"Erinnerung ist etwas Gegenwärtiges", sagt Barbara Yelin, und wie sich Gegenwart und Vergangenheit ineinanderschieben können, macht sie mehrmals in ihrem neuesten Comic deutlich. Die Farben sind bunt in den Bildern, die zeigen, wie Emmie Arbel und Yelin sich aufmachen, einen Kaffee zu trinken. Das angepeilte Café hat zu, und Arbel lehnt ab, als Yelin ein anderes vorschlägt. "Das ist mir zu voll", sagt sie. Kalte Grau- und Blautöne nehmen zu. "Du weißt ja, ich kann nicht mit vielen Leuten an einem Ort sein." Warum, zeigt die nächste Seite, schon fast komplett grau: Viele Menschen stehen auf einem großen Platz, in Reih und Glied. Nur bei der vordersten Reihe sind Konturen zu sehen, nach hinten verschwimmen sie, Umrisse von Baracken und Lichtmasten sind zu erkennen.
"Ich erinnere mich, dass wir stundenlang stehen mussten", steht am Bildrand. Die alte Emmie erzählt, wie die junge auf dem Appellplatz des KZ Ravensbrück steht. Der Blick geht näher auf das erstarrte Gesicht der kleinen Emmie, dann wieder etwas zurück. "Und dann fiel meine Mutter um", erzählt sie. "Ich wusste, ich musste stehen bleiben. Ich durfte mich nicht rühren."
Über zwei Seiten geht die Appell-Szene, es sind ungeheuer intensive, beklemmende Seiten, auch wenn sie so gut wie keine Bewegungen zeigen. Seiten, die auch deswegen besonders gut die Kunstfertigkeit Barbara Yelins illustrieren. Die 1977 in München geborene und dort lebende Comic-Künstlerin ist virtuos darin, assoziativ mit Farbtönen, Schärfe und Unschärfe zu arbeiten und damit Stimmungen zu erzeugen, einen sorgfältig abgestimmten Rhythmus aus Bild und Text zu schaffen. Und sie hat ein besonderes Gespür dafür, historische Stoffe zu verarbeiten, intensive Gespräche und Recherchen zu einer schlüssigen Dramaturgie zu kondensieren. In der Kombination all dessen ist sie momentan nahezu konkurrenzlos in der deutschen Comicszene.
Internationales Erinnerungsprojekt
"Aber ich lebe" heißt die knapp 40-seitige Geschichte Yelins über Emmie Arbel, eine niederländische Jüdin, die 1937 in Den Haag geboren wurde, drei Konzentrationslager der Nazis überlebte – ihre Mutter nicht – und seit 1949 in Israel lebt. Sie ist Teil eines gleichnamigen Sammelbands, in dem drei Comiczeichner:innen – neben Yelin die Kanadierin Miriam Libicki und der Israeli Gilad Seliktar – die Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden Arbel, David Schaffer sowie Nico und Rolf Kamp in Bildern erzählen.
2019 begann dieses ungewöhnliche internationale Projekt, initiiert von der kanadischen Holocaust-Expertin Charlotte Schallié von der University of Victoria und gefördert vor allem von kanadischen Forschungseinrichtungen, aber unter anderem auch von der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück und den Arolsen Archives. Und weil es im Projekt sowohl um Erzählen, grafisches Erzählen, als auch um Geschichtsvermittlung geht, ist Yelin am vorvergangenen Freitag im Rahmen des Stuttgarter Literaturfestivals zu Gast im Stadtarchiv unter dem Titel "Aufgezeichnete Erinnerung". Davor hat sie kurz Zeit für ein Gespräch mit Kontext.
"'Aber ich lebe' war ein wahnsinnig spannendes Projekt. Und ein sehr berührendes für mich, durch diese Bekanntschaft mit Emmie Arbel", sagt Yelin. Sehr oft hätten sie sich ab 2019 getroffen, erst in Israel, dann, während der Corona-Pandemie, per Zoom. Die Chemie zwischen ihnen stimmte, am Ende waren sie Freundinnen. Es sei ihr wichtig gewesen, auch Arbels heutiges Leben mit ihrer Familie zu zeigen, sagt Yelin, ebenso wie die Gesprächssituation und damit sich selbst, "denn das beeinflusst ja das Gespräch".
Während der Arbeit habe sie erst richtig begriffen, was es heißt, Zeitzeug:in zu sein, sagt Yelin. "Da sitzt jemand und muss noch einmal das Schlimmste erzählen, an das sie oder er sich erinnert, wieder und wieder", das sei eine enorm schwierige Aufgabe. "Emmie mag es nicht, davon zu erzählen, es strengt sie an, belastet sie. Sie macht es, weil sie es wichtig findet." "Immer weniger von uns Überlebenden sind da", schreibt Emmie Arbel selbst in einem Nachwort im Buch, deswegen sei es wichtig, "der Welt diese Geschichte zu erzählen, damit so etwas nie wieder geschieht".
Hang zu historischen Stoffen
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Barbara Yelin mit der Geschichte des NS-Regimes und deren Folgen befasst. Ihr Comicroman "Irmina", 2014 veröffentlicht, spann ausgehend von biografischen Details ihrer in Stuttgart lebenden Großmutter – sie hatte eine Kiste mit Dokumenten von ihr gefunden – eine teils fiktionalisierte Erzählung über Handlungsspielräume in der Nazi-Diktatur. Der Band erhielt euphorische Kritiken und wurde mit zahlreichen Preisen bedacht (Kontext berichtete).
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