In seinen ersten zehn Jahren als Redakteur von "Radio Essay" des Süddeutschen Rundfunks habe er immer gesagt: "Der Rundfunk unterfordert den Hörer an so vielen Stellen, dass irgendwo in der Woche auch eine Stunde da sein muss, in der er überfordert wird." Es sei als Scherz gemeint gewesen, erinnerte sich Helmut Heißenbüttel, es war aber auch Faustregel für ihn selbst. Und eine geradezu häretische Forderung für heutige Medienmacher, die ihre Rezipienten immer da abholen wollen, wo diese gerade sind (woher auch immer sie das zu wissen glauben). Die Ausstellung über ihn im ZKM Karlsruhe verlangt viel vom Betrachter, Leser und Hörer. Aber nach dem Besuch kann man Heißenbüttel nur recht geben: Bitte wieder mehr so anregende Überforderung!
Ein Ziel, das schon der Titel der Reihe in sich trägt, zu der die Heißenbüttel-Ausstellung gehört: "Poetische Expansionen". Sie könnte genauso gut künstlerische oder mediale Expansion heißen, denn es geht, so der offizielle Text zur Ausstellung, um "die Erweiterung der künstlerischen Medien" im 20. Jahrhundert: "In den 1950er bis 1970er-Jahren entstanden neue künstlerische Formen, in dem die Grenze zwischen Text, Bild, Objekt, Theater und Musik aufgehoben wurde, die Kunst sich von ihren herkömmlichen Materialien und Produktionsverfahren löste und für technische Medien öffnete." Entscheidende Impulse für diese Entwicklung kamen aus der Dichtung und der Literatur, das zeigt die Reihe und damit erklärt sich auch ihr Titel.
Drei Ausstellungen der Reihe laufen im ZKM gerade parallel: "Alles ist möglich. Alles ist erlaubt" widmet sich dem Werk Reinhard Döhls (1934-2004), eines der Pioniere der konkreten Poesie, "sprache ist fuerwahr ein koerper" zeigt visuelle Texte, Schriftskulpturen oder audiovisuelle Installationen von Konrad Balder Schäuffelen (1929-2012). Die Ausstellung zu Helmut Heißenbüttel präsentiert dabei nicht nur von ihm geschaffene Kunst, sondern auch von ihm Gesammeltes und Rezipiertes, ob Bildende Kunst, Musik oder Literatur. Was nach Nebeneinander von Eigenem und Gesammelten aussieht, ergibt gemeinsam präsentiert einen größeren Sinnzusammenhang, denn es verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen den Stücken.
Ein "Plattenbau" aus hunderten LP-Covern
Der Titel "schreiben sammeln senden" deutet diese Spanne schon an: Heißenbüttel schrieb zuallerst, wurde als einer der wichtigsten Autoren experimenteller Literatur im Nachkriegsdeutschland bekannt. Er veröffentlichte ab der ersten Hälfte der 50er Jahre Gedichte oder ganz profan "Texte" genannte Formate, die er nach in der bildenden Kunst angewandten Prinzipien wie Collage, Montage oder Serie anfertigte. Mit klassischen Erzählformen hatte das nichts zu tun, oft mehr mit Zufall. Um die Reihenfolge von Textbausteinen aus mitgehörten Alltagsgesprächen, Radiobeiträgen oder von anderen Schriftstellern zu kombinieren, soll Heißenbüttel gerne auch gewürfelt haben. Ausschnitte aus alten Wehrmachtsberichten und andere Zeitdokumente wiederum montierte er in seinem Gedicht "Deutschland 1944" zusammen, dessen Text in einem Bronzegitter im 2015 eingeweihten Hamburger Deserteursdenkmal wiedergegeben ist.
In den 50er Jahren begann Heißenbüttel, Kunst zu sammeln, und wurde durch sein Interesse bald gefragter Redner bei Ausstellungen. Die zu diesem Zweck verfassten Texte nannte er "Gelegenheitsgedichte und Klappentexte", sie sind in einem eigenen Band zusammengefasst. Dieses Büchlein, sagt Kurator Holger Jost, sei der Ausgangspunkt der Schau gewesen, "wenn man so will, ist die Ausstellung auch eine Illustration zu den 'Klappentexten'".
Gezeigt werden nicht einfach nur gesammelte Bilder, sondern auch die entstandenen Kooperationen: So gestaltete etwa der Künstler HAP Grieshaber die Einbandgrafik der ersten Gedichtbände Heißenbüttels, während sich dieser wiederum mit Texten an Grieshabers Grafikmappe "O du mein Neckar" oder an dessen Zeitschrift "Engel der Geschichte" beteiligte. Wechselwirkungen, die mal mehr, mal weniger, auch bei gezeigten Werken von Künstlern wie Rupprecht Geiger, Armin Sandig oder Thomas Lenk entstanden. Eine Texttafel zitiert Heißenbüttels Ehefrau Ida: Ihr Mann habe die von Künstlern für seine Ausstellungsreden geschenkten Bilder aufgehängt, "'um etwas von ihnen zu lernen', er bekam Impulse für seine eigene Arbeit durch sie".
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