KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

1. Literaturfestival Stuttgart

Von Blättern und Blüten

1. Literaturfestival Stuttgart: Von Blättern und Blüten
|

 Fotos: Joachim E. Röttgers 

|

Datum:

Das gab es in Stuttgart noch nie: ein Literaturfestival in der ganzen Stadt. Ein Kessel Buntes mit Formaten vom Comic bis zum Schattentheater. Stargast Chimamanda Ngozi Adichie kam, obwohl sie keine gute Erinnerung an Stuttgart hatte.

Zurück Weiter

Als die Zusage von Chimamanda Ngozi Adichie kam, hat sie geschrien, erzählt Lena Gorelik, Kuratorin des ersten Stuttgarter Literaturfestivals, überglücklich die nigerianische Starautorin als Eröffnungsrednerin gewonnen zu haben. Adichie hat einmal Angela Merkel ein Bekenntnis zum Feminismus abgerungen. Der Titel ihres Buchs "We should all be Feministis" ("Wir sollten alle Feminist:innen sein") ziert viele Taschen und T-Shirts im bis auf den letzten Platz gefüllten Saal bei der Eröffnung. Die findet wohlgemerkt nicht im Stuttgarter Literaturhaus statt – das viel zu klein gewesen wäre –, sondern im Mozartsaal der Liederhalle, der über 750 Personen beherbergt.

Sie sei vor langer Zeit schon einmal in Stuttgart gewesen, bekennt Adichie in ihrer Rede, und gut gefallen habe es ihr nicht. Als Besucherin von Freunden zu erfahren, wie es Menschen dunkler Hautfarbe hier ergeht, und als Stargast ein Literaturfestival zu eröffnen: Das sind zwei sehr verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Stadt.

Adichie erzählt aus ihrem Leben. Als Tochter eines Mathematikprofessors auf dem Campus der Universität Nsukka aufgewachsen, hat sie schon als Kind viel gelesen. Ihre Position als Autorin hängt mit ihrer Herkunft aus Enugu zusammen: Enugu war 1967 Hauptstadt des abtrünnigen Staats Biafra, der mit Waffen auch aus Deutschland blutig niedergeschlagen wurde. In ihrem Roman "Die Hälfte der Sonne" verarbeitet Adichie auf einfühlsame Weise das nationale Trauma, das Nigeria von einer jungen, hoffnungsvollen, unabhängigen Republik in eine jahrzehntelange Militärdiktatur verwandelte.

Adichie will sich nicht auf Etikettierungen wie "afrikanische Literatur" oder "politische Literatur" festlegen lassen. Aber Schreiben geschehe nicht im luftleeren Raum, betont sie. Im Homeoffice, über Ländergrenzen hinweg, in den verschiedensten Krisen, selbst in Krieg und Konflikt könne Literatur helfen, anderen näherzukommen, sie besser zu verstehen. Kuratorin Gorelik hat das beste Beispiel parat: "Als der Krieg in der Ukraine begann", sagt sie, "griff ich zu ‚Half of a Yellow Sun" (Die Hälfte der Sonne). Weil Adichie darin exemplarisch beschreibt, wie ein Konflikt Schritt für Schritt eskaliert.

Stuttgart ist jetzt da, wo andere längst sind

Dass sich "Stuttgart auch endlich leisten wollte, was literarisch relevante Städte längst schon tun", sei der Grund, warum es nun auch in der baden-württembergischen Landeshauptstadt ein Literaturfestival gibt, sagt Marc Gegenfurtner, Leiter des städtischen Kulturamts. Die dort angesiedelte Literaturabteilung wollte schon länger ein Festival, an dem nicht nur das Literaturhaus, sondern die ganze Stadt beteiligt sein sollte, verrät er. Angesichts der Milliarde, die für die Sanierung der Oper eingeplant ist, wollte sich der Gemeinderat im letzten Doppelhaushalt nicht kleinlich zeigen. Den Antrag stellte die SPD.

