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Erinnerung an NS-Verbrechen

Ein Anruf änderte alles

Erinnerung an NS-Verbrechen: Ein Anruf änderte alles
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Als Kind floh Charlotte Isler vor den Nazis nach New York. Dass sie rund 70 Jahre später in ihrer Geburtsstadt Stuttgart wieder Wurzeln fassen und sogar Einfluss auf erinnerungspolitische Debatten nehmen konnte, hat viel mit einem Stolperstein zu tun. Am heutigen Mittwochabend stellt die 98-Jährige im Stadtarchiv ihre Erinnerungen vor.

Es war nicht unbedingt abzusehen, dass Charlotte Islers Beziehung zu Stuttgart je wieder eine gute werden könnte, dass sie hier sogar an erinnerungspolitischen Debatten mitwirken würde. 1924 geboren, erlebte sie nach einer relativ unbeschwerten Kindheit die anfangs schleichende, dann immer rasantere Entrechtung der jüdischen Deutschen durch das NS-Regime in den 1930er-Jahren hautnah. Ihr Vater musste irgendwann seine Fabrik für einen Spottpreis verkaufen, und einen Tag nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde wohl auch Charlotte Isler, die damals noch Nussbaum hieß, endgültig klar, dass sie in Deutschland keine Zukunft mehr hatte. Sie wurde ohne Angabe von Gründen von ihrer Schule, der Charlotten-Realschule, geschmissen, ihr Vater wurde verhaftet und kam nur deshalb recht bald wieder frei, weil er nach einer Operation noch sehr geschwächt war. Im April 1939 verließ die Familie Stuttgart und fing in New York ein neues Leben an.

Nach großen Anfangsschwierigkeiten in der neuen Heimat wurde Charlotte Isler erst Krankenschwester, später erfolgreiche Medizinjournalistin, heute wohnt sie in Irvington im US-Bundesstaat New York. Stuttgart besuchte sie ab 1967 einige Male, doch irgendwann "kannte ich in Stuttgart keine Seele mehr und konnte mir nicht vorstellen, je wieder Bekannte, geschweige denn Freunde dort zu treffen". Anfang des Jahrtausends sei Stuttgart für sie "ein abgeschlossenes Kapitel" gewesen, "ich hatte nicht vor, meine Heimat noch einmal zu besuchen", schreibt sie in ihren Erinnerungen. Es kam anders.

Ein Stolperstein für die Großmutter war der Anfang

"Am 7. März 2008", erzählt sie, "erhielt ich einen Anruf, der alles änderte". Eine ihr unbekannte Frau, Irma Glaub von den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen, war am Apparat und lud sie nach Stuttgart ein. Zur Verlegung eines Stolpersteins für ihre Großmutter Sigmunde Friedmann vor deren früherem Wohnhaus in der Hohenstaufenstraße 17A. Glaub hatte das Schicksal Friedmanns recherchiert: Sie war im Gegensatz zur Familie ihrer Tochter Claire in Deutschland geblieben, wurde im August 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und starb dort knapp zwei Jahre später. Der Stolperstein für sie sollte am 15. März 2008 verlegt werden, doch konnte Charlotte Isler nicht so kurzfristig nach Stuttgart kommen. Sie nahm sich aber vor, dies nachzuholen und besuchte tatsächlich im folgenden Herbst ihre Geburtsstadt. Und seitdem immer wieder.

Neben Irma Glaub lernte Charlotte Isler dabei viele andere Menschen aus Initiativen kennen, die sich mit der Erinnerung an die NS-Verbrechen befassen. Darunter auch Harald Stingele, Koordinator der Stuttgarter Stolperstein-Gruppen und aktiv in der damals noch relativ jungen Initiative, die sich für den Erhalt des Hotel Silber, der ehemaligen Gestapo-Zentrale in der Dorotheenstraße, einsetzte. Den Abriss des historischen Gebäudes hielt auch Isler für falsch, und Stingele ermunterte sie, sich als Zeitzeugin für den Erhalt einzusetzen.

Das Ergebnis war im März 2010 ein Brief an den damaligen Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, an Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (beide CDU), die Fraktionen im Gemeinderat und an Breuninger-Chef Willem van Agtmael. "Ich erwarte von Ihnen", schrieb Isler, "dass Sie das Hotel Silber nicht zerstören, und sich außerdem dazu verpflichten, diese frühere Gestapozentrale als Gedenkort zu erhalten". Das schien zu diesem Zeitpunkt alles andere als sicher, und mit Blick auf andere Stuttgarter Abrissvorhaben in den letzten Jahrzehnten wirkte die Hoffnung, eine breite bürgerschaftliche Initiative könne die Zerstörung abwenden, nicht sehr berechtigt. Dennoch gelang es: 2011 wurde der Abriss abgeblasen. Und auch wenn sich die Anteile an diesem Erfolg schwer quantifizieren lassen – Charlotte Isler wurde, "zu meiner großen Überraschung", von der Stadt zur Eröffnung des Lern- und Gedenkorts im Dezember 2018 eingeladen, "da ich zur Erhaltung des Gebäudes beigetragen hatte", wie sie schreibt. Natürlich kam sie und nahm an einer Podiumsdiskussion teil.

