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Gegen den alten Hass

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60 Seiten umfasst der erste Bericht, den Michael Blume, der Antisemitismus-Beauftragte der Landesregierung, zur Entwicklung und zur Lage in Baden-Württemberg vorgelegt hat. Auf der Hälfte der Seiten: Handlungsempfehlungen. Viele davon befassen sich, schon vor dem Anschlag in Halle, mit Fragen der Sicherheit.

Eine der vielen zentralen Botschaften findet sich gleich in der Einleitung: "Antisemitismus bedroht immer auch, aber niemals nur jüdisches Leben, sondern greift immer wieder die Grundlagen unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung an. (…) Wo sich heute Träger einer Kippa fürchten, droht morgen auch Gewalt gegen Menschen mit Kopftüchern, Kreuzen – und gegen Menschen nichtweißer Hautfarbe. (…) Geben wir die Grundrechte für einzelne Menschengruppen auf, so werden alle verlieren." Zum Amtsantritt 2018 hatte Michael Blume, der Antisemitismus-Beauftragte der Landesregierung und promovierter Religionswissenschaftler, noch versprochen, hart zu arbeiten, "um sich überflüssig zu machen". Nach seiner ersten Analyse der Situation in Baden-Württemberg ist stattdessen eine personelle Aufstockung angebracht im Kampf gegen Judenfeindlichkeit. Denn auch im Südwesten Deutschlands ist Antisemitismus weiter verbreitet als angenommen.

"In kaum einer politischen Rede zum Thema fehlt die Beteuerung, dem Antisemitismus ‚in all seinen Formen‘ und ‚auf allen Ebenen‘ entgegen zu treten", schreibt Blume allen politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen ins Stammbuch. Das war noch vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale am 9. Oktober, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Und weiter: "Wir müssen jetzt handeln, um dem digital befeuerten Wiedererstarken menschenfeindlicher, ausgrenzender Haltungen zu begegnen." Es sei spät, aber noch nicht zu spät, "um dem alten Hass diesmal rechtzeitig und entschlossen entgegen zu treten". 

Die AfD war von Anfang an dagegen

Alle Fraktionen haben seinerzeit Blumes Bestellung beschlossen – mit einer Ausnahme, was so erwartbar wie erschreckend ist: Die "Alternative für Deutschland" mochte nicht zustimmen, als der Landtag im März 2018 der Landesregierung vorschlug, den neuen Beauftragten als "hörbare Stimme im Kampf gegen Judenfeindlichkeit" einzusetzen. Die vier anderen Fraktionen hätten "an der demokratischen Opposition vorbei einen Antrag von großer sittlicher Tragweite gestellt, um sich feierlich zu den Anständigen in Deutschland zu erklären", so AfD-Fraktionschef Bernd Gögel. Dabei seien 2015 aus Ländern, "in denen Antisemitismus Staatskult ist, aus Ländern, in denen Adolf Hitler noch heute verehrt wird, über eine Million junge Männer in dieses Land geholt worden". 

99 einschlägige antisemitische Straftaten weist das Innenministerium für das Jahr 2017 aus, 136 sind es 2018. Davon 92 im Jahr 2017 und 130 im darauffolgenden Jahr werden politisch motivierter rechter Kriminalität zugeordnet. Jeweils elf davon in beiden Jahren "ausländischer" oder "religiöser Ideologie". Gerade mit Blick auf die AfD ist sicher, dass diese Zahlen nur für einen Teil der Realität stehen. Als rechts eingestuft sind Schmierereien wie "Scheiss Zionismus" auf die Wand eines Wasserkraftwerks oder Hakenkreuze an eine Tür des Ulmer Münster und zahlreiche Äußerung im Netz zur Shoah in der Tonlage: "Ginge es nach mir, könnte man den sechs Millionen toten Juden gerne noch ein paar Millionen hinzufügen."

