In den letzten Monaten wurde die Frage "Brauchen wir die Linke noch?" in Artikeln ausreichender Zahl abschließend verhandelt und differenziert beantwortet. (Ergebnisse: "Nein!", "Auf keinen Fall!", "Was war nochmal 'Die Linke'?") Während wir uns alle darauf geeinigt haben, dass wir Kommunisten, Marxisten und die anderen Ungeheuer aus dem roten Sumpf nicht länger benötigen im Angesicht des neoliberal ausgestalteten Kapitalismus und seiner überwältigenden Erfolge (Klimakatastrophe, Pflegenotstand, Elon Musk), fiel eine womöglich wichtigere Debatte unter den Tisch: Wenn wir die Linken bald los sind, haben wir dann überhaupt noch Verwendung für die Konservativen? Braucht es Batman, wenn der Joker aus der Welt ist? Was macht Tom, nachdem er Jerry gefressen hat?
Aus staatspolitischer Verantwortung will man rufen: "Selbstverständlich! Wir brauchen die Konservativen! Sie müssen die Brandmauer gegen die AfD errichten!" Und das stimmt ja auch. Andererseits sind wir vermutlich gut beraten, uns in architektonischen Fragen nicht auf eine Partei zu verlassen, die den deutschen Reichstag mit dem georgischen Präsidentenpalast verwechselt.
Feierabendbiere und CDU-Stammtische
Linke und CDU sind sich im Grunde sehr ähnlich. Ein Satz, den ich schon immer mal schreiben wollte, um beide Seiten auf die Palme zu bringen. Die Schwarzen (respektive seit Kurzem: die Cadenabbia-Blauen) sind ebenfalls tief gespalten: Die einen wollen mit der AfD zusammenarbeiten, die anderen wollen die AfD-Positionen lieber ohne die AfD umsetzen. Die Union ist geteilt in Ost und Wüst.
Während Generalsekretär Carsten Linnemann in Berlin hilflos an der Parole festhält, der Unvereinbarkeitsbeschluss gelte überall, trinken CDUler und AfDler in Thüringen längst gemeinsam ihr Feierabendbier und vergleicht eine CDU-Landrätin das Konrad-Adenauer-Haus mit der SED-Parteileitung. Andreas Rödder, der als Friedrich Merzens wichtigster Berater die Partei mit seinem Grundwertekompass navigiert, plädiert derweil gelassen für den Mittelweg in den Faschismus. Er empfiehlt Minderheitsregierungen, die sich bei Bedarf, also immer, auf die Rechtsradikalen stützen.
Optisch ist die Union den ersten Schritt auf diesem Mittelweg bereits gegangen – denkt man! Doch Linnemann, der bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des neuen CDU-Looks offenbar völlig unvorbereitet einfach eine Runde Powerpoint-Karaoke gespielt hat, erklärte dabei, dass der neue Blauton im Corporate Design der Partei keineswegs für eine Annäherung an die AfD stehe, sondern für "Vitalität, Zuversicht und Freiheit". Gehen Sie mal zu einem CDU-Stammtisch in Ihrer Gegend, da kommt Ihnen der Begriff "Vitalität" zumindest nicht als erstes in den Sinn.
Als wäre der Druck von rechts nicht hoch genug, tüfteln auch die anderen Parteien an der Überflüssigmachung der Union. Die Scholz-und-Faeser-SPD feiert die alte Seehofer-Vision von Haftlagern an den EU-Außengrenzen und Abschiebungen in Drittstaaten als neuen "Kompromiss", weil sich angeblich nur so das Europa der offenen Grenzen hätte retten lassen. Ein Kompromiss wie er im Buche steht: Ihr werdet monatelang eingesperrt oder zurück in die Wüste geschickt, dafür dürfen wir weiterhin ohne Passkontrolle an den Gardasee fahren. Wo bleibt zwischen dieser SPD und jener AfD noch Platz für die Union?
Dürftig: gegens Gendern und für Fleisch essen
Dergestalt in der politischen Knautschzone zerdrückt, krächzen die Konservativen auf der verzweifelten Suche nach einem Gewinnerthema gegen völlig egale Dinge wie Cannabislegalisierung, Vegetarismus und das ewige Gendern und palavern noch immer von christlichen Werten, als ob nicht seit mindestens 50 Jahren jede und jeder in diesem Land wüsste, dass die Christdemokraten mit der Lehre des Sozialisten Jesus Christus wirklich so gar nichts anfangen können. Überdies sind inzwischen ohnehin weniger als 50 Prozent der Deutschen noch Kirchenmitglied, und wenn wir über die letzten Jahrzehnte eines von der Union gelernt haben, dann dass wir uns hier von religiösen Minderheiten bekanntlich nicht vorschreiben lassen, wie wir zu leben haben.
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Heiko Grützner
am 03.10.2023