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Schule nach Kassenlage

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Vom interessierten Publikum (noch) weitgehend unbeachtet, stürzt sich die grün-rote Landesregierung bei der Einführung der Ganztagsgrundschulen in ein riskantes finanzielles Abenteuer. Das Kabinett hat den flächendeckenden Ausbau beschlossen. Aber noch weiß niemand, woher das Geld kommen soll. Dabei geht es um mehr als 150 Millionen Euro jährlich.

Er ist zum Hochseilakt geworden, jener Bildungsaufbruch, mit dem Grüne und Sozialdemokraten dem Land ihren Stempel aufdrücken wollen. Die Bildungsplanreform schlingert, weniger wegen des anhaltenden Widerstands gegen eine offensivere Verankerung sexueller Vielfalt, sondern weil sich die Macher im Ministerium des immer forsch-frohgemuten Kultusministers Andreas Stoch (SPD) methodisch und sprachlich in den eigenen Vorgaben verheddert haben; die Reform der Lehrerausbildung bleibt weit hinter den eigenen Zielen zurück; und in Sachen Ganztag präsentiert die Landesregierung einen Wechsel auf die Zukunft und auf Verhandlungen, bei denen keiner der heimischen Akteure mit am Tisch sitzt.

Wenn sich Union und SPD in der Großen Koalition im Bund in den stockenden Gesprächen um die Ausgestaltung des vereinbarten milliardenschweren Bildungspakets nicht doch noch auf eine saftige Finanzspritze der Länder einigen, steht Stoch demnächst in sehr kurzen Hosen da. Und das zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Der gewollt engen Antragsfristen wegen ist nach den diesjährigen Sommerferien nicht mit einer Vielzahl neuer Ganztagsgrundschulen im Südwesten zu rechnen. Eine regelrechte Flut wird dagegen 2015 erwartet. Dann muss die Landesregierung liefern – nur wenige Monate vor der Landtagswahl.

Von den dicken Brettern schwärmte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bei seinem Amtsantritt im Mai 2011, die 30 Jahre in der Opposition mit Erfolg gebohrt worden seien. Die Neustrukturierung des Unterrichts über die Vormittagsstunden hinaus war ein besonders dickes. Schon Anfang der Neunzigerjahre hatte Kretschmann selber einen Gesetzentwurf zur Einführung der Ganztagsschule als Regelschule eingebracht. Vollmundig rühmten Bildungspolitiker von SPD und Grünen zu Oppositionszeiten die – unbestrittenen – pädagogischen Vorzüge der Verzahnung von Unterricht und Betreuung und hielten der Landesregierung – ebenfalls zu Recht – schwere Versäumnisse vor.

Denn die Frage nach den Hauptschuldigen an Nachholbedarf und Erblast ist schnell beantwortet. Die CDU könnte sogar einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde beanspruchen für das Kunststück, die Ganztagsschule seit 1968(!) im Zustand des Versuchs kurzgehalten zu haben. Fünf Ministerpräsidenten – von Filbinger bis Mappus – und alle sieben Kultusminister, darunter so unterschiedliche Charaktere wie Roman Herzog, Gerhard Mayer-Vorfelder oder Annette Schavan, wollten daran nichts ändern. Marion Schick, heute Personalvorstand der Telekom, teilte als Letzte im Bunde noch wenige Wochen vor den Landtagswahlen 2011 mit, dass gerade mal 249 von 1700 Grundschulen mit Ganztagsangeboten aufwarten. Schick wollte das Gesetz kurz vor knapp noch ändern, scheiterte aber an der CDU-Landtagsfraktion. O-Ton Kretschmann damals: "Die gesetzliche Verankerung ist überfällig, um das Ganztagsschulkonzept des Landes zu vereinfachen, die Zuständigkeiten für die Ganztagsschule zu klären und die Landesförderung für den pädagogischen Betrieb, aber auch für die baulichen Investitionen verlässlich und transparent auszugestalten."

Drei Jahre nach Regierungsantritt hilft die Retrospektive auf die Hinterlassenschaften aber immer weniger. Aus der flächendeckenden Einführung der Ganztagsschule ist ohnehin eine schrittweise geworden, beginnend mit den Grundschulen. Auch die, und das ist ebenfalls keine neue Erkenntnis, kommt richtig teuer. Tausend zusätzliche Deputate hielten die Grünen in der vergangenen Legislaturperiode für nötig, gerade mal hundert ist Finanzminister Nils Schmid (SPD) nach neuen Meldungen aus seinem Haus zu geben bereit. Stochs Experten wiederum verlangen mehr als das Doppelte für die erste große Antragswelle im nächsten Jahr, ohne im Besitz irgendwelcher Druckmittel zu sein. Eher im Gegenteil: Weil sogar in den Regierungsfraktionen immer wieder laut über eine effizientere Mittelverteilung im Schulbetrieb nachgedacht wird, hat sich unter Nicht-Bildungspolitikern längst die Meinung festgesetzt, dass Lehrerkollegien doch auf irgendeine geheimnisvolle Weise zusätzliche Ressourcen herausschwitzen oder durch Umverteilung erwirtschaften können.

Geht nicht, sagt – nicht nur – die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Und das schon lange. Quasi als Morgengabe wurde Grün-Rot 2011 ein Gutachten präsentiert. Der Bildungsforscher Klaus Klemm kommt darin auf gut 1600 Deputate, die notwendig wären, um 15 Prozent der Grund- sowie 20 Prozent der Realschulen und Gymnasien auf Ganztagsbetrieb umzustellen. Stoch will erreichen, dass bis 2023 nicht weniger als 70 Prozent der Grundschulen Unterricht und Betreuung vor- und nachmittags miteinander verzahnt haben. Von einer "extrem schlechten Vorbereitung" spricht die GEW-Landesvorsitzende Doro Moritz, weil viele Details "gänzlich ungeklärt" seien.

