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Comic-Künstlerin Barbara Yelin

"Puzzleteile einfügen, wo es kein Bild gibt"

Comic-Künstlerin Barbara Yelin: "Puzzleteile einfügen, wo es kein Bild gibt"
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Die Münchner Comiczeichnerin Barbara Yelin hat ein besonderes Händchen für historische Stoffe. Ihr jüngstes Projekt sind die grafisch verarbeiteten Erinnerungen einer Holocaust-Überlebenden. Diese und andere Arbeiten hat sie kürzlich im Stuttgarter Stadtarchiv vorgestellt.

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"Erinnerung ist etwas Gegenwärtiges", sagt Barbara Yelin, und wie sich Gegenwart und Vergangenheit ineinanderschieben können, macht sie mehrmals in ihrem neuesten Comic deutlich. Die Farben sind bunt in den Bildern, die zeigen, wie Emmie Arbel und Yelin sich aufmachen, einen Kaffee zu trinken. Das angepeilte Café hat zu, und Arbel lehnt ab, als Yelin ein anderes vorschlägt. "Das ist mir zu voll", sagt sie. Kalte Grau- und Blautöne nehmen zu. "Du weißt ja, ich kann nicht mit vielen Leuten an einem Ort sein." Warum, zeigt die nächste Seite, schon fast komplett grau: Viele Menschen stehen auf einem großen Platz, in Reih und Glied. Nur bei der vordersten Reihe sind Konturen zu sehen, nach hinten verschwimmen sie, Umrisse von Baracken und Lichtmasten sind zu erkennen.

"Ich erinnere mich, dass wir stundenlang stehen mussten", steht am Bildrand. Die alte Emmie erzählt, wie die junge auf dem Appellplatz des KZ Ravensbrück steht. Der Blick geht näher auf das erstarrte Gesicht der kleinen Emmie, dann wieder etwas zurück. "Und dann fiel meine Mutter um", erzählt sie. "Ich wusste, ich musste stehen bleiben. Ich durfte mich nicht rühren."

Über zwei Seiten geht die Appell-Szene, es sind ungeheuer intensive, beklemmende Seiten, auch wenn sie so gut wie keine Bewegungen zeigen. Seiten, die auch deswegen besonders gut die Kunstfertigkeit Barbara Yelins illustrieren. Die 1977 in München geborene und dort lebende Comic-Künstlerin ist virtuos darin, assoziativ mit Farbtönen, Schärfe und Unschärfe zu arbeiten und damit Stimmungen zu erzeugen, einen sorgfältig abgestimmten Rhythmus aus Bild und Text zu schaffen. Und sie hat ein besonderes Gespür dafür, historische Stoffe zu verarbeiten, intensive Gespräche und Recherchen zu einer schlüssigen Dramaturgie zu kondensieren. In der Kombination all dessen ist sie momentan nahezu konkurrenzlos in der deutschen Comicszene.

Internationales Erinnerungsprojekt

"Aber ich lebe" heißt die knapp 40-seitige Geschichte Yelins über Emmie Arbel, eine niederländische Jüdin, die 1937 in Den Haag geboren wurde, drei Konzentrationslager der Nazis überlebte – ihre Mutter nicht – und seit 1949 in Israel lebt. Sie ist Teil eines gleichnamigen Sammelbands, in dem drei Comiczeichner:innen – neben Yelin die Kanadierin Miriam Libicki und der Israeli Gilad Seliktar – die Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden Arbel, David Schaffer sowie Nico und Rolf Kamp in Bildern erzählen.

2019 begann dieses ungewöhnliche internationale Projekt, initiiert von der kanadischen Holocaust-Expertin Charlotte Schallié von der University of Victoria und gefördert vor allem von kanadischen Forschungseinrichtungen, aber unter anderem auch von der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück und den Arolsen Archives. Und weil es im Projekt sowohl um Erzählen, grafisches Erzählen, als auch um Geschichtsvermittlung geht, ist Yelin am vorvergangenen Freitag im Rahmen des Stuttgarter Literaturfestivals zu Gast im Stadtarchiv unter dem Titel "Aufgezeichnete Erinnerung". Davor hat sie kurz Zeit für ein Gespräch mit Kontext.

"'Aber ich lebe' war ein wahnsinnig spannendes Projekt. Und ein sehr berührendes für mich, durch diese Bekanntschaft mit Emmie Arbel", sagt Yelin. Sehr oft hätten sie sich ab 2019 getroffen, erst in Israel, dann, während der Corona-Pandemie, per Zoom. Die Chemie zwischen ihnen stimmte, am Ende waren sie Freundinnen. Es sei ihr wichtig gewesen, auch Arbels heutiges Leben mit ihrer Familie zu zeigen, sagt Yelin, ebenso wie die Gesprächssituation und damit sich selbst, "denn das beeinflusst ja das Gespräch".

