Dass ausgerechnet die Juden, die einen vom Nationalismus verursachten Genozid überlebt hatten, ihrerseits zu wütenden Nationalisten werden sollten, gehört zu den tragischsten Kapiteln der Geschichte. Wie sehr wünschte man sich doch, dass sie aus erlittenem Schicksal gelernt hätten und nicht so handelten, wie zu handeln sie den Individuen anderer Völker zu Recht vorwerfen. Wie sehr wünschte man sich, dass jeder Einzelne von ihnen vorlebte, wie redliche Deutsche oder Österreicher sich hätten verhalten sollen, als deren jüdische Nachbarn abgeholt und ins KZ deportiert wurden. Die Verteidiger Israels und seiner Politik fragen rhetorisch, warum Juden bessere Menschen sein sollten als andere. Die verzweifelte Antwort leitet sich aus dem Glauben an die menschliche Lernfähigkeit ab: Nicht, weil sie als bessere Menschen geboren wurden, sondern weil ihnen die kollektive Erfahrung eine Lehre erteilt hat, die sie von sich selbst auf andere übertragen können müssten, sollten Juden gegen Nationalismus und seine Folgen immun sein.
Die tägliche Erfahrung lehrt uns, dass es so nicht ist. Offenbar sind Menschen in ihrer großen Mehrheit überfordert, wenn sie, was sie als Opfer erlebt haben, beherzigen sollen, sobald sie in die Rolle der Täter schlüpfen. Israel ist, leider, ein ganz normaler Staat geworden, und seine Bewohner sind ganz normale Menschen geworden. Das Ergebnis trägt wenig dazu bei, ein freundliches Menschenbild zu entwerfen.
Dem übersteigerten Bedürfnis nach Gruppenidentität und somit auch nach Identifikation mit Israel gegenüber, das mit Solidarität nichts zu tun hat, sollte gelten, was Arthur Schnitzler unübertrefflich formuliert hat: "Ich fühle mich mit niemandem solidarisch, weil er zufällig derselben Nation, derselben Rasse, derselben Familie angehört wie ich. Es ist ausschließlich meine Sache, mit wem ich mich verwandt zu fühlen wünsche; ich anerkenne keine angeborene Verpflichtung in dieser Frage."
Keine Sympathie, kein Respekt
Menschlich ist es durchaus verständlich, dass Individuen, dass Gruppen erst einmal um ihre eigene Sicherheit bangen, dass sie gegen eigene Benachteiligung aufbegehren. Dass Juden, deren Verwandte ermordet wurden, am eigenen Überleben und am Überleben derer, mit denen sie ein spät erworbenes Vaterland teilen, stärker interessiert sind als an einer humanen Welt; dass Frauen, die über Generationen hinweg schlechtere Chancen hatten als Männer, eher Vorteile erlangen wollen wenigstens für die kleine Schicht der bürgerlich-intellektuellen Frauen, der sie angehören, als eine egalitäre Gesellschaft; dass Minderheiten gegen Gesetze demonstrieren, die sie gefährden, statt gegen eine ungerechte Gesetzgebung insgesamt – all dies ist verständlich. Sympathisch, mit Verlaub, ist es nicht. Jedenfalls verdient es keinen besonderen Respekt. Dass sich jemand für seine eigenen Rechte einsetzt, ist sinnvoll, aber es bewegt sich im Rahmen eines Wertesystems, für das der Egoismus verbindlich ist. Der Schwächere spielt seine Interessen gegen den Stärkeren aus. Aber es sind nicht mehr als eben seine Interessen.
In der "Zeit" schreibt Tanja Dückers, Israel-Kritik sei "immer auch zu einem substanziellen Teil purer unreflektierter Antiamerikanismus". Dass dieser Antiamerikanismus, wenn er denn tatsächlich immer(!) Teil der Israel-Kritik sein sollte, unreflektiert sei, ist die "pure" Behauptung einer Autorin, die für sich beansprucht, dass nur ihr Standpunkt reflektiert sei. Aber Antiamerikanismus ist zu einem Synonym für Antisemitismus geworden. Weil es sich doch herumgesprochen hat, dass Israel-Kritik nicht antisemitisch sein muss, stigmatisiert man sie jetzt mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus. Dass im Nahen Osten Weltpolitik betrieben wird, kann doch niemand ernsthaft bestreiten. Dass die USA dort ihre Interessen wahrnehmen, auch nicht – was übrigens für Israel zum Problem werden wird, wenn die USA zur Überzeugung gelangen, dass ihnen arabische Staaten nützlicher sind. Es war George W. Bush, der verkündete: "We stand with Israel because it shares our values." Das muss nicht immer so bleiben. Und zum Glück verhält es sich mit den Amerikanern wie mit den Juden: Ein paar gibt es schon, die weder die Werte Israels noch die von George W. Bush teilen. Wie zum Beispiel der amerikanische Jude Noam Chomsky.
Antiamerikanisch ist nicht, wer gegen eine Politik des Irakkriegs, der NSA oder des Wirtschaftsimperialismus protestiert. Antiamerikanisch ist, wer jeden Amerikaner, Noam Chomsky eingeschlossen, dafür verantwortlich macht. Mit dem Antisemitismus verhält es sich ähnlich.
Thomas Rothschild, geboren in Glasgow und aufgewachsen in Wien, ist promovierter Literaturwissenschaftler, Autor und Journalist. Seit 2011 ist Rothschild Präsidiumsmitglied des deutschen Schriftstellerverbands P.E.N.
28 Kommentare verfügbar
Axel Fingerhut
am 02.11.2023"Die unterschwellige Gleichsetzung von Israel mit Nazi-Deutschland geht gar nicht!"
Macht der Autor das wirklich? Oder versucht er nur ethisch-moralische Verbindlichkeiten zu setzen gegenüber begangenem Unrecht - unabhängig von der Schwere des Schuld?
Und zu…