Ein Beispiel von vielen ist die Mittagspause. Eine 80-seitige Handreichung des Landesinstituts für Schulentwicklung, an der sich die Schulträger im Land bisher orientierten, betonte schon vor zwei Jahren deren Bedeutung als "Bindeglied zwischen Vormittags- und Nachmittagsaktivitäten" und die Notwendigkeit "einer sorgfältigen Planung". Empfohlen sind 90 Minuten für Mittagessen und Pause samt einer "sinnvollen Freizeitgestaltung" – vom Mannschaftstraining bis zum Kunstprojekt, vom Tischfußball bis zur Nutzung der Bibliothek. "Die Schülerinnen und Schüler brauchen aber auch unverplante Zeit, um einfach alleine oder mit Freunden abzuhängen", heißt es weiter im altersgemäßen Jargon. Jede Schule müsse das auf ihre Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort abgestimmte Konzept herausfinden. So weit die Blaupause. Im der künftigen baden-württembergischen Ganztagsschulrealität soll daraus ein Essen werden – an dem Lehrkräfte nicht teilnehmen, weil das die Kosten erhöhend ganz oder teilweise auf die Arbeitszeit angerechnet würde – und eine Pause, in der nach derzeitigem Stand für bis zu 160 Schüler und Schülerinnen zwei(!) Aufsichtspersonen vorgesehen sind. Für Moritz ist es pädagogisch kurzsichtig, diese Mahlzeit nicht zu anderen Formen des Umgangs zwischen Lehrkräften und Kindern zu nutzen. Und sie sieht Konsequenzen für spätere Jahrgänge. Es braucht wenig Fantasie, sich auszumalen, wie turbulent die Mensa-Mittagessen von Dreizehn-, Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen ablaufen, wenn die Grundlagen nicht in der Grundschule gelegt wurden.

Von noch größerer Tragweite ist die zeitliche Ausgestaltung des Angebots. Landesregierung und Kommunale Spitzenverbände, die sich auf den Rahmen der Finanzierung geeinigt haben, gehen von sieben oder acht Stunden an drei oder vier Tagen in der Woche aus. Wirklich fortschrittlich ist das nicht. Nach einer seit zehn Jahren fortgeschriebenen bundesweiten Vergleichsuntersuchung bieten 70(!) Prozent aller Ganztagsgrundschulen in der Republik Eltern nicht an drei oder an vier Tagen die Sicherheit, Familie und Beruf stabil vereinbaren zu können, sondern an allen fünf Wochentagen. Elf Prozent garantieren zudem eine verlässliche Betreuung der Sechs- bis Zehnjährigen ab sechs Uhr morgens, weitere 25 Prozent ab sieben. Hierzulande könnte aus Kostengründen dagegen sogar die verlässliche Betreuung vor dem Unterrichtsbeginn um acht Uhr kippen.

Wie groß das Interesse der Eltern an stabilen Ganztagsangeboten ist, zeigt eine Umfrage der Zeitschrift "Eltern" aus dem Vorjahr. Danach wünschen sich 87 Prozent der Eltern die Ganztagsschule für ihre Sprösslinge. Obendrein lehrt die Erfahrungen, dass dort, wo viele Kinder über den Vormittag hinaus bleiben, immer neue hinzukommen, weil gerade Grundschüler nicht ausgeschlossen werden wollen von spannenden und attraktiven Stunden am Nachmittag. Allesamt gefährliche Erkenntnisse, denn schon jetzt weiß Stoch, dass es "zu einer Priorisierung kommt, sollte die Zahl der Anträge das jährliche Finanzkontingent des Landes, das dafür zur Verfügung steht, übersteigen". Im Klartext: Anders als im Wahlkampf versprochen gibt es bei uns die Reform nur nach der von der Schuldenbremse bestimmten Kassenlage.

Die Rettung sitzt in Berlin, noch in der alten Ständigen Vertretung der BRD an der Hannoverschen Straße, bald im ausladenden Neubau gegenüber dem Kanzleramt. Bundeswissenschaftsministerin Johanna Wanka (CDU) verspürt aber keinerlei Lust, die Rolle tatsächlich anzunehmen. Ausgerechnet den reichen Ländern im Süden bei der Korrektur früherer Versäumnisse unter die Arme greifen? Bayern und Baden-Württemberg führen die Liste der Ganztagsschul-Nachzügler an mit ihrem Angebot für rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen. Sie sei sehr für diese Schulform, bekennt die Nachfolgerin Annette Schavans, "aber das heißt nicht, dass der Bund dafür bezahlen muss". Zumal der erst einmal "seine ureigensten Aufgaben" machen müsse, etwa in der Forschung. Wanka kommt aus Sachsen. Dort gehen vier von fünf Kinder und Jugendlichen in eine Ganztagsschule.

Zu allem Überfluss rangiert Bildungspolitik bei Landtagswahlen traditionell auch noch ganz weit oben auf der Prioritätenliste der Wählerschaft. 2011 in Baden-Württemberg war es mit 90 Prozent sogar Platz eins. "Wer da zu viel falsch macht", sagte Kretschmann einmal, "der hat schnell verloren." Das war ebenfalls damals in der Aufbruchsstimmung, ganz am Anfang der Legislaturperiode – und in der Erwartung, "dass wir so viel wie möglich richtig machen werden in der Bildungspolitik".


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2 Kommentare verfügbar

  • heiko
    am 10.03.2014
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    Och kein Problem! Einfach ein - zwei Atomuboote weniger nach Israel verschenken und schon ist genug Geld für die Interessen der eigenen Bürger da - Schulen, Gesundheitsversorgung oder andere Sozialleistungen.
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