Während der Arbeit habe sie erst richtig begriffen, was es heißt, Zeitzeug:in zu sein, sagt Yelin. "Da sitzt jemand und muss noch einmal das Schlimmste erzählen, an das sie oder er sich erinnert, wieder und wieder", das sei eine enorm schwierige Aufgabe. "Emmie mag es nicht, davon zu erzählen, es strengt sie an, belastet sie. Sie macht es, weil sie es wichtig findet." "Immer weniger von uns Überlebenden sind da", schreibt Emmie Arbel selbst in einem Nachwort im Buch, deswegen sei es wichtig, "der Welt diese Geschichte zu erzählen, damit so etwas nie wieder geschieht".

Hang zu historischen Stoffen

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Barbara Yelin mit der Geschichte des NS-Regimes und deren Folgen befasst. Ihr Comicroman "Irmina", 2014 veröffentlicht, spann ausgehend von biografischen Details ihrer in Stuttgart lebenden Großmutter – sie hatte eine Kiste mit Dokumenten von ihr gefunden – eine teils fiktionalisierte Erzählung über Handlungsspielräume in der Nazi-Diktatur. Der Band erhielt euphorische Kritiken und wurde mit zahlreichen Preisen bedacht (Kontext berichtete).

Direkt auf "Irmina" folgte 2016 eine streng biografische Arbeit über die israelische Schauspielerin und Friedensaktivistin Channa Maron, die 1933 als Kind mit ihren Eltern nach der Machtübernahme der Nazis aus Deutschland geflohen war. Mit einer anderen geflohenen jüdischen Deutschen, der Dichterin Mascha Kaléko, beschäftigte sie sich in einer Episode für die 2021 erschienene Comic-Anthologie "Nächstes Jahr in" (hier geht's zur Kontext-Rezension).

Keinen Comic, sondern eher Comic-hafte Illustrationen zeichnete Yelin für zwei weitere Projekte: zum einen ab 2018 für den zehnteiligen bebilderten Blog "Dichtung ist Revolution" über die Revolution 1918/19 und die Münchner Räterepublik, der 2021 zudem als "Revolution!" in Buchform erschien. Und zum anderen für das 2022 erschienene "Tagebuch eines Zwangsarbeiters" von Jan Bazuin. Die Aufzeichnungen Bazuins, der von den Nazis Anfang 1945 aus Rotterdam zur Zwangsarbeit nach Bayern verschleppt worden war, waren erst nach dessen Tod 2001 öffentlich geworden. Mit einem Fluchtschicksal jüngerer Vergangenheit, einem jungen Eritreer in der Schweiz, befasst sich schließlich der dokumentarische Kurzcomic "Unsichtbar", den sie 2019 mit ihrer Schwester Ursula Yelin gemeinsam umsetzte. Und nun "Aber ich lebe".

"An Barbara ist eine Historikerin verlorengegangen", sagte der Historiker Alexander Korb einmal, mit dem Yelin schon mehrmals zusammenarbeitete. Und auch bei der Veranstaltung im Stadtarchiv bekundet Archiv-Mitarbeiter Günter Riederer seine Begeisterung, dass sich in Yelins Werk viele geschichtswissenschaftliche Debatten der letzten Jahre wiederfinden. Woher kommt dieser Hang zu historischen und dokumentarischen Stoffen?

"Die interdisziplinäre Zusammenarbeit beglückt mich"

"Ich bin schon in meinem ersten 2010 in Deutschland erschienen Comic 'Gift', dann noch mehr mit 'Irmina' sehr stark in diese Richtung gegangen, dass ich sehr viel Recherche betreibe, dass ich Suchen und Zeichnen verbinde", sagt Yelin. "Das heißt, in Archive gehen, historische Bilder und Dokumente recherchieren, Geschichten auf der Spur sein. Und dann haben sich an ein Projekt immer wieder neue Anfragen angeknüpft. Für 'Channa Maron' habe ich erstmals Interviews gemacht. Jedes Projekt war wieder ein neues Lernen." Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei all diesen Projekten sei etwas, das sie sehr beglücke, sagt Yelin. "Und 'Aber ich lebe' war sicher das interdisziplinärste bis jetzt."

