allen Übels klar benannte, nämlich die Alt-68er, und die würden "jetzt…
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