Seine Streitschrift "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung", die seit dem Frühjahr zu kontroversen Debatten führt.
Wenn es kein Zündstoff wäre, würde ja niemand drüber sprechen. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass man austauschfähig wird. Ich schließe mich da ein. Ich bin 63 geboren, ich habe meine gesamte Jugend, meine Ausbildung in der DDR erfahren und stelle auch heute immer noch fest, dass man gleiche Dinge mit anderen Augen sieht, anderen Begriffen beschreibt, anders bewertet. Die Herkunft Ost ist nicht unbedingt ein Bonus, sondern schließt eine Zuordnung ein. Medial ist das ein Riesenproblem, das würde ich ganz deutlich so sehen. Die Bequemlichkeit, den Osten als Problemzone am Köcheln zu halten, ist verhängnisvoll in der Wirkung.
Konflikte sind ja sehr beliebt in den Medien.
Das würde ich bestätigen. Man kann es in vielen Bereichen sehen. Da hat Dirk Oschmann recht. Wie viele Ostdeutsche sind in leitenden Verantwortlichkeiten unterwegs, besonders in öffentlichen Einrichtungen? Carsten Schneider, der Ostbeauftragte, hat in einem Interview gesagt, in Bayern ist die Gerichtsbarkeit zu 80 Prozent mit Anwälten mit bayerischen Wurzeln besetzt. In Sachsen-Anhalt aber eben auch. Jetzt stellen Sie sich mal vor, in Bayern würden sächsische Richter die Prozessführung haben. Dazu meinte Carsten Schneider, das würde einen Aufstand geben. Diese Verhältnisse sind Alltag. Das hat sich so entwickelt und ist nicht in Ordnung. Es muss weiter Ziel bleiben, dass es eine bessere Durchmischung gibt.
Es ist also nicht nur ein Gefühl, als Ostdeutsche nicht anerkannt, nicht beachtet zu sein, sondern nachweisbarer Fakt. Kommt auch daher die hohe AfD-Popularität im Osten?
Wissen Sie, wenn ich das so einfach beantworten könnte, würde ich wahrscheinlich in Fernsehshows sitzen. Ich denke, es geht um die tatsächliche Verbindung zu den Lebensrealitäten größerer Bevölkerungsgruppen, die in Mecklenburg-Vorpommern andere sind als im bayerischen Wald, die in Schleswig-Holstein andere sind als auf der Schwäbischen Alb. Diese Verbindung ist abhandengekommen. Und das gilt für alle Parteien des demokratischen Spektrums. Und diese Unterlassung ist wie ein offenes Scheunentor und hat den Zugang, hat die Verbindung, hat die Identifikation mit – man muss es ja so sagen – grundsätzlich völkischen, rassistischen und antidemokratischen Positionen ermöglicht.
Wie gehen Sie im Theater damit um, dass diese völkischen, antidemokratischen Positionen auch in Thüringen auf breite Zustimmung stoßen. Laut Umfragen liegt die AfD auf Platz eins mit knapp über 30 Prozent. Suchen sie das Gespräch auch mit AfD-Wählern?
Unsere Überzeugung ist, dass wir für unser Publikum in seiner gesamten Bandbreite arbeiten. Ich kann und werde keine ideologischen Mutmaßungen anstellen. Wir haben ein Programm und versuchen alle in unserem Zuschauerraum mit 900 Plätzen zu versammeln und ein möglichst gemeinschaftsstiftendes Erlebnis anzubieten. Das ist etwas, was wir auch weiterhin mit großer Anstrengung tun müssen, weil es Fronten abbaut, weil es Leute wieder ins Gespräch bringt über die Kunst, über das, was unser Leben ausmacht. Wenn wir in Umfragen bei über 30 Prozent Zustimmung für die AfD liegen, dann ist das vielleicht auch der Prozentsatz, den wir im Publikum annehmen müssen. Das ist nicht schön, aber eine Realität, mit der man sich zugewandt beschäftigen muss. Wir brauchen Verbindung in der Gesellschaft. Die konfrontative Strategie hat über 30 Jahre, oder seit es die AfD gibt, zu nichts anderem geführt, als dass die extremen Kräfte stärker geworden sind.
