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Kampf gegen rechts

Raus aus der Blase

Kampf gegen rechts: Raus aus der Blase
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Was tun gegen die neuen Rechten, die immer mehr Stimmen kriegen? Und wie lässt sich die Erinnerung an die Verbrechen der alten Rechten zum Engagement gegen Antisemitismus nutzen? In Stuttgart gab es am Wochenende neben vielen Fragen auch eine konkrete Antwort.

Am Ende bricht Gabriele Hintermaier fast die Stimme weg, als sie das Schicksal von Irene Winter vorliest. Und das, obwohl Sprechen ihr Beruf ist, sie ist Ensemblemitglied am Schauspiel Stuttgart seit 30 Jahren. Doch manchmal kommt die Professionalität offenbar nicht gegen das Grauen an. Irene Winter war die Tochter der Sintiza Magda Winter, im März 1943 wurden beide mit 234 anderen Sinti von Stuttgart ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Am 26. Juni 1943 stellt Lagerarzt Josef Mengele den Totenschein für Irene aus, da ist sie noch keine drei Jahre alt. Seit März 2008 liegt ein Stolperstein vor dem Haus in der Stuttgarter Hackstraße 24, wo sie mit ihrer Mutter zuletzt wohnte.

Was passiert ist, als Faschisten schon einmal in Deutschland an der Macht waren, ist breit erforscht, die Studien zur NS-Zeit füllen Bibliotheken. Es gibt mehr oder weniger genaue Schätzungen zur Zahl der von ihnen ermordeten Menschen, darunter etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden und 220.000 bis 500.000 Sinti und Roma. Doch welches Grauen sich hinter solchen Zahlen verbirgt, wird deutlicher, greifbarer, wenn man sich mit einzelnen Lebensgeschichten befasst, sie liest, hört. Oder wenn an die Orte erinnert wird, an denen sie zuletzt lebten. Neben anderen Menschen, die nach dem Krieg immer noch da waren.

Die Lesung ausgewählter Opferbiografien, die Hintermaier gemeinsam mit Boris Burgstaller bestreitet, ist Teil der Jubiläumsmatinee anlässlich von 20 Jahren Stolpersteinen in Stuttgart, die am vergangenen Sonntag im Schauspielhaus Stuttgart stattfindet, Titel: "Zukunft braucht Erinnerung". Vor einigen Jahren wären die Veranstaltung und das Motto womöglich von vielen als Teil einer pflichtschuldigen Erinnerungsroutine innerhalb einer Blase von eh schon Bekehrten abgetan worden, weit weg von aktuellen Problemen. Dass das nun nicht so ist, hat mehrere Gründe.

Was wir getan haben, war nicht genug, sagt Olschowski

Als Wissenschaftsministerin Petra Olschowski mit ihrer Laudatio anfängt, wirkt sie aufgekratzt. Die Rede, die sie jetzt halte, sei eine andere als die, die sie sich ursprünglich vorgestellt habe. Als sie vor einigen Monaten "mit Freude und Vorfreude" zugesagt habe, da habe sie noch gedacht, dass man hier in einer Atmosphäre zusammenkomme, "die nachdenklich, aber zuversichtlich ist", im Vertrauen darauf, dass die Erinnerungsarbeit in Deutschland die Gesellschaft geprägt und gestärkt habe gegen rechtsextreme, rassistische und antisemitische Tendenzen. "Dass das falsch war, wissen wir nicht erst seit dieser Woche", fügt sie an. Am vorvergangenen Sonntag erreichte die AfD Rekordergebnisse bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern, schon davor hatte die neue "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung gezeigt, dass erschreckend viele Menschen in Deutschland rechtsextreme und antisemitische Positionen vertreten oder ihnen gegenüber zumindest gleichgültig sind. Und nachdem Hamas am 7. Oktober bei einem terroristischen Angriff auf Israel rund 1.300 Menschen getötet hatte, wurde dies auf Kundgebungen auch in Deutschland gefeiert.

Olschowski schließt daraus: "All das, was wir getan haben, um aus Erinnerungsarbeit Gegenwarts- und Zukunftsarbeit zu machen, ist nicht genug." Und es erreiche bestimmte Gruppen unserer Gesellschaft, es erreiche "zu viele" nicht. "Heißt das: weniger Erinnerungskultur?", fragt Olschowski. Um es gleich zu beantworten: "Nein. Das heißt: mehr! Aber auch: Wir brauchen neue Wege, andere Formate." Hier die ganze Rede.

