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Über alte und neue Nazis

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Der Lern- und Gedenkort Hotel Silber ist ein Jahr alt geworden. In der ehemaligen Gestapo-Zentrale in Stuttgart geht es nicht nur um die Beschäftigung mit den Verbrechen der NS-Zeit, sondern auch um die neuen Rechten.

Als am vergangenen Montag der Holocaust-Überlebende Sally Perel in Stuttgart zu Gast war, da warnte er auch vor der Gefahr, die von neuen Rechten ausgeht – und dass sich so etwas wie der Nationalsozialismus in Deutschland wiederholen könne. Diese Frage, "könnte in Deutschland wieder eine Diktatur entstehen?", steht auch am Ende der Dauerausstellung zu "Polizei und Verfolgung" im Lern- und Gedenkort Hotel Silber. Die Frage steht an der Wand neben vielen anderen. Sie ist ein Hinweis darauf, dass das Haus sich nicht nur mit der Dokumentation der Verbrechen aus der NS-Zeit befassen, sondern das Wissen darüber für die Gegenwart nutzen will.

Ein Ziel, dass die für den Erhalt der ehemaligen Gestapo-Zentrale in Württemberg-Hohenzollern kämpfenden Menschen schon von Beginn an hatten. Ende des Jahres 2008, als der Abriss noch beschlossene Sache schien, da meldeten sich aus der damals gerade erst gegründeten Hotel-Silber-Initiative die Anstifter mit einem Exposé zu Wort: Sollte die ehemalige Gestapo-Zentrale gerettet werden, so solle das Innere nicht nur für eine museale Gedenkstätte genutzt werden, sondern auch für "einen 'Denkort', an dem man sich aktiv einklinken kann". Ein Ort, an dem auch Verknüpfungen zu aktuellen Flüchtlings-, Vertreibungs- und Diskriminierungsproblemen möglich sein sollen. Ein Ort, an dem man sich auch mit den neuen Rechten befassen solle.

Die Rechtsentwicklung sei heute "leider wieder präsenter", sagt Harald Stingele Ende November anlässlich des ersten Jahrestags der Eröffnung des Lern- und Gedenkorts Hotel Silber. Und der Vorsitzende der Hotel-Silber-Initiative fügt hinzu: "Vor zehn Jahren hätten wir nicht gedacht, dass dieser Ort so an Aktualität gewinnt."

Die Brücke zur Gegenwart soll auch durch viele der seit der Eröffnung hier stattfindenden Veranstaltungen geschlagen werden. Ganz explizit durch die im Mai gestartete Reihe "Das Offene Fenster", in der, so Elke Banabak von der Initiative, "geschichtsbewusst Fragen der Gegenwart diskutiert werden" sollen, Fragen, "die einen Bezug zum historischen Ort haben". Und da es ein Ort ist, der vor und nach der Geheimen Staatspolizei der Nazis auch von der "normalen" Polizei genutzt wurde, sind dies häufig Fragen, die sich mit der Staatsmacht beschäftigen: Die Verschärfung des Polizeigesetzes stand schon im Juli unter dem Titel "Polizeibefugnisse grenzenlos? Freiheitsrechte über Bord" hier zur Diskussion, im November ging es um die Frage: "Rechte Netzwerke bei der Polizei?".

Gute Zusammenarbeit

Organisatorisch ist das Hotel Silber eine Außenstelle des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg (HdG), dieses arbeitet bei Ausstellung und Programm aber eng mit der Hotel-Silber-Initiative zusammen. Eine bundesweit einzigartige Konstellation, die aber nach Aussage der Beteiligten bislang gut funktioniere – nach vielen Reibungen in der Planungsphase nicht unbedingt selbstverständlich. "Ich habe das Gefühl, das HdG freut sich über unser zivilgesellschaftliches Engagement", sagt Harald Stingele von der Initiative, und HdG-Chefin Paula Lutum-Lenger bestätigt, dass die große Reichweite des Hauses "auch mit diesem Engagement zu tun hat". Seine Homepage: www.geschichtsort-hotel-silber.de. (os)

Am heutigen Mittwoch, dem 11. Dezember, folgt unter dem Titel "Warum ist der Mord an Michèle Kiesewetter nicht aufgeklärt?" ein hochkarätig besetztes Podiumsgespräch: Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau, der Journalist Rainer Nübel und Walter Martinek, langjähriger Anwalt des beim Heilbronner Anschlag schwer verletzten Polizeibeamten Martin Arnold, diskutieren über "neue Spuren und die Rolle der Gesellschaft im NSU-Komplex". Ein weites Feld, denn auch acht Jahre nach dem Auffliegen des NSU und nach vielen Untersuchungsausschüssen sind immer noch viele Fragen ungeklärt und ernüchternd wenig Lehren daraus gezogen worden.

