KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Das Gedenken sichtbar machen

Das Gedenken sichtbar machen
|

 Fotos: Jens Volle 

|

Datum:

Ein Deserteursdenkmal, das seit 2007 am Stuttgarter Theaterhaus steht, soll in die Innenstadt umziehen. So will es eine parteiübergreifende Initiative. Lange Zeit fand das Gedenken nur an wenig sichtbaren, abgelegenen Orten statt. Das soll sich nun ändern.

Zurück Weiter

Seit zehn Jahren steht das Deserteursdenkmal vor dem Stuttgarter Theaterhaus. Das Werk des Bildhauers Nikolaus Kernbach aus Aulendorf, finanziert von 300 privaten Spendern, besteht aus zwei Teilen: In einem Granitquader ist die Silhouette eines Mannes ausgespart. Sie steht drei Meter weiter vorn.

Um zu wissen, was mit dem aus dem Block getretenen Mann gemeint ist, muss man die Inschrift auf einer Tafel lesen, die davor auf dem Boden liegt: "Den Deserteuren aller Kriege". Ohne die könnte es sich schlicht um ein Kunstwerk handeln, denn einen Bezug zwischen Deserteuren und dem Standort gibt es nicht. Die Skulptur steht dort nur, weil die Stadt Stuttgart, die das Denkmal zuerst abgelehnt und dann doch unterstützt hatte, seinerzeit keinen Ort für ihre Aufstellung anbieten wollte.

Damit ist Stuttgart nicht allein. In Mannheim steht ein Deserteursdenkmal, ursprünglich 1987 für München angefertigt, <link http: www.buecherladen-neckarstadt.de external-link-new-window>seit 1993 auf privatem Grund vor einem Buchladen. <link http: friedensdenkmal-karlsruhe.de external-link-new-window>In Karlsruhe muss man im Gewerbehof danach suchen, wo sich um einen Innenhof zahlreiche Betriebe und Initiativen angesiedelt haben. Das Ulmer Deserteursdenkmal, bereits 1983 vier Wochen in der Oberen Donaubastion aufgebaut, wurde 2005 nach 22-jährigem Exil in Neu-Ulm <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne stadt-der-wissenschaft-und-des-militaers-4569.html internal-link-new-window>an den unteren Ausgang des Botanischer Gartens versetzt. An diesem abgelegenen Ort wurden im Dritten Reich die Deserteure erschossen.

Lange als Vaterlandsverräter beschimpft

Die Wehrmachts-Deserteure gehören zu den letzten Opfergruppen der NS-Diktatur, deren Haltung nach langer Zeit endlich Anerkennung findet. Lange Zeit als Vaterlandsverräter beschimpft, hat der Bundestag sie erst 2002 rehabilitiert, zusammen mit den Homosexuellen. Damit begann ein Umdenken. Seit 2008 gibt es im Französischen Viertel in Tübingen einen Platz des unbekannten Deserteurs, eingeweiht von Oberbürgermeister Boris Palmer. Auch Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz ließ es sich nicht nehmen, 2015 bei der Einweihung des <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne wuerfeln-im-plattenbau-4613.html internal-link-new-window>großen Deserteursdenkmals direkt am Dammtor-Bahnhof dabei zu sein.

Lange hat es gedauert, bis die Erinnerung an die Untaten und Opfer der Nazis in der Mitte der Gesellschaft und in der Mitte der Stadt angekommen war. Auch in Stuttgart. Dabei gab es erste Initiativen schon direkt nach dem Krieg. "Die Juden Württembergs zum ewigen Gedenken ihren 2498 ermordeten Brüdern und Schwestern", steht auf einem bereits 1947 aus Trümmern der alten Synagoge errichteten Gedenkstein am Pragfriedhof. Auf dem Friedhof von Untertürkheim erinnern zwei Jahre später eine große Platte und zehn kleine Steine an die Widerstandsgruppe Schlotterbeck aus der Daimler-Arbeitersiedlung Luginsland: halb Grabmal, halb Mahnmal.