Zahlen und Beispiele wie diese stehen aber nur für einen Teil der Realität. "Nicht jede antisemitische Handlung fällt unter einen Straftatbestand, und nicht jede antisemitische Handlung wird angezeigt", stellt Blume im Bericht fest und wirbt für die beiden vom Demokratiezentrum Baden-Württemberg koordinierten Meldestellen "Leuchtlinie" und "respect!". Allerdings seien diese weder spezialisiert noch bei Jüdinnen und Juden ausreichend bekannt. Das Berliner Beispiel illustriert, was passiert, wenn sich beides ändert: Die Polizei in der Hauptstadt hat 2018 im ersten Halbjahr 122 antisemitische Straftaten registriert; bei der Meldestelle gingen aber 527 konkrete Hinweise auf konkrete Vorfälle ein. Der Beauftragte empfiehlt eine spezialisierte Stelle auch für Baden-Württemberg. In einem ersten Schritt wollen die Länder und der Bund die nach gleichen Kategorien erhobenen Vorfallzahlen zusammenführen, "um ein genaueres Bild der gesamtdeutschen Situation – mit allen ihren Unterschieden – zu erhalten". 

Lokale Medien stärken gegen den Hass im Netz

Bereits genau und detailliert ist die Einschätzung der einschlägigen Aktivitäten im Netz. Der Judenhass per Tastatur und Mausklick habe sich verfestigt und werde zu einer bleibenden Bedrohung werden, warnt Blume und verlangt nicht nur, KommunalpolitikerInnen und die Kommunalpolitik zu stärken, sondern auch und gerade die Medien, die über sie berichten. "Im Internet begegne ich Trump, Erdoğan, Macron, Netanjahu und Merkel, aber ich begegne nicht mehr der Politik vor Ort", kritisiert Blume. Das Vertrauen ins demokratische System habe aber darauf aufgebaut, "dass ich zum Beispiel über die Zeitung die Kommunalpolitik kennenlerne und dann einen Blick für die größere Politik erhalte". Durch die Emotionen, die Verschwörungsvorwürfe und die Radikalisierung im Netz werde das auf den Kopf gestellt.

Ein ganzes Kapitel ist dem Journalismus und dessen Finanzierung gewidmet. Insbesondere für den schnell wachsenden Online-Bereich gelte es, einen sinnvollen Kompromiss zwischen finanzieller Vergütung und möglichst ungehindertem Zugang zu Medieninhalten zu finden, schreibt Blume. Medien komme eine wichtige Rolle in der unabhängigen Recherche und Aufklärung zu, "selbstverständlich auch für die Aufdeckung unlauterer Medieninhalte, Fake-News und extremistischer (Digital)Netzwerke". Anstoßen will er eine landesweite Diskussion über die Rolle des Lokaljournalismus in der föderalen Demokratie, ebenso über ein landesweites Bezahlsystem zur Stabilisierung von lokalen und regionalen Medien. Außerdem empfiehlt er, den "Aktionsplan gegen Desinformation" aktiv anzugehen, den die EU-Kommission schon beschlossen hat.  

Schon allein die Stellenbeschreibung für Blumes Tätigkeit zeigt, dass dafür zusätzliches Geld gebraucht wird, wenn es nicht bei Beteuerungen bleiben soll. Blume ist "schwerpunktmäßig", wie es heißt, ein ganzes Aufgabenbündel übertragen worden: Er ist Ansprechpartner für Belange jüdischer Gruppen und nationaler wie internationaler gesellschaftlicher Organisationen, er koordiniert ressortübergreifend die Maßnahmen der Landesregierung zur Bekämpfung des Antisemitismus, ist zuständig für Zusammenarbeit mit Bund und Ländern und überhaupt für "die Sensibilisierung der Gesellschaft für aktuelle und historische Formen des Antisemitismus durch Öffentlichkeitsarbeit sowie politische und kulturelle Bildung". 

"Antisemitismus tritt die Würde des Menschen mit Füßen"

Und jetzt liegen erstmalig mehrere Dutzend Handlungsempfehlungen auf dem Tisch. Sie reichen von der Ernennung konkreter AnsprechparterInnen in allen Stadt- und Landkreisen zur Bildung von Netzwerken über die Aufarbeitung aller antisemitischen und rassistischen Vorfälle im Europa- und Kommunalwahlkampf 2019 bis zur Etablierung einer verlässlichen Förderstruktur für schulische und außerschulische Projekte gegen Hetze, Cybermobbing und Trolling. Oder: Eine bundesweit bisher einmalige Forschungsstelle Antiziganismus solle an der Universität Heidelberg eingerichtet und auf Dauer finanziert werden. Sehr konkret wird Blume in Sachen Fortbildungen für Lehrkräfte und Beschäftigte in der Verwaltung und im Justizsektor. Denn die müssten "zeitnah" beginnen. Und vor allem: Der Vertrag 2010 zwischen dem Land und den Israelitischen Religionsgemeinschaften in Baden und Württemberg soll erweitert werden, weil immer mehr jüdische Gemeinden einen großen Teil ihrer Budgets für Sicherheitseinrichtungen ausgeben müssen.