Neue Freunde und alte Schicksalsgefährt:innen

Wie können die Erinnerungen von Menschen wie Charlotte Isler, die die Verbrechen der Nazis erlebt und überlebt haben, bewahrt werden? Bei einem ihrer Stuttgart-Besuche im Jahr 2014 beteiligte sie sich am Projekt "Frage-Zeichen", in dessem Rahmen Schüler:innen Zeitzeug:innen aus Stuttgart zu deren Leben interviewen (Kontext berichtete). Der Film mit Isler ist mittlerweile frei online zugänglich, wie auch alle 23 anderen "Frage-Zeichen"-Clips.

Das Engagement ums Hotel Silber hatte für Charlotte Isler weitere unerwartete Effekte: Es führte dazu, dass sie "in Stuttgart wieder Wurzeln gefasst habe" und einen neuen Freundeskreis aus dem Umfeld der Hotel-Silber- und Stolperstein-Initiativen bekam. Zudem lernte sie nun erst einige derer kennen, die die Flucht vor den Nazis aus Stuttgart ebenfalls nach New York geführt hatte, die aber über Jahrzehnte nichts voneinander wussten. Dazu zählen etwa Thomas F. Nägele, Sohn des Malers Reinhold Nägele, und Trudy Schwarz. Harald Stingele erzählt, dass Charlotte Isler gerne scherze, dass sie von diesen noch lebenden Zeitzeug:innen die jüngste sei – Nägele ist sechs Wochen älter, Schwarz bereits 104. Eine bemerkenswerte aktive und fitte End-Neunzigerin ist sie auf jeden Fall – im November wird sie 99.

Nun kommt Charlotte Isler erneut nach Stuttgart, um die neu erschienene deutsche Fassung ihrer bereits 2005 auf englisch veröffentlichten Erinnerungen zu präsentieren – angereichert um ein neues Stuttgart-Kapitel, das vor allem die letzten 15 Jahre umfasst. Herausgegeben wird das Buch mit dem Titel "Stuttgart: Flucht und Wiederkehr" vom Stadtarchiv Stuttgart, und dort findet am heutigen Mittwoch auch die Präsentation statt. Zwei Tage später, am Freitag, ist Isler zudem im Hotel Silber – zu einem "Gespräch mit ihren Stuttgarter Freund*innen".

In ihren Erinnerungen schreibt Charlotte Isler auch über den Tod ihrer Großmutter: Erst Ende der 1940er Jahre habe die Familie in New York mit Hilfe des Roten Kreuzes und anderer Organisationen erfahren, dass Sigmunde Friedmann im KZ Theresienstadt umgekommen ist. Genau wie viele andere Angehörige, die die NS-Zeit nicht überlebt hatten. Und sie macht deutlich, wie schockierend diese Nachrichten trotz der vielen schon bekannten Verbrechen der Nazis waren: Sie und die meisten ihrer Bekannten in New York "hatten geplant, nach Deutschland, Polen und in andere europäische Länder zurückzukehren, um sich mit Freunden und Verwandten, die in den von den Nazis besetzten Ländern geblieben waren, wieder zu treffen. Nun mussten wir uns mit der traurigen Tatsache auseinandersetzen, dass die meisten von ihnen nicht mehr lebten und unter unsäglichen Bedingungen ums Leben gekommen waren. Heute ist diese Realität, auch wenn sie schon viele Jahre zurückliegt, immer noch präsent und wird uns für den Rest unseres Lebens verfolgen."

20 Jahre Stolpersteine in Stuttgart

Ein solcher Satz sollte eigentlich reichen, um jede Diskussion zu beenden, ob nicht mal ein erinnerungspolitischer Schlussstrich in Deutschland angebracht sei. Entsprechende Wortmeldungen von rechts gab es in Deutschland schon relativ kurz nach Kriegsende, lange jedenfalls, bevor systematisch begonnen wurde, an die aus Deutschland deportierten, ermordeten oder geflohenen Menschen zu erinnern. Ein Versuch, dies so einfach wie wirkungsvoll zu tun, ist das Stolperstein-Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig. 1992 begonnen, gilt es heute mit europaweit über 100.000 verlegten Steinen als das größte dezentrale Mahnmal der Welt.