Eine ganze Reihe von Mahnmalen finden sich auf dem Hauptfriedhof, weit draußen am Stadtrand, oberhalb von Bad Cannstatt: Bereits 1952 wurde auf dem Israelitischen Friedhof ein Gedenkstein aufgestellt, der aus dem Lager Föhrenwald bei Wolfratshausen stammte, wo ab November 1945 viele ehemalige KZ-Häftlinge unterbracht waren. Hier gibt es auch eine Tafel in hebräischer Schrift und ein neueres Mahnmal aus blank poliertem Marmor.

Bei anderen Mahnmalen fehlt jedoch jede Erklärung. Ein Ehrenfeld von 1956 ist den Opfern der Fliegerangriffe auf Stuttgart gewidmet. Ganz nach dem Motto "die eigenen Opfer zuerst". 1960 schuf der Bildhauer Otto Baum im Park der Villa Berg ein Denkmal für die gefallenen Schüler. Auf dem Hauptfriedhof kam ein weiteres Feld für 271 Euthanasieopfer erst 1962 hinzu; dann eines für Zwangsarbeiter und an anderer Stelle noch eines für die Armenier, die ebenfalls als Zwangsarbeiter und dann als Displaced Persons in Stuttgart waren. Ein Gedenkstein für "die Opfer des armenischen Volkes" lässt sich aber auch auf den Genozid 1915 beziehen.

An einem wenig frequentierten Abschnitt der Hospitalstraße, zurückgesetzt von der Straße, wurde 1952 die Stuttgarter Synagoge wiederaufgebaut, als erste in Deutschland. In der König-Karl-Straße, wo bis 1938 die Cannstatter Synagoge stand, steht dagegen seit 1961 ein Gedenkstein des Bildhauers Herbert Gebauer. Im darauf folgenden Jahr schuf Ludwig Wilhelm von Hauff im Killesbergpark eine Stele für die vom Gelände der Reichsgartenschau deportierten Juden, seit 2013 umgeben von <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne fluchtwege-durch-esslingen-3831.html internal-link-new-window>einem großen, in den Boden eingelassenen Ring von der Künstlerin Ülkü Süngün.

Erst 1970 rückte die Erinnerung an NS-Opfer ins Herz der Stadt

Erst 1970 kam mit den vier schwarzen Granitwürfeln von Elmar Daucher am Karlsplatz die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus im Herzen der Stadt an. Nach einem Wettbewerb 1963 hatte es sieben Jahre gedauert. Das Mahnmal wirkt wie ein abstrakter Einspruch gegen das monumentale Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. in der Mitte des baumbestandenen Platzes, das auch an die Schlachten des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 erinnert. Mit der 2006 im Alten Schloss eingerichteten Stauffenberg-Gedenkstätte bildet es heute den Schwerpunkt einer Stuttgarter Topografie der Erinnerung.

Die drei verrenkten Bronzefiguren von Alfred Hrdlička in direkter Nachbarschaft gehören allerdings nicht dazu. Sie standen ursprünglich auf dem Schlossplatz und thematisieren zwar Leid und Qual, nicht aber den Nationalsozialismus. Von Hrdlička stammt aber auch das Denkmal für Eugen Bolz, den 1945 hingerichteten, früheren württembergischen Staatspräsidenten, angefertigt 1993 im Auftrag der Landeskreditbank und an einer Seitenwand des Königsbaus versteckt.

Geradezu getarnt, roter Marmor auf rotem Sandstein, ist eine Inschrift am Landgericht, die dort zur selben Zeit zur Erinnerung an die Justizopfer angebracht wurde. Im Hof, wo manchmal zwanzig Enthauptungen an einem Tag stattfanden, befindet sich heute ein Parkplatz: eine unwürdige Situation. Täter und Opfer – mindestens 450 – sind nicht genannt, obwohl viele Namen bekannt sind.

Ganz anders rund ein Jahrzehnt später beim größten Stuttgarter Gedenkort, "Zeichen der Erinnerung", initiiert von der Stiftung Geißstraße, dem Bürgerprojekt Anstifter und dem Infoladen Stuttgart 21 auf der Prag. Wo einmal die Züge nach Auschwitz, Izbica und Theresienstadt abfuhren, erinnern mehr als 2000 Namen an die Deportation der Juden und Sinti. Freilich bleibt der Innere Nordbahnhof vorerst ein Ort in Randlage, der erst durch die Wagenhalle mehr in den Blickpunkt gerückt ist.