Das Haus ist ein Besuchermagnet

Auch zu diesem Termin wird es vermutlich wieder rappelvoll im Foyer des Hotel Silber sein, wie bei den meisten der rund 40 Veranstaltungen, die bislang hier stattfanden. Ob der Vortrag zu "ehemaligen Mitarbeitern der Gestapo beim BND" vergangene Woche, ein Abend über das SS-Massaker in Sant'Anna di Stazzema, ein zweitägiges Symposium zur LSBTTIQ-Geschichte oder diverse Veranstaltungen mit Zeitzeugen, etwa mit dem Georg-Elser-Neffen Franz Hirth. Diese Termine sind oft Kooperationen mit anderen Gruppen und Organisationen. Insbesondere mit den Gedenkstätten im Land soll die Zusammenarbeit noch intensiviert werden. Anfang 2020 wird es drei Veranstaltungen geben mit der Gedenkstätte Grafeneck, die an die Krankenmorde der NS-Zeit erinnert.

Nach einem Jahr lässt sich sagen: Das Haus, das anfangs so vehement von Stadt- und Landespolitikern abgelehnt wurde, ist ein Besuchermagnet. "40 000 Besucherinnen und Besucher kamen im ersten Jahr", sagt Paula Lutum-Lenger, Direktorin des Hauses der Geschichte (HdG) Baden-Württemberg, es sei ganz offensichtlich ein Ort, "auf den die Menschen gewartet haben". Das bestätigt auch Elke Banabak von der Initiative: "Was uns wirklich zu Herzen geht, ist, dass bei Führungen fast immer jemand dabei ist, der sagt, ich habe einen Angehörigen, der hier war." Geöffnete Fenster auch hier.

Noch reichlich Wünsche für die Zukunft

Bei aller Freude über das Erreichte – Stingele könnte sich schon noch einiges mehr vorstellen. Hätte er ein paar Wünsche frei, sagt er, dann sei in fünf Jahren der dritte Stock des Hauses dazu gekommen und gefüllt mit einem Café als Aufenthaltsraum zum Nachbereiten des Gesehenen, einem Museumsshop und – was ihm am wichtigsten ist – einem Rechercheraum mit kleiner Bibliothek, Rerchercheterminals und einer Person zur Beratung. Und auch die schon 2011 von der Initiative geforderte Einrichtung einer Forschungsstelle – wie etwa beim EL-DE-Haus, dem NS-Dokumentationszentrum in Köln – habe er immer noch im Hinterkopf.

Wie realistisch ist das alles? Momentan sind der dritte Stock und der rechte Teil des Hauses – das der landeseigenen Baden-Württemberg-Stiftung gehört – an die Firma Breuninger vermietet. Das könne sich ja ändern, "das Haus hat große Ausdehnungsmöglichkeiten", sagt Stingele.

Räumlich ohne Frage. Finanziell momentan eher nicht. "Das darf man sich alles wünschen, aber das Thema ist ja das Geld. Wer finanziert das?", wirft HdG-Chefin Lutum-Lenger denn auch ein. Ihr Haus habe es immerhin gerade geschafft, sich über Tarifsteigerungen der am Hotel Silber arbeitenden Angestellten zu verständigen. Aber für die jährlichen Unterhaltskosten von 500 000 Euro, die sich Stadt Stuttgart und Land teilen, scheint eine Erhöhung momentan recht unwahrscheinlich. In der Vergangenheit war es immer wieder die Stadt, die bei der Finanzierung knauserte, und aus dem Umfeld von Initiative und HdG ist zu hören, dies habe sich nicht geändert.