In die gleiche Kerbe schlägt danach Stuttgarts Erster Bürgermeister Fabian Mayer (CDU), der per Videobotschaft zugeschaltet ist. Bemerkenswert ist dabei, wie sehr er die Bedeutung bürgerschaftlicher Initiativen für die Erinnerungsarbeit hervorhebt. Diese hätten Einrichtungen der Erinnerung wie etwa dem Hotel Silber "teils erst angeregt". "Teils" ist noch untertrieben, denn es gibt in Stuttgart mit Ausnahme der vom Land initiierten Stauffenberg-Gedenkstätte schlicht kein einziges Denkmal, keine Erinnerungsinitiative zur NS-Zeit, die nicht auf das Engagement bürgerschaftlicher Gruppen zurückgeht. Auch die Stadt Stuttgart musste oft regelrecht zum Jagen getragen werden, ob bei einer Ausstellungsreihe in den Achtzigern oder beim Hotel Silber. Doch geschenkt, Mayer positioniert sich erfreulich klar, auch, als er kurz auf die "Mitte-Studie" eingeht: "Die Frage, warum wir auch heute noch eine aktive Erinnerungskultur brauchen, wird durch solche Studien klar beantwortet."

Bleibt die Frage, die Olschowski bereits indirekt gestellt hat: Welche neue Wege, welche Formate muss Erinnerungskultur, muss der Kampf gegen rechts haben? Friederike Hartl vom Stadtjugendring sieht aus eigener Erfahrung Anknüpfungspunkte bei migrantischen Jugendlichen, die eigene Fluchterfahrungen haben. Im Schauspielhaus werden weitere Beispiele und Ideen genannt, doch es bleibt vieles vage.

Gesucht: Bündnispartner mit humanitären Werten

Ganz konkret trifft sich tags zuvor, am Samstag, auf dem Stuttgarter Schlossplatz eine neue Initiative gegen die aktuellen Rechten. Ein wichtiger Grundsatz dabei: Raus aus der Blase. Das klingt gut, ist aber schwieriger als gedacht. Einer, der das weiß, ist Joe Bauer, weil er viel rum kommt in der Stadt, und viele politische Kleingärtner:innen erlebt hat. Er hat auch diese Kampagne wieder mit angeschoben: gemeinsam gegen rechts. Und jetzt, zum Auftakt am Samstag, 14. Oktober, stehen sie im Regen, mehr als tausend, und hören zu.

Hasko Weber ist aus Weimar gekommen, also aus Thüringen, wo 1930 die NSDAP Juniorpartner der Landesregierung war, wo heute Björn Höcke Chef der AfD ist und 30 Prozent plus x anstrebt – 33 Prozent würden der Partei eine Sperrminorität im Landtag bescheren. Der Generalintendant des dortigen Nationaltheaters, früher Stuttgart, sagt, die Strategie der Konfrontation habe die Rechten nur stärker gemacht, er suche die "Verbindung in der Gesellschaft". Dazu lohnt auch, sein Kontext-Interview nachzulesen.

Nicht aus der Hochkultur, von Mercedes ist Jose Miguel Revilla gekommen. Er ist Vertrauensmann der IG Metall und erzählt von der rechtsextremen Pseudogewerkschaft "Zentrum", über die sich die AfD an die Kolleg:innen heranwanzt. Mit Erfolg. (Zwei Tage später, beim Neuen Montagskreis im Theaterhaus, sollte IGM-Bezirksleiter Roman Zitzelsberger berichten, dass auch bei der IGM überdurchschnittlich viele Mitglieder mit der AfD sympathisierten.)

Alarmsignale aller Orten und Grund für den Kontext-Kolumnisten Joe Bauer, zusammen mit Tom Adler (Die Linke), Hans D. Christ (Württembergischer Kunstverein), Brigitte Lösch (Grüne) und Fritz Mielert (BUND) nach neuen Bündnispartnern zu suchen. Sie wollen sich mit Konservativen und Liberalen zusammen tun, die "humanitäre Werte" pflegen, bis hin zu den Fans des VfB Stuttgart und der Stuttgarter Kickers. Und ganz wichtig: Niemand Konkurrenz machen, stattdessen Ermunterung für alle, in ihrem Sprengel aktiv zu werden, mit ihren Nachbarn zu reden, und nicht unwidersprochen lassen, "wenn jemand Hass oder Ausgrenzung propagiert". So formuliert es die Tübinger Politikwissenschaftlerin Luzia Sievi, die über städtischen Rechtspopulismus geforscht und festgestellt hat, dass selbst Einzelpersonen in ihren Quartieren etwas bewirken können.

Mit dabei ist auch das Aktionsbündnis Stuttgart gegen Rechts, das aus der Antifa-Bewegung kommt und seit Jahren den Kopf hinhält. Die jungen Linken von den Gewerkschaften, den Grünen und der SPD, von Attac und der Seebrücke, stellen sich den Nazis "mit großem Mut" entgegen, sagt Organisator Bauer. Ihr Beitrag steht deshalb hier.


Erste Informationen über das neue Bündnis finden sich auf der Website www.netzwerk-gegen-rechts.info.


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