Ihre jüdische Identität wiederum definiere die Mehrzahl der Zugewanderten nicht über die Religion, so Strelkowa, "für sie bedeutet Judentum eine Volkszugehörigkeit, Traditionen, eine gemeinsame Geschichte, einen besonderen Humor". Auch hier deute sich aber bei vielen Jüngeren ein Wandel hin zu mehr Religiosität an, so Strelkowa, die sich selbst "von beiden Seiten" jüdisch fühlt: "Ich fühle mich als Teil eines Volkes, aber praktiziere das Judentum auch als Religion."
Spannungen zwischen Orthodoxen und liberaleren Gruppen
Dennoch scheint das Bedürfnis nach Alternativen zum orthodoxen Gottesdienst, befeuert durch die massive Zuwanderung in viele jüdische Gemeinden Deutschlands, für länger anhaltende Spannungen zu sorgen. In Stuttgart zeigt sich dies im Machtkampf zwischen einer orthodoxen Gruppe um den Stuttgarter Unternehmer Martin Widerker und einer liberaleren Gruppe um die Psychotherapeutin und gebürtige Wienerin Barbara Traub, die sich in den letzten zwölf Jahren zweimal als Vorstandssprecher abwechselten. Hohe Wellen schlug der Konflikt erstmals 2005, als der Vorstand unter Traub den Landesrabbiner Netanel Wurmser entließ. Offiziell, weil die IRGW sein Gehalt nicht mehr zahlen konnte, inoffiziell, weil Wurmser als zu orthodox in seiner Glaubensausrichtung betrachtet wurde. Als Traub bei den Vorstandswahlen 2006 Widerker unterlag, wurde der Rabbiner wieder eingestellt. Er blieb auch im Amt, nachdem Traub 2009 wieder Widerker ablöste, die Spannungen flammen trotzdem immer wieder auf.
Die Abspaltung einer liberalen jüdischen Gemeinde, von denen es bereits 22 in Deutschland gibt, zeichnet sich indes in Stuttgart nicht ab. Für die 56-jährige Traub, die sich als "traditionelle Jüdin" sieht, geht es vor allem darum, die IRGW als pluralistische Einheitsgemeinde zu bewahren, in der von orthodox bis liberal alle Richtungen Platz haben. "Wir sind mit dem Anspruch angetreten, den verschiedenen Strömungen in der Gemeinde anzubieten, ihren eigenen Gottesdienst durchzuführen." So gibt es mittlerweile seit 2011 eine kleine Gruppe, die regelmäßig Gottesdienste in liberalem Ritus veranstaltet. Das beinhaltet unter anderem eine völlige Gleichberechtigung und -behandlung von Frauen im Gottesdienst – beim orthodoxen Ritus sitzen die Geschlechter getrennt – und Verwendung der jeweiligen Landessprache neben Hebräisch. Für die Gottesdienste muss dabei immer ein liberaler Rabbiner oder Kantor von außerhalb geholt werden.
Nach über zwei Jahrzehnten Zuwanderung zieht Traub ein positives Fazit: So sei etwa die Gründung der jüdischen Grundschule im Jahr 2008, die momentan 45 Schüler hat, ein Ergebnis der Zuwanderung, ebenso der Bau der neuen Synagoge in Ulm. "Unser Gemeindeleben ist bunter und reicher geworden", sagt Traub, "es stellt uns aber auch fast täglich vor neue Aufgaben."
Als große Aufgabe jenseits der Gemeindegrenzen sieht Traub auch, den Dialog zwischen Juden und Nichtjuden zu fördern: "Jüdische Geschichte bleibt oft abstrakt, da es nach wie vor wenig persönliche Kontakte mit Juden gibt." Nicht zuletzt die Beschneidungsdebatte im Sommer 2012 habe gezeigt, dass manches an der jüdischen Kultur für nicht jüdische Deutsche nicht nachvollziehbar sei und daher abgelehnt werde.
Als Mittel der Kommunikation könnte man in diesem Sinne auch die von der IRGW veranstalteten Jüdischen Kulturwochen Stuttgart betrachten, die Traub 2004 ins Leben rief und die dieses Jahr ab dem 4. November zum zehnten Mal stattfinden. Zwei Wochen lang sollen Lesungen, Konzerte, Filme, Vorträge, Ausstellungen und ein Symposium dem Publikum möglichst viele Facetten jüdischer Kultur nahebringen.
Yaron Goldstein: "Ich lebe mit zwei Kulturen"
Mit der jüdischen Gemeinde in Stuttgart hat Yaron Goldstein wenig am Hut. Doch mit seinem Stück "Die Beichte" über die Vertreibung der Juden aus Spanien hatte es der freie Regisseur, Autor und Schauspieler 1992 geschafft, dass sich sowohl die Diözese Rottenberg als auch die IRGW über ihn echauffierten – wegen des Plakats, das einen an ein Kreuz genagelten Davidstern zeigte.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!