Eine der vielen zentralen Botschaften findet sich gleich in der Einleitung: "Antisemitismus bedroht immer auch, aber niemals nur jüdisches Leben, sondern greift immer wieder die Grundlagen unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung an. (…) Wo sich heute Träger einer Kippa fürchten, droht morgen auch Gewalt gegen Menschen mit Kopftüchern, Kreuzen – und gegen Menschen nichtweißer Hautfarbe. (…) Geben wir die Grundrechte für einzelne Menschengruppen auf, so werden alle verlieren." Zum Amtsantritt 2018 hatte Michael Blume, der Antisemitismus-Beauftragte der Landesregierung und promovierter Religionswissenschaftler, noch versprochen, hart zu arbeiten, "um sich überflüssig zu machen". Nach seiner ersten Analyse der Situation in Baden-Württemberg ist stattdessen eine personelle Aufstockung angebracht im Kampf gegen Judenfeindlichkeit. Denn auch im Südwesten Deutschlands ist Antisemitismus weiter verbreitet als angenommen.
"In kaum einer politischen Rede zum Thema fehlt die Beteuerung, dem Antisemitismus ‚in all seinen Formen‘ und ‚auf allen Ebenen‘ entgegen zu treten", schreibt Blume allen politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen ins Stammbuch. Das war noch vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale am 9. Oktober, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Und weiter: "Wir müssen jetzt handeln, um dem digital befeuerten Wiedererstarken menschenfeindlicher, ausgrenzender Haltungen zu begegnen." Es sei spät, aber noch nicht zu spät, "um dem alten Hass diesmal rechtzeitig und entschlossen entgegen zu treten".
Die AfD war von Anfang an dagegen
Alle Fraktionen haben seinerzeit Blumes Bestellung beschlossen – mit einer Ausnahme, was so erwartbar wie erschreckend ist: Die "Alternative für Deutschland" mochte nicht zustimmen, als der Landtag im März 2018 der Landesregierung vorschlug, den neuen Beauftragten als "hörbare Stimme im Kampf gegen Judenfeindlichkeit" einzusetzen. Die vier anderen Fraktionen hätten "an der demokratischen Opposition vorbei einen Antrag von großer sittlicher Tragweite gestellt, um sich feierlich zu den Anständigen in Deutschland zu erklären", so AfD-Fraktionschef Bernd Gögel. Dabei seien 2015 aus Ländern, "in denen Antisemitismus Staatskult ist, aus Ländern, in denen Adolf Hitler noch heute verehrt wird, über eine Million junge Männer in dieses Land geholt worden".
99 einschlägige antisemitische Straftaten weist das Innenministerium für das Jahr 2017 aus, 136 sind es 2018. Davon 92 im Jahr 2017 und 130 im darauffolgenden Jahr werden politisch motivierter rechter Kriminalität zugeordnet. Jeweils elf davon in beiden Jahren "ausländischer" oder "religiöser Ideologie". Gerade mit Blick auf die AfD ist sicher, dass diese Zahlen nur für einen Teil der Realität stehen. Als rechts eingestuft sind Schmierereien wie "Scheiss Zionismus" auf die Wand eines Wasserkraftwerks oder Hakenkreuze an eine Tür des Ulmer Münster und zahlreiche Äußerung im Netz zur Shoah in der Tonlage: "Ginge es nach mir, könnte man den sechs Millionen toten Juden gerne noch ein paar Millionen hinzufügen."
Zahlen und Beispiele wie diese stehen aber nur für einen Teil der Realität. "Nicht jede antisemitische Handlung fällt unter einen Straftatbestand, und nicht jede antisemitische Handlung wird angezeigt", stellt Blume im Bericht fest und wirbt für die beiden vom Demokratiezentrum Baden-Württemberg koordinierten Meldestellen "Leuchtlinie" und "respect!". Allerdings seien diese weder spezialisiert noch bei Jüdinnen und Juden ausreichend bekannt. Das Berliner Beispiel illustriert, was passiert, wenn sich beides ändert: Die Polizei in der Hauptstadt hat 2018 im ersten Halbjahr 122 antisemitische Straftaten registriert; bei der Meldestelle gingen aber 527 konkrete Hinweise auf konkrete Vorfälle ein. Der Beauftragte empfiehlt eine spezialisierte Stelle auch für Baden-Württemberg. In einem ersten Schritt wollen die Länder und der Bund die nach gleichen Kategorien erhobenen Vorfallzahlen zusammenführen, "um ein genaueres Bild der gesamtdeutschen Situation – mit allen ihren Unterschieden – zu erhalten".
Lokale Medien stärken gegen den Hass im Netz
Bereits genau und detailliert ist die Einschätzung der einschlägigen Aktivitäten im Netz. Der Judenhass per Tastatur und Mausklick habe sich verfestigt und werde zu einer bleibenden Bedrohung werden, warnt Blume und verlangt nicht nur, KommunalpolitikerInnen und die Kommunalpolitik zu stärken, sondern auch und gerade die Medien, die über sie berichten. "Im Internet begegne ich Trump, Erdoğan, Macron, Netanjahu und Merkel, aber ich begegne nicht mehr der Politik vor Ort", kritisiert Blume. Das Vertrauen ins demokratische System habe aber darauf aufgebaut, "dass ich zum Beispiel über die Zeitung die Kommunalpolitik kennenlerne und dann einen Blick für die größere Politik erhalte". Durch die Emotionen, die Verschwörungsvorwürfe und die Radikalisierung im Netz werde das auf den Kopf gestellt.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!