Und wie kommen Sie in den tatsächlichen Austausch?
In Nachgesprächen oder Einführungen zu den Aufführungen, auf der Straße. Wichtig ist, dass sich unser Theater in seiner Haltung unmissverständlich wahrnehmen lässt. Wir stellen uns gegen Rechtsextremismus und gegen Extremismus jeglicher Art. Das wissen die Weimarerinnen und Weimarer. Als sich der Vorsitzende des Landtagsfraktion der AfD zu einer wöchentlichen Kundgebung als Redner angemeldet hat, gab es eine große Gegendemonstration, die wir mit unseren Mitteln unterstützt haben. Sehr klar und deutlich.
Aus der Sicht des Kulturschaffenden: Worin besteht die konkrete Gefahr, wenn die AfD mehr Mitsprache in der Landesregierung in Thüringen bekommt?
Die thüringische Landesverfassung schreibt einer Fraktion, die über 33 Prozent Stärke hat, ein Vetorecht zu. Und das ist das erklärte Wahlkampfziel der AfD, wenn sie 30 Prozent plus vorgibt. Und da merkt man, wie infam die Sichtwiese auf demokratische Instrumentarien ist, wenn dies zum Ziel erklärt wird. Kultur ist ein umstrittener Kernbereich unserer Gesellschaft und insofern wird es spannend sein, wie die Parteien des demokratischen Spektrums diesen Bereich genauso wie die Bildung und den Sport – also da, wo viele Menschen unterwegs sind – in ihren Wahlprogrammen aufnehmen werden. Damit man sich als Wähler dort wiederfindet. Die AfD wird das tun.
Das hieße ja, dass die etablierten Parteien mit Fleiß der AfD die Türen öffnen. Sind sie tatsächlich so blind oder sind sie hilflos?
Nein, die sind nicht hilflos. In den Programmen der Parteien zur letzten Landtagswahl in Thüringen kann man das nachlesen. Da ist die Kultur oft gar nicht vorgekommen. Schlichtweg. Diese Unterlassung ist fatal. Deshalb gilt es, die demokratischen Parteien zu bestärken und zu animieren, sich für die gesellschaftlichen Themen in jeder Form argumentativ stark zu machen. Das heißt nicht, dass man überall immer gleich Millionen parat haben muss, um die Probleme zu lösen. Aber dass man die Dinge benennt, dass man Ziele benennt und man sich der Sachen annimmt. Dies ist unabdingbar, sogar zwingend. Wenn diese politische Unterstützung fehlt, haben es auch alle Ehrenamtlichen, alle Bürgerinnen und Bürger, die sich irgendwie gegen Rechtsradikalismus einsetzen, schwer. Damit meine ich keine Statements oder Reden zu Anlässen. Ich meine Ziele, Programme, Koalitionen, Allianzen, die in der Landespolitik und auch auf der kommunalen Ebene vorleben, was Verbindungen der guten Kräfte positiv freisetzen können.
Verraten Sie, was Sie am Samstag den Stuttgarterinnen und Stuttgartern mitgeben wollen?
Dann brauch' ich ja nicht mehr kommen.
Stimmt auch wieder.
Ich finde, dass wir die Aufmerksamkeit auf das Thema Rechtsradikalismus überregional durch gute Verbundenheit hochhalten müssen. Wir sollten aktiv die demokratischen Parteien animieren, ansprechen. Die kulturpolitischen Sprecher, die Fraktionsvorsitzenden. Aber auch auf kommunaler Ebene. In Thüringen sind nächstes Jahr Kommunalwahlen.
In Baden-Württemberg auch.
Einfach sagen: Leute, äußert euch. Sagt, was ihr euch in Zukunft vorstellt. Welche Visionen gibt es in einer Stadt, welche Visionen auf der Landesebene? Wir haben bestimmte Probleme vor uns, die versuchen wir gemeinsam zu lösen, weil es wichtig ist. Da würde ich Bildung und Kultur auf eine Stufe stellen. Ich glaube, Bildung ist sogar dringlicher. Wenn wir in zehn Jahren eine Generation haben, die nicht mehr komplex ausgebildet ist, dann brauchen wir bestimmte Kultureinrichtungen nicht mehr.
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Gerald Wissler
am 15.10.2023