"Antisemitismus tritt das mit Füßen, worauf unsere Demokratie beruht: die unantastbare und gleiche Würde jedes einzelnen Menschen", hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Debatte um die Schaffung der neuen Einrichtung erklärt. "Weil er unsere Gesellschaft auseinandertreibt, spaltet, weil er ausgrenzt, Hass schürt und unsere Erinnerungskultur schändet, für die wir in der ganzen Welt geachtet werden." Solch ein Amt mache "nur Sinn, wenn es bestehende Strukturen sinnvoll ergänzt und die Arbeit der Ministerien koordinieren kann". Michael Blume, das belegt nicht erst sein erster Tätigkeitsbericht, will mehr. Mit dem Sofortprogramm im Volumen von einer Million Euro, die das Kabinett zur so drigend geforderten verstärkten Sicherung jüdischer Einrichtungen beschlossen hat, wird es nicht getan sein. Bei weitem nicht.

Heftige Kritik in einem Punkt

Zur Landtagsdebatte über seinen ersten Tätigkeitsbericht haben der Antisemitismus-Beauftragte Michael Blume und zahlreiche Abgeordnete Protestbriefe erhalten. Hintergrund ist eine von Blumes Handlungsempfehlungen, die den "israelfeindlichen Antisemitismus“ stoppen sollen. Vorgeschlagen wird darin "die Überarbeitung oder Erneuerung" der "Nakba"-Ausstellung, die die Flucht und Vertreibung arabischer Menschen aus dem Gebiet des heutigen Israel zeigt. Die Ausstellung, so der Bericht, solle "gleichberechtigt auch die Vertreibung jüdischer Menschen aus fast allen arabischen Staaten – zum Beispiel dem Irak" zeigen. Zu Wort gemeldet haben sich deshalb unter anderem VertreterInnen der Vereinigung "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost". Sie werfen dem Beauftragten vor, "Unwahrheiten über Juden" zu verbreiten, "wenn Sie gegen jeden historischen Beweis über 'die Vertreibung jüdischer Menschen aus fast allen arabischen Staaten' schreiben". Und weiter: "Haben Sie die Absicht 'gleichberechtigt' zu argumentieren und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit einem anderen auszutarieren, hätten Sie genug solche Verbrechen in der deutschen Geschichte gefunden (...) Dann hätten Sie Juden gegen Juden 'gleichberechtigt' dargestellt, falls Sie einen historischen Zusammenhang herstellen wollen, denn die aus Europa geflüchteten Juden haben die Nakba verübt und PalästinenserInnen vertrieben. Zu der Zeit waren kaum Juden aus arabischen und muslimischen Ländern in Palästina, so dass sie nicht an diesem Verbrechen der Nakba beteiligt waren."

Das Palästinakomitee Stuttgart e.V. wiederum beklagt "offensichtlich sachlich unhaltbare Feststellungen, die die israelische Unterdrückungspolitik gegen die Palästinenser begünstigen". Solche eindeutigen Fehler beschädigten die "Wirkung des Berichts, sie sind darüber hinaus geeignet, die öffentliche Diskussion in eine falsche Richtung und weg von den eigentlichen, rechtsextremen, Gefahrenquellen zu lenken". Hintergrund ist ebenfalls die Nakba, die Flucht und Vertreibung von etwa 700 000 arabischen Palästinensern aus dem damals unter britischem Völkerbundsmandat stehenden Gebiet. "Eine plausible Erklärung, warum Dr. Blume die Nakba-Ausstellung des Vereins Flüchtlingskinder im Libanon in die Nähe des Antisemitismus rückt, sie so diffamiert und als präventive Maßnahme ihre Überarbeitung fordert, findet sich nicht im Antisemitismus-Bericht", heißt es in dem Schreiben weiter. (jhw)


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