"Schreiben, während die Welt geschieht", lautet das Motto, unter das Lena Gorelik die elf Tage gestellt hat. "Einen Strauß von Gründen" führt Stefanie Stegmann, die Leiterin des Literaturhauses, an, warum Gorelik das Festival kuratiere: ihr literarisches Werk; dass sie, die mit elf Jahren als Kontingentflüchtling aus Sankt Petersburg nach Ludwigsburg kam, Stuttgart von innen und außen kenne; über ihre jüdische Herkunftsgeschichte auch einen Bezug zur Erinnerungskultur habe; und dass sie ganz allgemein zu den 46 Prozent der Stuttgarter:innen gehöre, "die über ihre nicht-deutsche Herkunft erzählen könnten, wenn wir sie denn fragten."

Der erste Samstag des Festivals bietet ein überbordendes Programm. Im Kaufpark Freiberg, einem Einkaufszentrum im Norden der Stadt, ist ein Manga-Zeichenkurs in der Bücherei des Kaufparks gut gefüllt. Inga Steinmetz hat zuvor schon im Eingangsbereich der Mall Besucher:innen im Manga-Stil porträtiert. Nun sind um die dreißig Kinder und Jugendliche gekommen, die ruhig, konzentriert und aufmerksam mitmachen. "Manche Leute wundern sich, dass es in Bibliotheken auch Videospiele gibt", sagt die Berlinerin und gibt eine mustergültige Erklärung: "Wenn Kinder Videospiele ausleihen, nehmen sie vielleicht auch einmal einen Comic mit. Und wenn sie Comics lesen, lesen sie vielleicht auch einmal ein Buch."

Das eigene Gesicht wird Teil der Performance

Die vielen Programmpunkte des Literaturhauses finden an diesem Tag im Zentrum der Stadt, im Studio Amore statt. So nennt sich die Ende Januar eröffnete Zwischennutzung des noblen Schlossgartenhotels. Denn das Literaturhaus selbst ist belegt mit dem Blütenrausch, dem Markt der unabhängigen Verlage: mehr als 40 an der Zahl, für die das Erdgeschoss allein nicht mehr ausreicht. Der Markt ist gut besucht, wenn sich auch der Verkaufserfolg bei den meisten in Grenzen hält.

Im Studio Amore beginnt der Tag mit einer Lesung aus dem Comic "Diebe und Laien" des Österreichers Franz Suess. Er steht anschließend Barbara M. Eggert, der neuen Rektorin der Merz-Akademie, Rede und Antwort. Was war zuerst da, fragt sie: die Geschichte oder die Zeichnungen? Die Idee, antwortet Suess: ausgehend von dem realen Erlebnis, dass ihm einmal sein Laptop aus dem Nachttisch geklaut wurde. "Comics zeichnen ist wahnsinnig viel Arbeit", betont Suess, "etwas für Leute, die nicht anders können."

Im Kunstraum 34 performen zwei Japanerinnen zu Gedichten: Ichizu Hashimoto schreibt Worte auf Papierbahnen mit breiten Pinselstrichen oder liest, am Klavier begleitet von Junko Yamamoto. Aus einem Zylinder strömt blaues Licht. Wer hineinschaut, dessen Gesicht taucht auf einer Leinwand im anderen Raum auf. Bei näherem Hinsehen steht innen in dem Zylinder, es gebe noch 16.000 Rhinozerosse, tausend seien in den letzten Jahren getötet worden. Das verweist offenbar, ebenso wie ein kleines Origami-Nashorn, auf das Gedicht "Auf der Suche nach den Differenzen der Nashörner" von Toyomi Iwawaki-Riebel.

Yamamoto betritt mit einer Shō, einer japanischen Mundorgel, den Raum. Hashimoto beamt aus einem kleinen Kästchen das Schriftzeichen für "Leben" an die Wände. "Shō" ist eine der Lesarten dieses Zeichens aus der Kanji-Schrift, das in anderen Zusammenhängen auch anders ausgesprochen werden und anderes bedeuten kann. Bedeutungen entstehen durch einen Aufschub, durch Verschiebungen, besagt die Theorie der "Différance" von Jacques Derrida, nach der die Performance benannt ist. "Shoshō" im Untertitel lässt sich mit "Erschaffung", "Erzeugung" oder "Ort des Lebens" übersetzen. Die Texte sind über einen QR-Code auf der Eintrittskarte downloadbar. Nur fehlt im Keller der Empfang. Allzu viel werden die meisten Zuschauer:innen nicht verstanden haben. Sie zeigen sich dennoch beeindruckt.