Was Yelins Arbeiten – abgesehen davon – im Rahmen des Mediums Comic außergewöhnlich macht, ist ihr zeichnerischer Stil: sehr skizzenhaft wirkend, offen und dynamisch, mit verlaufenden Aquarellfarben. Auf reduzierte Vorzeichnungen wird aquarelliert, "mir gefallen diese großen Pinselflächen, wo sich die Farbe auch verselbständigt, da passiert etwas Organisches", sagt Yelin. Danach konturiert sie mit feinen Stiften noch das ein oder andere, "aber vieles bleibt in so einer Offenheit, die sehr einladend ist für die Betrachterin und den Betrachter, sich da selber 'reinzuweben'". Retusche am Computer macht sie nur wenig, ausschließlich digital zu arbeiten, kann sie sich nicht vorstellen.

Hat sie dafür Vorbilder? So richtig könne sie das gar nicht sagen. "Jean-Jacques Sempé wird ein lebenslanges Vorbild bleiben." Außerdem habe sie, wie viele andere ihrer Generation, die Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger geprägt, ihre Professorin an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften – auch wenn die ganz anders arbeite. Eine große Inspiration sei auch die deutsche Künstlerin Charlotte Salomon, 1943 mit 26 Jahren in Auschwitz ermordet, deren Werk in Gouache viele sequentielle, Comic-hafte Elemente habe. Doch eigentlich schaue sie sich nicht andere Zeichnungen an, um sich davon prägen zu lassen, sagt Yelin. "Meinen eigenen Weg, den mache ich so, wie ich ihn kann. Und das, was man nicht kann, prägt den Stil. Ich kann keine klaren Linien, interessiert mich auch nicht. Sondern ich suche dieses Gewebe."

"Erinnerung hat offene Flächen"

Und das passt auch oft zu ihren Themen: "Bei Emmie Arbel ist es eine Geschichte über Erinnerung, da geht die ganz große Konkretisierung gar nicht. Erinnerung hat sehr offene Flächen." Die inhaltliche Dimension spiegelt sich im grafischen Stil wider – auch farblich: Die Vergangenheit hat einen anderen Farbraum als die Gegenwart, "ein gutes Mittel, um einen intuitiv durch eine Geschichte zu führen".

Bei dem Forschungsprojekt, aus dem "Aber ich lebe" entstand, ging es darum, eine Form der Erzählung zu finden, um die Erinnerungen von Zeitzeug:innen aufzubewahren, wenn deren letzte Generation nicht mehr da ist. Ein Thema, das Historiker:innen gerade international umtreibt. Ist der Comic vielleicht sogar geeigneter als andere Medien, diese Erinnerungen zu konservieren? "Im Comic kann ich jede Art der geschichtlichen Darstellung zeigen", sagt Yelin, "denn ich kann sie zeichnen. Ich kann bei Szenen, wo es keine Bilder gibt, Puzzleteile hinzufügen." Für die eingangs beschriebene Appell-Szene etwa konnte sie aus keinen fotografischen Quellen schöpfen, sondern allein aus Beschreibungen und Zeichnungen, die Häftlinge zum Teil noch im KZ oder kurz danach angefertigt hatten. Und wenn es Fotos aus den Lagern gibt, stammen die stets von den Tätern.

Wenn es um Beschreibungen der Grausamkeit in den KZs geht, zeigen sich aber auch die Grenzen der Darstellbarkeit: "Es gibt Dinge, die so brutal sind, dass ich sie nicht reproduzieren möchte. Das ist zeichnerisch ein stetiges Tasten, Herantasten", sagt Yelin. Sie zeichne ja immer nur Ausschnitte, aber das sei auch etwas, was sie am Comic sehr schätze: "Dass wir leere Stellen lassen können."

Und doch blieben bei den knapp 40 Seiten über Emmie Arbel in dem Sammelband offenbar zu viele leere, zu viele unerzählte Stellen. Weswegen Yelin wie Arbel eine erweiterte Fassung anstrebten – die nun, 160 Seiten stark, kurz vor der Fertigstellung steht. "Mir war es sehr wichtig, auch Teile aus ihrem Erwachsenenleben, ihr 'Nachleben' zu zeigen. Der Frage nachzugehen: Was geschieht in einem Leben, wenn man solche Traumata hat? Wie entwickelt man trotzdem so eine Stärke, wie sie sie hat?" Antworten wird es im Oktober geben, da erscheint die Langfassung beim Berliner Reprodukt-Verlag.
 

Barbara Yelin, Miriam Libicki, Gilad Seliktar: „Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust“, C.H. Beck, München 2022, 176 Seiten, 26 Euro.

Im Oktober dieses Jahres soll die Langfassung von Barbara Yelins Episode aus „Aber ich lebe“ beim Berliner Reprodukt-Verlag erschienen, dort unter dem Titel: „Und deshalb muss ich sprechen – Die Erinnerungen von Emmie Arbel“ (Reprodukt, 160 Seiten, 29 Euro).

Noch mehr Comics und Infos auf Barbara Yelins Homepage.


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