Ein weiteres feministisches Gedicht-, Kurzprosa- und Essayprojekt kommt aus Tunesien. "Chaml" heißt das Autorinnenkollektiv, von dem 2020 "Ich kann nicht alleine wütend sein" erschienen ist. Chaml bedeutet so viel wie "der Einschluss aller Unterschiedlichkeiten" im Arabischen. "Wir haben beschlossen, den gängigen Klischees über Frauen entgegenzutreten: die ewig Verliebte, Rebellin oder Revolutionärin, Befreite oder Opfer", schreibt Chaml-Autorin Yosra Esseghir. "Wir werden weiterschreiben: vom Nass der Vulva und von Blut. Wir tragen unsere Wörter zur Schau, präsentieren den Leserinnen und Lesern unsere Werke. Wir zerlegen uns in Einzelteile, damit ihr die Frauen sehen, ihnen zuhören könnt."
Das entscheidende Bindeglied
"Die Möglichkeit, dass ein Autor in den anderen Sprachen wahrgenommen werden kann und wie er wahrgenommen wird, hängt von der Qualität der Übersetzung ab", sagt Schiler. In schlechten oder unsauberen Übersetzungen könne ansonsten etwas transportiert werden, was gar nicht der Grundaussage entspricht. Gerade im Arabischen, aber auch im Spanischen sei es schwierig, die originale Bildsprache ins Deutsche zu transferieren. In den Veröffentlichungen des Verlages werden vor allem bei Lyrik die Originaltexte der deutschen Übersetzung oft gegenübergestellt.
Ein "ungeheures Sprachtalent und Glücksfall von Übersetzer" mit dem Schiler zusammenarbeitet sei beispielsweise Hakan Özkan aus der Türkei, der mit Deutsch und Türkisch zweisprachig aufgewachsen ist und darüber hinaus auch mit dem lateinamerikanischen Spanisch und dem Arabischen arbeitet. Özkan war beispielsweise im Sammelband "Ankunft - Literarische Reportagen geflüchteter Autorinnen und Autoren", der 2018 bei Schiler erschienen ist, einer der Übersetzer. "Ankunft" war ein Projekt, um acht geflüchteten Autor:innen "ein Forum zu geben, in dem sie erstmal veröffentlichen können", sagt Schiler.
Schilers Programm war von Anfang an nicht auf die arabische Welt begrenzt, hat sich mittlerweile aber deutlich auf internationale und deutsche Autor:innen ausgeweitet. Im Verlag erscheinen auch Übersetzungen von indigenen Autor:innen wie Inger Mari-Aikio von den Samí, einem indigenen Volk im Norden Fennoskandinaviens, also dem Gebiet auf der nordeuropäischen Halbinsel, das sich aus Finnland und der Skandinavischen Halbinsel sowie Karelien und der Halbinsel Kola zusammensetzt. Oder Gary Thomas Morse von den Kwakwaka'wakw. Die sogenannten "Kwakiutl" sind ein Kreis von indianischen Stämmen im heutigen British Columbia. Auch von der Okzitanierin Aurélia Lassaque wurde ein Werk in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Okzitanisch wird in Teilen Frankreichs, Italiens und Kataloniens gesprochen.
Wie kommt Hans Schiler an solche Autor:innen? Viele lernt er auf dem Literaturfest LeseLenz in Hausach im Schwarzwald kennen: "Eines der interessantesten Literaturfestivals, die wir in Deutschland haben. Das ist immer für riesige Entdeckungen gut." Kurator des 1998 ins Leben gerufenen LeseLenz ist der Heinrich-Böll-Preisträger José F.A. Oliver, der im Schiler-Verlag verschiedene Gedichtbände veröffentlicht hat. Dieses Jahr wird der LeseLenz 25 Jahre alt und findet vom 6. bis zum 16. Juli statt.
Harter Weg für kleine Verlage
"Wir können maximal zehn Bücher im Jahr machen", sagt Schiler. Als kleiner Verlag sei es ökonomisch schwierig, auch weil sich die Konzentration im Buchhandel stetig fortsetzt, immer mehr größere Ketten existieren und diese Ketten vor allem gut Verkäufliches auslegen. In den 1970er- und 1980er-Jahren, als es fast nur kleinere Buchhandlungen gab, seien Neuerscheinungen, auch von kleinen Verlagen, von Buchläden erst einmal bestellt worden, eventuell auch mit Rückgaberecht, und lagen dann ein halbes Jahr aus. So hatten die Kund:innen wenigstens die Chance, in den Buchhandlungen Neues zu entdecken. Heutzutage müssten sie schon wissen, was ihnen die Buchhändlerin bestellen soll.
Auch Corona hat das Geschäft erschwert. "Wir mussten die Produktion zurückfahren, es gab keine Lesungen", so Schiler. Bei Lesungen spiele die Größe eines Verlages zudem eine wesentliche Rolle: "Größere Verlage kommen auch in die großen Buchhandelsketten, wir nicht."
Man brauche also andere Strukturen. "Dazu sind Lesungen und kleine Buchläden, die sich so engagieren wie die Lyrikhandlung, natürlich wahnsinnig wichtig", sagt Schiler. Zudem überlege man, bei der "Interessengruppe unabhängige Verlage" mitzumachen. Dieser Zusammenschluss führt einen gemeinsamen Katalogversand, stärkt Vertriebsstrukturen und hat einen gemeinsamen Stand bei der Frankfurter und Leipziger Buchmesse. Kleine, unabhängige Verlage seien nicht zuletzt auch für Autor:innen wichtig, "die sonst gar keine Chance hätten, ihren Erstling unterzubringen und ihren Weg zu gehen", so Schiler. Kleine Verlage und unbekannte Autor:innen haben in Deutschland eher nicht viel zu lachen.
"Die Menschen lachen und lachen sich tot. Lachen weiter, um zu vergessen, was sie soeben verstanden haben", liest die Autorin Mihaela Claudia Condrat, die in Bilbor in Rumänien geboren wurde, aus ihrem Gedicht "Der Zauberkünstler" vor dem Tübinger Publikum. Vom "Schreiben als Disziplinierung der Bilder" handelt ein Auszug von Andrea Mittags lyrischem Prosatext "Vom Mut", der im Herbst diesen Jahres erscheinen wird. Schreiben als Disziplinierung der Bilder, Übersetzen als Transferieren der Bilder über Sprachgrenzen hinweg – und ein engagierter Verlag als Heimstätte für Bilder aus aller Welt.
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