Begeisterung, die ansteckend ist

Danach führt der Theaterspaziergang auf dem Berliner Platz, inszeniert von Axel Brauch nach der Vorlage des beninischen Autors Sédjro Giovanni Houansou, auf den harten Boden der Realität zurück. Die unermüdliche Annette Bühler-Dietrich hat den dichten, literarischen Text ins Deutsche übersetzt, der von denjenigen handelt, die versuchen, aus afrikanischen Ländern nach Europa zu gelangen und scheitern.

Markus Tomczyk steht auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig der Stadtbahnhaltestelle und erzählt von Abfahrt, von einem Bahnhof, davon, dass sich einer vor die Schienen wirft. Lamins Mutter (Simone Laurentino dos Santos) versucht diesen zurückzuhalten. Er habe doch alles, was er brauche. Keinerlei Bildungschancen, keine Berufsaussichten, gibt Lamin (Aron Keleta) zurück, der später vergeblich versuchen wird, in sein Land zurückzukehren: einmal illegal, immer illegal.

Dass die Zuschauer dabei keine Depressionen bekommen, liegt an der unkomplizierten Direktheit der Schauspieler:innen. Ein blaues Tuch, das über der Abluftöffnung der Tiefgarage im Wind flattert, symbolisiert das Meer. Zwei Kinder haben es entdeckt und versuchen es mit Begeisterung zu fassen zu kriegen. Schauspieler Keleta lässt sich ebenso wenig aus der Ruhe bringen wie anschließend alle drei, als sie auf der engen Treppe am Ausgang der Tiefgarage stehen und einige Menschen, die dort ihr Auto abgestellt haben, vorbei wollen.

Den Abschluss des Tages bildet eine Voguing-Veranstaltung im Studio Amore. Die queere Community hat auch in Stuttgart den Ballroom, eine Tanzform, die ihren Ursprung in der afroamerikanischen LGBTQ-Bewegung hat, für sich entdeckt – und die den Starkult und die Haute Couture persifliert. Ein Laufsteg, teure, extravagante Klamotten, Betonung der Körperlichkeit, ein DJ, ein Master of Ceremonies: Das sind die wesentlichen Komponenten, während sich die Musik seit den Anfängen in den 1980er-Jahren gewandelt hat. Manches erscheint wie bloße Imitation, doch die Begeisterung von Tänzer:innen und Publikum wirkt ansteckend.

Was kann Literatur bewirken in Zeiten, in denen eine Krise auf die andere folgt? Mit einem Abend der Hoffnung soll das Festival am Sonntag ausklingen. A. L. Kennedy hat es am zweiten Tag so formuliert: "Du kannst nicht schreiben ohne die Hoffnung, dass es jemand gibt, der es liest." Und wenn jemand liest, entfaltet Literatur eine Wirkung. Es entsteht eine Gemeinschaft aus Schreibendem und Lesenden, die aus dem Krisenzustand hinausführt und neue Perspektiven eröffnet.


Das 1. Literaturfestival Stuttgart endet am kommenden Sonntag, 21. Mai. An den verbleibenden fünf Tagen gibt es noch mehr als 20 Veranstaltungen, unter anderem über Frauen die schreiben, zum Iran und zum Krieg in der Ukraine. Es gibt Schattentheater und noch mehr Comics, Lesungen in der Zahnradbahn und im Second Hand Records-Laden. Auf ein Gespräch zum Thema Gastarbeiter folgt heute Abend der unbedingt sehenswerte Film "Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod" von Cem Kaya. In der neu eröffneten Cannstatter Schwabenbräu-Passage stellt das Deutsch-Türkische Forum an zwei Tagen die Autorin, Journalistin und LGBTQ*-Aktivistin Burçin Tetik vor. Am Sonntag um 14.30 Uhr ist der Theaterspaziergang am Berliner Platz noch einmal zu sehen. Das und mehr steht im Programmheft.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:



Ausgabe 681 / Sechs Jahre Leerstand / Uwe Bachmann / vor 21 Stunden 36 Minuten
Da hilft nur Enteignung



Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!