Dabei müssten die Forderungen nach einer besseren Ausstattung eines solchen Ortes eigentlich offene Türen einrennen, wollte man die auch von Politikern allmählich häufiger beschworene Gefahr eines aggressiver werdenden Rechtsextremismus nicht als reine Sonntags-Prosa abtun. Und erst kürzlich wartete der Bericht des Antisemitsmusbeauftragten des Landes Michael Blume mit klaren Handlungsempfehlungen auf. Doch hehre Worte sind bekanntlich das eine, daraus angemessene Schlüsse zu ziehen und in politische Handlungen zu übersetzen, das andere. Zumal antifaschistisch orientierten Einrichtungen und Gruppen wie dem VVN-BdA oder dem Ludwigsburger DemoZ aktuell die Gemeinnützigkeit entzogen wurden.

Für eine Erweiterung gäbe es viele Argumente

Dabei wären eine Erweiterung des Ausstellungsteils und eine Forschungsstelle Überlegungen, die alles andere als Luxus sind. Zumal die Aufarbeitung und museale Dokumentation der NS-Vergangenheit in Stuttgart – immerhin nach München der zweiten Stadt in Deutschland mit einer NSDAP-Ortsgruppe – in der Vergangenheit immer wieder schleppend liefen.

Als die Hotel-Silber-Initiative 2008 erstmals ihre Forderungen nach einer Ausstellung im damals vom Abriss bedrohten Gebäude artikulierte, lehnte dies die damalige Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann (CDU) kategorisch ab – mit der Begründung, eine breite inhaltliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Gestapo in Stuttgart werde stattdessen im geplanten Stadtmuseum im Wilhelmspalais stattfinden. Heute, gut eineinhalb Jahre nach Eröffnung des sich nun Stadtpalais nennenden Museums, ist die allgemeine Auseinandersetzung mit Stuttgart in der NS-Zeit zwar vorhanden, aber nicht unbedingt breit. Die Lücke, die zu füllen wäre, ist also riesig.

Und zum Thema Forschungsstelle ein Exkurs: Als im Jahr 2010 Peter Pätzold von den Stuttgarter Grünen, damals noch nicht Baubürgermeister, das Okay seiner Gemeinderatsfraktion zu den Abrissplänen erläuterte, lautete seine Begründung, es gebe ja schon die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg. Das war schon damals Unsinn: Denn zum einen ist die Zentrale Stelle weder eine museale Gedenkstätte noch eine wissenschaftliche Forschungsstelle. Ihre Aufgabe ist die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, die Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen noch lebende NS-Täter. Regionalgeschichte, die Durchsetzung und das Funktionieren des NS-Herrschaftsapparats sind dagegen nicht ihr Gegenstand.

Der Blick auf das oft als Vorbild fürs Hotel Silber genannte NS-Dokumentationszentrum in Köln ist hier einmal mehr hilfreich: Das hat sich mittlerweile als Forschungseinrichtung einen Namen gemacht, jährlich entstanden hier Dutzende wissenschaftliche Arbeiten. Mühsam erkämpft werden musste all das auch dort.


Info:

"Warum ist der Mord an Michèle Kiesewetter noch nicht aufgeklärt? Neue Spuren und die Rolle der Gesellschaft im NSU-Komplex", Podiumsgespräch mit Wolfgang Schorlau, Rainer Nübel und Walter Martinek, Moderation: Gigi Deppe (ARD-Rechtsredaktion), am Mittwoch, 11. Dezember, 19 Uhr, Hotel Silber, Dorotheenstraße 10, 70173 Stuttgart. Der Eintritt ist frei.

"Making of 'Hotel Silber'", Fotoausstellung von Simon Sommer zum Umbau eines historischen Ortes, und "Form Follows Function Follows Place. Erinnerungsräume für das 'Hotel Silber'", Projektpräsentation von SchülerInnen des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Marbach am Neckar, am Donnerstag, 12. Dezember, 18.30 Uhr, Hotel Silber.

Mehr Infos zu den Veranstaltungen hier.


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1 Kommentar verfügbar

  • Marla
    am 13.12.2019
    Antworten
    Schade: aus meiner Sicht hat sich die Ini 'verkauft'....
    wie sich soviele NGOs in den letzten Jahrzehnten haben 'embedden'/einkaufen lassen.

    Zuerst kämpfen sie rebellisch und unabhängig, dann sind sie glücklich, Teil des Systems21 zu sein!
    Zynisch und historisch könnte man sagen: der Deutsche…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 9 Stunden
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