Die katholische Kirche erinnert mit einer Skulptur in der Eberhardskirche an den Jesuiten Rupert Mayer und mit einer Gedenktafel in der Silberburgstraße an den Landesbischof Theophil Wurm, die beide im Widerstand waren. Im evangelischen Hospitalhof erinnert seit 1994 eine Gedenktafel an das frühere Polizeigefängnis und seine Opfer unter den Sinti und Roma, den jüdischen Mitbürgern und an die aus politischen und religiösen Gründen Verfolgten. Sie wurde jüngst durch eine neue Tafel mit nahezu gleichlautendem Text ersetzt.

Aber die meisten Gedenkstätten kamen auf private Initiative zustande. So <link http: stuttgart.im-bild.org fotos gedenksteine-staetten gedenktafel-kriegsgefangenenlager-gaisburg-1940-1943 external-link-new-window>eine Gedenktafel an der Stadtbahnhaltestelle Großmarkt/Brendle, die auf ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager hinweist. Die Bronzetafel stammt von dem renommierten Typografen Kurt Weidemann und erinnert daran, dass hier 434 Gefangene in einer einzigen Bombennacht ums Leben kamen. Seit kurzem erinnern auch <link http: stuttgart-rot.info wp-content uploads stolpersteine-2016-faltblatt.pdf external-link-new-window>sechs Stolpersteine an der Schlotwiese in Zuffenhausen an eines der größten Zwangsarbeiterlager der Stadt, in dem nach dem Krieg noch viele Jahre lang Heimatvertriebene untergebracht waren.

Der neue Standort fürs Deserteursdenkmal steht noch nicht fest

Das Deserteursdenkmal soll nun in die Stadtmitte umziehen: an einen zentralen Ort auf der "Diagonale der Erinnerung" zwischen Eugen-Bolz-Denkmal, Karlsplatz und dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier Hotel Silber. So will es eine parteiübergreifende Initiative aus Grünen, SPD, SÖS-Linke-Plus und der FDP-Abgeordneten Sibel Yüksel. Da sie im Gemeinderat in der Mehrheit sind, ist davon auszugehen, dass der Antrag angenommen wird.

Nur der exakte Standort steht noch nicht fest. Roland Blach, Sprecher der Initiative Deserteur-Denkmal für Stuttgart, denkt an den Platz vor dem Hotel Silber an der Konrad-Adenauer-Straße. Harald Stingele von der Hotel-Silber-Initiative meint dagegen, die Militärgerichtsbarkeit habe nichts mit der Gestapo zu tun: Deserteure wurden an verschiedenen Orten hingerichtet, 60 allein im Hof des Landgerichts. In einer Diskussion am Montag, in der auch die Hamburger Erfahrungen vorgestellt wurden, kam eine ganze Reihe möglicher Standorte zur Sprache.

Darüber wird, im Zusammenhang mit einem Grundsatzbeschluss des Gemeinderats oder danach, noch zu reden sein. Fest steht: Die Auseinandersetzung mit den Untaten des NS-Systems und der Frage, wie sich der Einzelne gegenüber Unrecht und Gewalt positioniert, gehört in die Mitte der Gesellschaft. Dazu haben SPD, Grüne und SÖS-Linke-Plus im August einen weiteren Antrag gestellt, der darauf abzielt, die Rolle der städtischen Behörden im Nationalsozialismus zu erforschen.

 


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


2 Kommentare verfügbar

  • Marla V.
    am 11.10.2017
    Antworten
    Naja... trotz permanenter Selbstbelobigungen wie toll doch das Deutschland seine NS-Vergangenheit aufgearbeitet habe... versteckt, verdrängt, klassifiziert wird wie eh und je!
    Zwangssterilisation : Denkmäler?
    Asoziale: Denkmäler?

    "Als „asozial“ oder – synonym – „gemeinschaftsfremd“ galten…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!