Keine Woche nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Stefanie Stegmann, seit 2014 Leiterin des Stuttgarter Literaturhauses, ein Programm für einen dichten Abend mit drei Diskussionsrunden und zehn TeilnehmerInnen organisiert – ModeratorInnen und AutorInnen, deren Texte gelesen werden, nicht mitgerechnet. Das kommt nicht von ungefähr. Stegmann hat nach ihrer Promotion 2003 zwei Jahre in der Ukraine verbracht. Ukrainische LiteratInnen waren seit 2014 immer wieder im Literaturhaus zu Gast.
Normalerweise braucht eine solche Veranstaltung ein halbes Jahr Vorlauf, erklärt sie etwas erschöpft nach einer anstrengenden Woche voller Telefonate und Planungen. Aber: "Das ist ja gerade das Tolle, dass eine Mail an Karl Schlögel genügt, und drei Minuten später ist die Antwort: 'Wenn ich's irgendwie einrichten kann, komm' ich.'"
Karl Schlögel, Osteuropa-Historiker, aus dem oberschwäbischen Hawangen stammend, war für Stegmann schon bei ihrem ersten Ukraine-Aufenthalt 2001 ein Wegweiser. Sein Essayband "Promenade in Jalta und andere Städtebilder" war gerade erschienen. "Der Osten ist noch lange nicht entdeckt", heißt es im Klappentext. "Königsberg und Czernowitz, Lemberg und Odessa, die großen Flüsse und die weiten Räume" – Karl Schlögel, Publizist und Professor für Osteuropäische Geschichte, hat über die Welt im Osten, ihre Menschen, ihre Ideen und ihre Geschichte geschrieben.
Das war Lektüre, wie Stegmann sie brauchte, die mit ihrem damaligen Freund eigentlich in den Kaukasus hatte reisen wollen. Denn sie hatte sich während ihres Studiums in Oldenburg mit einer Kommilitonin awarischer Muttersprache aus Dagestan angefreundet, der südlichsten russischen Republik am Kaspischen Meer. Für Stegmann eine unbekannte Welt: "Alles hinter dem Harz war weiß." Da wollte sie hin. Doch so weit reichte das Geld nicht. "Und dann blieb mein Finger auf dem Diercke Weltatlas auf der Hälfte stecken, und das war die Krim."
Es sei "ein Schock auf allen Ebenen" gewesen, erzählt sie über ihre Reise: "Zwei Wochen mit dem Zug durch die Ukraine, von Berlin nach Lwiw, dann runter bis Odessa und auf die Krim – und das ohne ein Wort Russisch oder Ukrainisch zu sprechen." Doch die Neugier war geweckt. Nach dem Studium bewarb sie sich beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) auf eine Stelle als Lektorin an der Universität Czernowitz.
"Wir Deutschen sind verpflichtet, neutral zu sein"
Lektorin an einer Universität: Das bedeutet als Muttersprachlerin in der eigenen Sprache zu unterrichten, in ihrem Fall also auf Deutsch. Da an der Jurij-Fedkowytsch-Universität alle von ihren Deutschkenntnissen profitieren wollten, kam Stegmann kaum dazu, Ukrainisch zu lernen. Sie nahm dann jedoch abends Sprachkurse bei einer Studentin und lernte allmählich sich zu verständigen.
Deutsch war in der früheren Hauptstadt der Bukowina, von 1775 an zu Österreich-Ungarn gehörig, noch um 1900 Amts- und erste Umgangssprache gewesen. Fast ein Drittel der Bevölkerung war jüdisch. Ungefähr die Hälfte von ihnen wurde später im Holocaust ermordet, die anderen haben fast ausnahmslos das Land verlassen. Die bekanntesten deutschsprachigen AutorInnen sind Rose Ausländer und Paul Celan. Jurij Fedkowytsch wiederum, nach dem die Universität benannt ist, war ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der in ukrainischer und deutscher Sprache schrieb.
Für den Winter in Czernowitz 2004 kaufte sich Stegmann noch in Deutschland einen Wintermantel "in leuchtendem Orange ohne zu wissen, was kommt". Was kam? Im November die Orange Revolution, als der moskautreue Viktor Janukowitsch in den Präsidentschaftswahlen nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zum Sieger erklärt worden war. Hunderttausende protestierten gegen Wahlbetrug, mit dem Resultat, dass die Stichwahl zwischen Janukowitsch und dem später überlegenen Kontrahenten Viktor Juschtschenko, Wahlfarbe orange, wiederholt werden musste. Der Leiter des Germanistik-Lehrstuhls holte Stegmann damals in sein Büro und erklärte: "Wir Deutschen sind verpflichtet, neutral zu sein." Er nahm ihr dann aber doch ab, dass sie den Mantel nicht aus politischen Gründen trug.
Als sie knapp zehn Jahre später, Anfang 2014, am Stuttgarter Literaturhaus anfing, befand sich die Ukraine erneut in Aufruhr. Nachdem Janukowitsch, der 2010 schließlich doch noch Präsident geworden war, sich weigerte, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, kam es zu den monatelangen Protesten auf dem Maidan-Platz. "Da hatten wir die traurige Gelegenheit, das Thema auch im Literaturhaus aufzugreifen", sagt Stegmann. In Teilen der Ukraine herrscht seit 2014 Krieg.
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