Vor einer Verlegung steht dabei stets die Recherchearbeit lokaler Stolperstein-Gruppen, allein in Stuttgart sind es über ein Dutzend Stadtteil-Initiativen. Durch sie konnten bislang in der Stadt über 1.000 Steine verlegt werden, die ersten vor nunmehr 20 Jahren, am 10. Oktober 2003. Diesen Jahrestag nehmen die Stuttgarter Stolperstein-Initiativen zum Anlass für eine Jubiläumsmatinee am 15. Oktober im Schauspielhaus Stuttgart. Neben einer Gesprächsrunde mit Angehörigen von NS-Opfern und der Lesung von Biografien konnten die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Petra Olschowski und Fabian Mayer, Erster Bürgermeister der Stadt Stuttgart, für Laudatio und Grußwort gewonnen werden.

"Zukunft braucht Erinnerung" lautet das Motto der Matinee, und auf welche Weise in Zukunft an die NS-Zeit erinnert werden kann, ist dabei eine Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist. So wirkungsvoll Stolpersteine als Erinnerungs-Stützen sein mögen – dass es zusätzlicher Anstrengungen bedarf, um vor allem die jüngeren Generationen für das Thema zu sensibilisieren, war vor einigen Jahren Anlass für die Gründung des Projekts "Stolperkunst" durch Rainer Redies und Harald Stingele (Kontext berichtete).

Die Erinnerung anreichern

Teil des "Stolperkunst"-Projekts ist eine Erinnerungs-Anreicherung, die bereits am vergangenen Freitag vorgestellt wurde: Zusätzlich zu dem Stolperstein für Charlotte Islers Großmutter Sigmunde Friedmann vor der Hohenstaufenstraße 117a wurde an der Hauswand eine Glas-Plakette für die Ermordete angebracht: "Ein Fenster der Erinnerung" nennt der Künstler Hans-Jürgen Trinkner die von ihm gestaltete Plakette, auf der unter anderem ein QR-Code aufgedruckt ist, über den Informationen zu Sigmunde Friedmann abzurufen sind.

Die Plakette solle mit ihrer Kombination aus Bild-und Schriftsprache nicht nur "um die emotionale Aufmerksdamkeit der Passanten werben", sondern mit Hilfe des QR-Codes und den durch ihn zugänglichen weiteren Informationen helfen, "die knappen biografischen Angaben des Stolpersteins zu ergänzen, damit diese besser wahrnehmen, vor allem besser erinnern zu können", so Trinkner. Bislang mussten Interessierte, die mehr Informationen zu den genannten Menschen haben wollten, auf die Seiten der Stolperstein-Initiativen gehen. Nun gibt es einen direkten Link über den Stein. In Stuttgart ist diese Art der kombinierten Erinnerung aus Stolperstein und Tafel bislang einzigartig, doch das Ziel ist, dass noch möglichst viele weitere folgen.

Charlotte Isler will es sich jedenfalls nicht nehmen lassen, sich bei ihrem Stuttgart-Besuch auch die neue Erinnerungsplakette anzuschauen. Sie hat ihre Großmutter jetzt um fast 80 Jahre überlebt, ein glückliches Leben gehabt, würde wohl jeder sagen. Als die beiden Schüler:innen sie 2014 für den "Frage-Zeichen"-Film fragen, ob sie glücklich über ihr Leben sei, da sagt sie aber: Froh sei sie, wie sich alles entwickelt habe, und gerne würde sie den alten Nazis von damals vor Augen führen, dass viele der Juden, die sie umbringen wollten, überlebten und neue Familien gründeten. Ja, froh sei sie. Aber "glücklich" würde sie das nicht nennen. Da muss man schlucken. Und merkt, wie wenig vorstellbar die individuellen Narben der NS-Zeit bis heute sind.


Info:

Stuttgart: Flucht und Wiederkehr, Buchpräsentation mit Charlotte Isler, Mittwoch, 4. Oktober, 19 Uhr, Stadtarchiv Stuttgart, Bellingweg 21, 70372 Stuttgart

 Die Zeitzeugin Charlotte Isler und das Hotel Silber – Gespräch mit ihren Stuttgarter Freund*innen, Freitag, 6. Oktober, 19 Uhr, Hotel Silber, Else-Josenhans-Straße 3, 70173 Stuttgart

Matinee "20 Jahre Stolpersteine für Stuttgart— Zukunft braucht Erinnerung", Sonntag, 15. Oktober, 11 Uhr, Schauspiel Stuttgart, Oberer Schlossgarten 6, 70173 Stuttgart

 Stolpersteinverlegungen für Dr. Hugo Erlanger in der Alexanderstraße 153 und für Ludwig Löb in der Stuttgarter Breitscheidstraße 108, Mittwoch, 18. Oktober ab 9 Uhr

Stolpersteinverlegung mit Gunter Demnig in Stuttgart-Neuwirtshaus, -Feuerbach, -Ost, -Mitte, -Nord und -West, Montag, 6. November ab 9 Uhr

Weitere Infos unter www.stolpersteine-stuttgart.de.


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